ana.words – eine art nachruf noch

ana.words – eine art nachruf noch
23. Juni 2023 tbz
In sex, drugs and techno
Es war nach einer Lesung, vor dreissig Jahren vielleicht. Ich stand auf
dem Perron und wartete auf meinen Zug. Es war kalt. Ich zog die zweimal
gefalteten, schreibmaschinenbeschriebenen Blätter aus der Manteltasche
und begann zu lesen. In meiner Erinnerung hielt ich den Atem an, nein,
es verschlug ihn mir. Ich weiss nicht, was ich erwartet hatte. Aber
nicht das.

Nicht diese Frauen, die sich unbeirrt, fast störrisch auf Abgründe
zubewegten. Nicht diese Worte, die mich wie eine strenge Hand im Nacken
packten und mich zwangen, hinzusehen. Es waren Abgründe, die ich kannte
und vor denen ich zurückweichen wollte. Doch sie liess mich nicht. Ihre
Sprache liess mich nicht. Sie setzte mich den Abgründen aus, und dann
fing sie mich wieder auf. Zwischendurch brachte sie mich auch zum
Lachen. Und ich sah, wie absurd das alles war.

In meiner Erinnerung habe ich den Zug dann verpasst, ihn nicht einmal
kommen sehen, hypnotisiert, wie ich war. Aber die Erinnerung trügt
vielleicht auch. Es ist lange her. Nach der Lesung waren wir noch
zusammengesessen, der Buchhändler und ein paar andere, an einem langen
Tisch. Da war diese Frau in meinem Alter. Ruth Schweikert. Sie wirkte
konzentriert, nach innen gerichtet. Ihr klarer Blick schüchterte mich
ein. Sie schreibe auch, sagte sie, und sie habe Kinder. Ihre Schreibzeit
müsse sie sich stehlen. Wie ich damals auch. Sie machte keinen
Smalltalk, fragte mich, ob ich etwas lesen wolle und steckte mir diese
Seiten zu.

Ich bot an, sie meinen Verlegern zu zeigen. Wieder dieser Blick. «Ich
brauche keine Hilfe», sagte sie. «Ich weiss, dass ich es schaffen
werde.»

Als ich die Seiten wieder zusammenfaltete, war etwas passiert. Ich hätte
nicht einmal sagen können, ob mir der Text gefiel oder nicht. Es ging
über das Gefallen hinaus: Der Text hatte etwas mit mir gemacht. Er hatte
meine Wahrnehmung verändert. Er erschien dann in der Sammlung «Erdnüsse.
Totschlagen».



Was wir lesen - Die unbestechliche Ruth Schweikert von Milena Moser

https://www.tagesanzeiger.ch/die-unbestechliche-ruth-schweikert-702500921297


aufgeschnappt von mahal

schoenes weekend!

-- = --    -- = --    -- = --

a n a . w o r d s
aus dem hellblauen salon

furcht und schrecken seit 1997


vragen & kommentare & texte, die
ihr davon findet, sie seien es wert,
dass es die ganze welt erfaehrt, oder
mindestens die redaktion, dann
mailto:words@ana.ch

du willst auch? immer mehr?
dann abonnier auch du ana.words:
http://ana.ch/txt/444

hast du genug? immer weniger?
dann bestell doch nicht ana.words ab:
http://ana.ch/txt/444

reicht ana.words weiter!