dienstag nach pfingsten, abends sechs uhr: die parlamentarier versammeln sich zur sommersession. sie kommmen einzeln und in kleinen gruppen an, sie fahren nicht vor, ihre wagen haben sie selbst parkiert. erst kurz vor dem tor des hauses sind sie als raete identifizierbar. sie begruessen sich, sie laecheln sich zu. der untersetzte mit dem runden kopf hat auch meine stimme erhalten; ich sehe ihn zum erstenmal. er entspricht der photo auf dem wahlprospekt. er ist sozialist. er lacht, der radikale neben ihm scheint ein politisches scherzchen gemacht zu haben. ein bundesrat kommt aus dem tor, er hebt die hand gruessend, er laechelt, spricht zwei, drei worte im vorbeigehen. die raete freuen sich, sich wieder zu sehen. sie begruessen sich beim eingang wie mitglieder eines jahrgaengervereins, wie alte schulkameraden (und wenn ein schulkamerad ein feind ist, er ist doch ein schulkamerad). kurz nach sechs betrete ich das gebaeude, mit ehrfurcht, mit etwas herzklopfen. massig in stein hoch oben die drei eidgenossen. die schatten ihrer kopefe fallen auf der himbeerroten wand dahinter zufaellig in drei leere, dekorative bilderrahmen - pop-art im bundeshaus. der nationalratssaal fuellt sich langsam, bis zum beginn der verhandlungen ist rauchen gestattet. einzelne haben sich gesetzt, breiten ihre papiere vor sich aus, andere stehen in gruppen herum. die geschaeftsordnung wuenscht, dass die raete im dunklen anzug erscheinen. schwarze anzuege sind selten, silberkrawatten sieht man fast keine, mit einer ausnahme (die des bildenden kuenstlers) sind saemtliche hemden weiss. die hellste krawatte traegt der populaerste unter den neugewaehlten (ocker). die anzuege sind grau, sehr selten braun, und eindeutig bevorzugt sind saemtliche nuancen von blau, schwarzblau, pflaumenblau bis fast zum swissairblau, zum beispiel dezentes, helles blau zu ocker. ich habe gehoert, dass waehrend der sitzungen stets viele sitze leer sind. ich beginne zu zaehlen. einmal sind nur 80 raete anwesend. in der regel sind 40 bis 70 sitze leer; sie werden bald wieder eingenommen, damit andere die ihren verlassen koenen. ich habe gehoert, dass zeitungen gelesen werden. ich habe mir viel mehr zeitungen vorgestellt, ganze berge. an dem gemessen sind es wenige, morgens etwas mehr als abends. die redner der kommisssionen sprechen zum geschaeftsbericht. sie halten ansprachen, bringen die ansprachen hinter sich. die miene des angestrengten zuhoerers haben in der regel zwanzig bis dreissig raete aufgesetzt; auch darin loesen sie sich ab. vieles in den reden bleibt formel, die raete springen nicht auf, wenn jemand etwas neues sagt, sie verlassen sich darauf, dass worte und taten nicht identisch sind. ein redner hebt seine stimme und sagt "atomzeitalter", es ist bereits ein veralteter ausdruck, er loest nichts aus. er haette vielleicht doch besser gesagt "in ein paar jahren". in diesem rat werden formeln gebraucht, und redner und zuhoerer haben sich an formeln gewoehnt. es gibt keinen applaus, es gibt kein zynisches laecheln, und wenn es ein bisschen gelaechter gibt, dann lachen nicht einzelne bloecke; hier lacht man gemeinsam. aus: sitzen als pflicht in: des schweizers schweiz © 1969 von: peter bichsel -- = -- -- = -- -- = -- a n a . w o r d s aus dem hellblauen salon words@ana.ch http://ana.ch/words/ ana.txt seite 444 reicht ana.words weiter! vragen & kommentare & texte, die ihr davon findet, sie seien es wert, dass es die ganze welt erfaehrt, oder mindestens die redaktion, dann mailto:words@ana.ch du willst auch? immer mehr? dann abonnier auch du ana.words: http://ana.ch/txt/444