"nach dem ersten jahr durfte ich mir meine seminare selbst aussuchen und habe mich fuer kritische gesellschaftstheorie entschieden. ich neige naemlich zum kritisieren und interessiere mich fuer die gesellschaft. schon bald stellte sich heraus, dass es da ausschliesslich um feminismus ging, obendrein um den von der unkompliziertesten sorte. unkomplizierter feminismus klingt ungefaehr so: "weisse, heterosexuelle, ueberdurchschnittlich gut ausgebildete frauen duerfen auch was sagen". vermutlich wollten sie das seminar erst SO nennen, aber dann gab es irgendeinen ausschuss, der sich nicht einigen konnte, ob das der wahrheit entsprach. in philosophie wurde die weltgeschichte naemlich auf sechsunddreissig folien verteilt, von denen auf genau einer schwarze und frauen vorkamen. es war eine sehr unterhaltsame folie, und ich wuerde auch auf keiner anderen genannt werden wollen. eine besonders WUSELIGE folie war das. und darum klickten die dozenten wahrscheinlich immer so schnell weiter. kritische gesellschaftstheorie war ein ziemlich merkwuerdiges seminar. es hatte zum beispiel kaum teilnehmer. wir sassen da zu sechst, und die einzige, die etwas sagte, war ein maedchen, die allem ein "scheiss-" voranstellte. "scheissungerecht, alte." so sachen sagte sie oft. manchmal war sie verkatert und weniger gespraechig. "scheissunrecht", war ihre schlussfolgerung an so tagen. jeder ihrer kommentare waere als titel fuer unser seminar wunderbar geeignet gewesen, wenn ihr mich fragt. unsere dozentin guckte immer ganz erschrocken, wenn das maedchen mal wieder was sagte. wahrscheinlich gruebelte sie, was simone de beauvoir in so einem moment getan haette. unsere dozentin las seit ungefaehr vierzig jahren wieder und wieder "das andere geschlecht" und war deshalb etwas weltfremd geworden. "das andere geschlecht" ist ein sehr dickes buch, in dem steht, dass frauen auch was sagen duerfen. ich persoenlich brauche dafuer keine neunhundert seiten, aber man muss so ein buch natuerlich IN SEINEM ZEITLICHEN KONTEXT verstehen. eigentlich soll man in philosophie alles in seinem zeitlichen kontext betrachten, und das fand ich auf die dauer ziemlich ermuedend. mir haette gefallen, wenn wir die dinge mal in MEINEM zeitlichen kontext betrachtet haetten." aus: die geschichte meiner sexualitaet (original: 2021, deutsch: 2022) von: tobi lakmaker (*1994) -- = -- -- = -- -- = -- a n a . w o r d s aus dem hellblauen salon furcht und schrecken seit 1997 mailto:words@ana.ch http://ana.ch/words/ ana.txt seite 444 vragen & kommentare & texte, die ihr davon findet, sie seien es wert, dass es die ganze welt erfaehrt, oder mindestens die redaktion, dann mailto:words@ana.ch du willst auch? immer mehr? dann abonnier auch du ana.words: http://ana.ch/txt/444 hast du genug? immer weniger? dann bestell doch nicht ana.words ab: http://ana.ch/txt/444