mahalwords, willy mueller

mahalwords, willy mueller
27. Januar 1998 michael
In mahalwords
aus der reihe bedeutende menschen:

willy mueller

er ist 85, und weil er nicht mehr in die grosse welt reisen
kann, lehnt willy mueller jeden tag am fenster und
beobachtet das leben in seiner kleinen welt an der zuercher
hoeschgasse.

von martin beglinger

am besten kann ich gegen morgen schlafen. das ist halt so in
meinem alter. ich bin schon froh, dass ich noch jeden tag
auf-stehen kann. aber kaum vor neun uhr. dann schaue ich
rasch nach draussen ob die hoeschgasse noch da ist. nachher
mache ich mir einen milchkaffee und ein butterbrot und
warte, bis mir der poestler den  bringt. den lese ich
von vorne bis hinten, seit 30 jahren. und dann das
, dort vor allem die todesanzeigen.

vor dem tod habe ich keine angst, ueberhaupt nicht. ich bin
jederzeit bereit zum sterben, es ist mir ernst. ich habe ein
solides leben gefuehrt und nie ueber die schnur gehauen. 40
jahre lang war ich verheiratet, immer mit der gleichen frau,
es war wun-derbar, obwohl mir danach alle freunde sagten,
willy, nimm keine geschiedene. aber alles ging prima. nie
ist ein teller geflogen. jetzt ist meine frau auch schon 20
jahre tot, und ich bin ein alter chluetteri.

ich wohne seit 45 jahren in dieser dreizimmerwohnung an der
hoeschgasse. im-mer im hochparterre. damals kam ich aus dem
kreis vier. die hoeschgasse war mein traum. die kennt man
einfach in ganz zuerich, wirklich, vielleicht wegen der
tramhaltestelle oder auch wegen des betreibungsamts. das ist
schraeg vis-a-vis.

wenn ich die zeitungen gelesen habe, mache ich mir etwas
kleines zum essen. ich koche immer noch selber. das ist
besser als die menues von der spitex. am liebsten habe ich
im moment dieses, aeh, mah mee, das sind so asiatische
nudeln von der migros. nach dem essen lege ich mich ein
wenig hin, aber dann muss ich ans fenster.

ich muss, unbedingt. es ist der gwunder, der mich treibt.

23 jahre war ich beim gartenbauamt. nach meiner
pensionierung bin ich viel gereist, am liebsten mit dem gar
nach oesterreich. aber dann ging es gesundheit-lich bergab.
seit ich nach meinem herz-infarkt nicht mehr weg kann,
schaue ich jeden tag eine stunde aus dem fenster auf die
hoeschgasse. seit zehn jahren. auch wenn's regnet. im winter
halt nicht so lang. ich lege ein schaumgummikissen auf den
fenstersims und lehne mich darauf. das schont meine
ellenbogen.

in die stadt kann ich nicht mehr. im letzten jahr habe ich
mich noch aufgerafft und bin ans bellevue gegangen, weil ich
diese street parade anschauen wollte. es war so schoen. die
heutige jugend ist nicht so schlecht, wie es dauernd heisst.

in der hoeschgasse laeuft immer etwas. wenn das tram halt,
ist das die reinste voelkerwanderung zum see hinunter. vor
jah-ren war die strasse einmal in verruf wegen der
marschkatzen. die gingen auf den autowackel. mich selber hat
das gar nicht gestoert, das war doch eine spannende zeit.
manchmal rief eine zu mir, ob sie nicht raufkommen duerfe.
aber ich sagte: das ist jetzt vorbei fuer mich. dann sagten
sie: aha, ist deine frau daheim! am nachmittag kommt
meistens die polizei und verteilt parkbussen. ich habe immer
ein paar fuenfziger auf dem fenstersims parat fuer die
autofahrer, die kein muenz haben. ich habe die menschen halt
gerne. manchmal mache ich mir vorwuerfe, weil die leute
glauben koennten, ich spio-niere am fenster. doch jetzt
kennen sie mich langsam.

auf der anderen strassenseite ist eine neue firma
eingezogen, aber ich kann diese rote fahne nicht lesen, die
sie aufgehaengt haben. ich habe gehoert, das sei so ein
neues heftli, das sie dort machen.

um zehn uhr gehe ich ins bett. dann liege ich ganz ruhig da.
dann fange ich an zu studieren, wie das leben weitergeht.
ist das mein letzter tag? versorgen sie mich in einem heim?
oder werde ich schwach-sinnig? ich daechte auch schon, wie
es waere, wenn ich ploetziich nicht mehr zum fenster
hinausschauen koennte. willy, sagte ich dann zu mir, jetzt
ist es fertig mit dir


submitted by dasm



--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--

reicht mahalwords interessierten weiter!

questions & comments & texte, die
ihr davon findet, sie seien es wert, 
dass es die ganze welt erfaehrt, so 
 all
this stuff

du willst auch? immer mehr?
dann abonnier auch du die mahalmaillist:
 mit den worten:
"SUBSCRIBE mahalwords mein_name"
oder zum abonnement loeschen:
"UNSUBSCRIBE mahalwords mein_name"

mehr infos & befehle & archive auf dem www:
<http://www.skandal.ch/mahal/words/>