ana.words, sitzen als pflicht (teil 2)

ana.words, sitzen als pflicht (teil 2)
3. Juni 2020 tbz
In ana.bildwords
ich habe in der schule gelernt, dass im parlament kompromisse zustande
kommen. das ist nicht wahr. hier werden keine kompromisse geschlossen,
hier wird alles bereits als kompromiss vorgetragen, und die spannung
nimmt leicht zu, wenn aus zwei kompromissen ein dritter geformt wird.
hier, in diesem haus, in dieser sitzung, findet die demokratie nicht
statt, hier wird sie repraesentiert. hier werden die ergebnisse der
kommissionen zusammengetragen; das ist die vierteljaehrliche
schlusssitzung eines grossen kongresses. was hier vorgetragen wird, ist
bereits geschehen, ist bereits bekannt. in einer parlamentarischen
demokratie (vielleicht heisst sie deshalb so) findet die demokratie im
parlament statt, deshalb wohl ist bonn so viel telegener. hier in der
direkten demokratie wird im parlament nur noch das letzte zeremoniell
vollzogen. hier sitzt man nur noch, und das sitzen wird zur pflicht, ist
eine praesenzleistung, die die zeremonie der demokratie garantiert: die
diskussion gehoert nicht zum zeremoniell.

hier sitzen die leute, die fuer unseren staat in gemeindekommissionen,
in parteisitzungen, in gemeinderaeten und kantonsraeten unbezahlte und
schlechtbezahlte arbeit geleiset haben; waeren sie bezahlt woden, sie
haetten millionen gekostet. hier sitzen auch die ehrgeizigen, die ein
ehrenamt noch als ehre auffassen. sie stammen aus einer zeit, die es
vielleicht bereits nicht mehr gibt, aber sie beeindrucken.

sie vertreten interessen, sie vertreten verbaende. der gewerbeverband
spielt hier seine macht aus, die ihm der staat einst gegeben hat. weil
er sie ihm gegeben hat, muss er sie ihm erhalten. das parlament befindet
sich in einem kreis; was es bereits gibt, ist unantastbar. es kann den
kreis nicht sprengen, nur erweitern. neue erkenntnisse sind hier nur
wahr, wenn sie die alten kenntnisse decken und ergaenzen.

in diesem parlament wird keine revolution stattfinden, nicht einmal eine
stille, friedliche, denn in diesem parlament finden nur dinge statt, die
es bereits gibt. damit haben wir uns abzufinden. es gibt hier keine
opposition. das waere gar nicht der ort fuer sie. denn hier geht es um
das erhalten, auch um das erhalten von erhaltenswerten dingen. hier
sitzen die gralshueter der demokraie. der ruf nach einer
parlamentarischen opposition wird vor dem ritual des parlaments
laecherlich. die beauptung irgendeiner gruppe, sie sei die opposition,
ist reine werbung und hat nur ausserhalb dieses hauses ihre wirkung.


aus: sitzen als pflicht
in: des schweizers schweiz
© 1969
von: peter bichsel 


und 51 jahre spaeter im schweizerischen parlament:
ehe fuer alle.
haette sein sollen.
wurde verschoben.

und fast 
unrelated 
ein bildli
aus twitter

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a n a . w o r d s
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ana.txt seite 444

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