ana.words, sitzen als pflicht (teil 5/schluss)

ana.words, sitzen als pflicht (teil 5/schluss)
8. Juni 2020 tbz
In ana.politwords
auf der galerie sitzen zuschauer, meistens wenige. waehrend der
beratungen ueber die hochschulfoerderung sind es etwas mehr, darunter
offensichtlich studenten, aber keine gruppen, nur einzelne. mehr als
hundertfuenfzig zuschauer sind nur waehrend der sitzung der vereinigten
bundesversammlung da. es sind vor allem schulklassen mit ihrem lehrer.
er hat ihnen zu hause die demokratie erklaert und nun wollen sie sie
anschauen. zu hause wird er ihnen dann entschuldigend erkaleren, dass
heute leider kein besonders spannendes geschaeft behandelt worden sei.

er wird ihnen kaum erklaeren, dass das die regel ist, dass sich das
parlament zeit nimmt fuer details, dass ein nationalrat innert weniger
minuten von folgenden problemen hoeren kann (waehrend der behandlung des
geschaeftsberichts des departements des innern): "zusatz von antibiotika
in futtermitteln", "ueberpruefung von importaepfeln",
"maturitaetsanerkennungsverordnung", "kranken- und
unfallversicherungsgesetz", "abwasserreinigung und detergentien",
"anstalten fuer schwererziehbare", "verhalten von fussgaengern und
autofahrern an fussgaengerstreifen", "kursaele, spielapparate und
lotterien" und so weiter.

der lehrer hat seinen schuelern ein schauspiel versprochen, nun breitet
sich auf den gesichtern enttaeuschung aus. der lehrer hat bei seinen
schuelern den eindruck erweckt, dass die demokratie im parlament
stattfinde - nun sind sie enttaeuscht von der demokratie.

der lehrer glaubt auch, dass staatsbuergerunterricht sich in
staatsbuergerkunde erschoepfe, erklaert den aufbau des staates und etwa
den unterschied zwischen einer interpellation und einer kleinen anfrage.
dabei muesste er staatsbuerger sprechen lernen; er muesste ihnen die
methode, dagegen zu sein, beibringen, die methode der diskussion. und er
sollte ihnen dann vor dem besuch des nationalrates erklaeren, dass hier
die demokratie garantiert wird, nur garantiert und dass sie sie selbst
auszuueben haetten. der lehrer winkt - die schueler sind froh,
weitergehen zu koennen. vielleicht besuchen sie noch den baerengraben
oder den gurten.



ich komme aus dem langweiligen nationalrat auf die belebte strasse. die
vielen autos fahren alle aneinander vorbei. ich stehe zehn minuten da
und sehe keinen zusammenstoss. die autos stossen nicht zusammen, weil
sie rechts fahren. irgendeinmal hat dieses parlament beschlossen, dass
autofahrer rechts fahren muessen. deshalb gibt es keine zusammenstoesse.
das parlament ordnet mir meine umwelt, es erfellt seine aufgabe, meine
umwelt ist geordnet.



das parlament garantiert die demokratie. wir haben eine direkte
demokratie, das parlament selbst und allein ist sie nicht. demokratie -
so habe ich gelernt - ist diskussion. irgendwo muesste die diskussion
stattfinden, vielleicht in den parteien, aber die anstrengung der
parteien gehen fast ausschliesslich auf parlamentssitze aus, sie sehen
nur noch den apparat. das ist gefaehrlich, denn unser parlament war
nicht als parlament einer parlamentarischen demokratie gedacht. es ist
dazu nicht geeignet. unser parlament ist eine verwaltung. wenn es ausser
dem parlament nichts anderes gibt, dann haben wir nicht einmal eine
parlamentarische, sondern eine verwaltete demokratie.

wir brauchen diskussionen. wo sollen sie stattfinden? im volk finden sie
nicht mehr statt, das volk ist langweiliger, konservativer und
reaktionaerer als das parlament. es wird nicht die schuld des
parlamentes sein, wenn unsere demokratie zugrunde gehen sollte.

es erfuellt seine verwaltungsaufgabe. wenn ausser ihm aber niemend mehr
seine aufgabe erfuellt, dann leben wir in einer verwalteten demokratie,
in der demokratie ohne diskussion. sie waere die schlechteste staatsform
der welt.

aus: sitzen als pflicht 
in: des schweizers schweiz © 1969 
von: peter bichsel 


und wenn ihr nun denkt, das habe lehrer bichsel vor nem halben
jahrhundert aber fein erklaert mit dem parlament, dann lest doch als
naextes das hier von letztem freitag. tbz muss es nochmals lesen, ist
nicht ganz drausgekommen, naemli:
https://www.republik.ch/2020/06/04/das-endspiel


einen guten start in die woche!

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a n a . w o r d s
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ana.txt seite 444

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