ana.words, sitzen als pflicht (teil 1)

ana.words, sitzen als pflicht (teil 1)
2. Juni 2020 tbz
In ana.politwords
dienstag nach pfingsten, abends sechs uhr: die parlamentarier versammeln
sich zur sommersession. sie kommmen einzeln und in kleinen gruppen an,
sie fahren nicht vor, ihre wagen haben sie selbst parkiert. erst kurz
vor dem tor des hauses sind sie als raete identifizierbar. sie
begruessen sich, sie laecheln sich zu. der untersetzte mit dem runden
kopf hat auch meine stimme erhalten; ich sehe ihn zum erstenmal. er
entspricht der photo auf dem wahlprospekt. er ist sozialist. er lacht,
der radikale neben ihm scheint ein politisches scherzchen gemacht zu
haben.

ein bundesrat kommt aus dem tor, er hebt die hand gruessend, er
laechelt, spricht zwei, drei worte im vorbeigehen. die raete freuen
sich, sich wieder zu sehen. sie begruessen sich beim eingang wie
mitglieder eines jahrgaengervereins, wie alte schulkameraden (und wenn
ein schulkamerad ein feind ist, er ist doch ein schulkamerad).

kurz nach sechs betrete ich das gebaeude, mit ehrfurcht, mit etwas
herzklopfen. massig in stein hoch oben die drei eidgenossen. die
schatten ihrer kopefe fallen auf der himbeerroten wand dahinter
zufaellig in drei leere, dekorative bilderrahmen - pop-art im bundeshaus.

der nationalratssaal fuellt sich langsam, bis zum beginn der
verhandlungen ist rauchen gestattet. einzelne haben sich gesetzt,
breiten ihre papiere vor sich aus, andere stehen in gruppen herum. die
geschaeftsordnung wuenscht, dass die raete im dunklen anzug erscheinen.
schwarze anzuege sind selten, silberkrawatten sieht man fast keine, mit
einer ausnahme (die des bildenden kuenstlers) sind saemtliche hemden
weiss. die hellste krawatte traegt der populaerste unter den
neugewaehlten (ocker). die anzuege sind grau, sehr selten braun, und
eindeutig bevorzugt sind saemtliche nuancen von blau, schwarzblau,
pflaumenblau bis fast zum swissairblau, zum beispiel dezentes, helles
blau zu ocker.

ich habe gehoert, dass waehrend der sitzungen stets viele sitze leer
sind. ich beginne zu zaehlen. einmal sind nur 80 raete anwesend. in der
regel sind 40 bis 70 sitze leer; sie werden bald wieder eingenommen,
damit andere die ihren verlassen koenen.

ich habe gehoert, dass zeitungen gelesen werden. ich habe mir viel mehr
zeitungen vorgestellt, ganze berge. an dem gemessen sind es wenige,
morgens etwas mehr als abends. die redner der kommisssionen sprechen zum
geschaeftsbericht. sie halten ansprachen, bringen die ansprachen hinter
sich. die miene des angestrengten zuhoerers haben in der regel zwanzig
bis dreissig raete aufgesetzt; auch darin loesen sie sich ab. vieles in
den reden bleibt formel, die raete springen nicht auf, wenn jemand etwas
neues sagt, sie verlassen sich darauf, dass worte und taten nicht
identisch sind. ein redner hebt seine stimme und sagt "atomzeitalter",
es ist bereits ein veralteter ausdruck, er loest nichts aus. er haette
vielleicht doch besser gesagt "in ein paar jahren".

in diesem rat werden formeln gebraucht, und redner und zuhoerer haben
sich an formeln gewoehnt. es gibt keinen applaus, es gibt kein zynisches
laecheln, und wenn es ein bisschen gelaechter gibt, dann lachen nicht
einzelne bloecke; hier lacht man gemeinsam.


aus: sitzen als pflicht
in: des schweizers schweiz
© 1969
von: peter bichsel 

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