Es war nach einer Lesung, vor dreissig Jahren vielleicht. Ich stand auf dem Perron und wartete auf meinen Zug. Es war kalt. Ich zog die zweimal gefalteten, schreibmaschinenbeschriebenen Blätter aus der Manteltasche und begann zu lesen. In meiner Erinnerung hielt ich den Atem an, nein, es verschlug ihn mir. Ich weiss nicht, was ich erwartet hatte. Aber nicht das. Nicht diese Frauen, die sich unbeirrt, fast störrisch auf Abgründe zubewegten. Nicht diese Worte, die mich wie eine strenge Hand im Nacken packten und mich zwangen, hinzusehen. Es waren Abgründe, die ich kannte und vor denen ich zurückweichen wollte. Doch sie liess mich nicht. Ihre Sprache liess mich nicht. Sie setzte mich den Abgründen aus, und dann fing sie mich wieder auf. Zwischendurch brachte sie mich auch zum Lachen. Und ich sah, wie absurd das alles war. In meiner Erinnerung habe ich den Zug dann verpasst, ihn nicht einmal kommen sehen, hypnotisiert, wie ich war. Aber die Erinnerung trügt vielleicht auch. Es ist lange her. Nach der Lesung waren wir noch zusammengesessen, der Buchhändler und ein paar andere, an einem langen Tisch. Da war diese Frau in meinem Alter. Ruth Schweikert. Sie wirkte konzentriert, nach innen gerichtet. Ihr klarer Blick schüchterte mich ein. Sie schreibe auch, sagte sie, und sie habe Kinder. Ihre Schreibzeit müsse sie sich stehlen. Wie ich damals auch. Sie machte keinen Smalltalk, fragte mich, ob ich etwas lesen wolle und steckte mir diese Seiten zu. Ich bot an, sie meinen Verlegern zu zeigen. Wieder dieser Blick. «Ich brauche keine Hilfe», sagte sie. «Ich weiss, dass ich es schaffen werde.» Als ich die Seiten wieder zusammenfaltete, war etwas passiert. Ich hätte nicht einmal sagen können, ob mir der Text gefiel oder nicht. Es ging über das Gefallen hinaus: Der Text hatte etwas mit mir gemacht. Er hatte meine Wahrnehmung verändert. Er erschien dann in der Sammlung «Erdnüsse. Totschlagen». Was wir lesen - Die unbestechliche Ruth Schweikert von Milena Moser https://www.tagesanzeiger.ch/die-unbestechliche-ruth-schweikert-702500921297 aufgeschnappt von mahal schoenes weekend! -- = -- -- = -- -- = -- a n a . w o r d s aus dem hellblauen salon furcht und schrecken seit 1997 vragen & kommentare & texte, die ihr davon findet, sie seien es wert, dass es die ganze welt erfaehrt, oder mindestens die redaktion, dann mailto:words@ana.ch du willst auch? immer mehr? dann abonnier auch du ana.words: http://ana.ch/txt/444 hast du genug? immer weniger? dann bestell doch nicht ana.words ab: http://ana.ch/txt/444 reicht ana.words weiter!