ich habe in der schule gelernt, dass im parlament kompromisse zustande kommen. das ist nicht wahr. hier werden keine kompromisse geschlossen, hier wird alles bereits als kompromiss vorgetragen, und die spannung nimmt leicht zu, wenn aus zwei kompromissen ein dritter geformt wird. hier, in diesem haus, in dieser sitzung, findet die demokratie nicht statt, hier wird sie repraesentiert. hier werden die ergebnisse der kommissionen zusammengetragen; das ist die vierteljaehrliche schlusssitzung eines grossen kongresses. was hier vorgetragen wird, ist bereits geschehen, ist bereits bekannt. in einer parlamentarischen demokratie (vielleicht heisst sie deshalb so) findet die demokratie im parlament statt, deshalb wohl ist bonn so viel telegener. hier in der direkten demokratie wird im parlament nur noch das letzte zeremoniell vollzogen. hier sitzt man nur noch, und das sitzen wird zur pflicht, ist eine praesenzleistung, die die zeremonie der demokratie garantiert: die diskussion gehoert nicht zum zeremoniell. hier sitzen die leute, die fuer unseren staat in gemeindekommissionen, in parteisitzungen, in gemeinderaeten und kantonsraeten unbezahlte und schlechtbezahlte arbeit geleiset haben; waeren sie bezahlt woden, sie haetten millionen gekostet. hier sitzen auch die ehrgeizigen, die ein ehrenamt noch als ehre auffassen. sie stammen aus einer zeit, die es vielleicht bereits nicht mehr gibt, aber sie beeindrucken. sie vertreten interessen, sie vertreten verbaende. der gewerbeverband spielt hier seine macht aus, die ihm der staat einst gegeben hat. weil er sie ihm gegeben hat, muss er sie ihm erhalten. das parlament befindet sich in einem kreis; was es bereits gibt, ist unantastbar. es kann den kreis nicht sprengen, nur erweitern. neue erkenntnisse sind hier nur wahr, wenn sie die alten kenntnisse decken und ergaenzen. in diesem parlament wird keine revolution stattfinden, nicht einmal eine stille, friedliche, denn in diesem parlament finden nur dinge statt, die es bereits gibt. damit haben wir uns abzufinden. es gibt hier keine opposition. das waere gar nicht der ort fuer sie. denn hier geht es um das erhalten, auch um das erhalten von erhaltenswerten dingen. hier sitzen die gralshueter der demokraie. der ruf nach einer parlamentarischen opposition wird vor dem ritual des parlaments laecherlich. die beauptung irgendeiner gruppe, sie sei die opposition, ist reine werbung und hat nur ausserhalb dieses hauses ihre wirkung. aus: sitzen als pflicht in: des schweizers schweiz © 1969 von: peter bichsel und 51 jahre spaeter im schweizerischen parlament: ehe fuer alle. haette sein sollen. wurde verschoben. und fast unrelated ein bildli aus twitter -- = -- -- = -- -- = -- a n a . w o r d s aus dem hellblauen salon words@ana.ch http://ana.ch/words/ ana.txt seite 444 reicht ana.words weiter! vragen & kommentare & texte, die ihr davon findet, sie seien es wert, dass es die ganze welt erfaehrt, oder mindestens die redaktion, dann mailto:words@ana.ch du willst auch? immer mehr? dann abonnier auch du ana.words: http://ana.ch/txt/444