ana.words, wohin stuerzt das zeug, wenn es vom sockel ist?

ana.words, wohin stuerzt das zeug, wenn es vom sockel ist?
23. Juni 2020 tbz
In Allgemein
wir machen uns ja grad bisschen gedanken
zur vielgelobten neutralitaet der schweiz.
und tbz wollte euch werte ana.lesers noch fragen
was ihr von dem hier haltet:

https://www.watson.ch/schweiz/kommentar/152447485-warum-wir-alfred-escher-nicht-vom-sockel-stuerzen-sollten


und tbz hat drum rum ueberlegt
bezueglich "sachen ins museum stellen"
dass sie so zwar eingebettet werden koennen
geschichtlich, mit anderen exponaten und mit hintergrundinfos und so
aber dass sie dadurch auch
- mitsamt infos, die man zugeben koennte
zusatzplaketten, zusatzstatuen daneben -
aus dem oeffentlichen raum
also aus dem oeffentlich fuer alle zugaenglichen raum
verschwinden
und nur noch fuer eine bestimmte schicht leute
zugaenglich ist
die in museen geht
und dafuer zahlt.
so grundsaetzlich mal.
hmmm...




wer viel dazu lesen moechte
das wort sei bernhard c. schaer gegeben:

interview mit bernhard c. schaer (bcs) im bieler tagblat
gefuehrt von tobias graden


«Die moderne Welt ist auf Basis von Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus entstanden»

Der Streit um den «Mohrenkopf» sei der Einstieg zum Anstoss einer
breiten gesellschaftlichen Debatte, sagt der Historiker Bernhard C.
Schär ? und diese sei überfällig. Er fordert, die Schweizer Geschichte
sei neu zu denken: «Wir können uns nur verstehen, wenn wir begreifen,
dass wir in Beziehung zu anderen entstanden sind.»

Bernhard C. Schär, Bild: Christian Pfander
Interview: Tobias Graden

Bernhard C. Schär, essen Sie noch Mohrenköpfe?

bcs: Ab und zu. Die Kritik richtet sich ja nicht gegen das Produkt, sondern gegen seinen Namen.

Die Bezeichnung «Mohrenkopf» ist also eindeutig rassistisch?

bcs Ja. Im Idiotikon, der Bibel der Mundartforschung, wird «Mohr» als
Synonym für das N-Wort definiert, und «N.» hat die Konnotation von
«barbarisch», «rückständig», «unzivilisiert», «dreckig». Hinzu kommt die
Ikonographie. Der aktuelle Patron der Firma Dubler selber hat nach der
Übernahme der Firma von seinem Vater in den frühen 70er-Jahren als erste
Amtshandlung eine Werbekampagne gestoppt, die rassistische Darstellungen
von schwarzen Menschen beinhaltete.

Ein Teil der Kontroverse besagt, das Wort «Mohr» habe gar nicht
rassistischen Ursprung ? es bezeichne ursprünglich wertfrei die Mauren.

bcs: Der Begriff führt ins 16. Jahrhundert zurück. Der historische
Kontext ist jener der Kreuzzüge und der Zeit, als die spanische
Halbinsel islamisch besetzt war. Man sieht heute noch in der Alhambra
und in weiteren Kathedralen Spaniens die triumphierende Ikonographie aus
der Rückeroberung: Ein zentrales Motiv ist der abgehackte Kopf eines
«Mauren». Aus dieser Zeit stammen auch die Wappen der Ritterhäuser, die
das Kreuz des Christentums zeigen und eben solche «Mohrenköpfe»,
abgeschlagene Maurenhäupter.

Es gibt in der Schweiz aber Gemeindewappen mit «Mohrenköpfen», etwa von
Möriken-Wildegg. Deren Darstellungen beziehen sich auf den Heiligen
Mauritius.

bcs: Dieser ist eine mythische Gestalt aus der Römerzeit. Er soll
nordafrikanischer Legionär gewesen sein, ein Christ, der den Märtyrertod
gestorben sein soll. Auch er ist keine unschuldige Gegenfigur zur
rassistischen Darstellung von Schwarzen. Denn der Mythos ist im
Mittelalter entstanden, im Kontext der Auseinandersetzung zwischen
Christentum und Islam. Seine Geschichte ist Teil dieser kulturellen
Auseinandersetzung, in der es um den Herrschaftsanspruch des
Christentums ging. Für die jetzige Diskussion ist aber etwas anderes
wichtig.

Und zwar?

bcs: Niemand, der die Darstellungen des Mohren nüchtern betrachtet, wird
sagen, er sehe darin den Heiligen Mauritius, einen nordafrikanischen
römischen Legionär oder Märtyrer. Sondern man sieht einen Typus: die
europäische Vorstellung, was die afrikanische «Rasse» ist.

Wie ist die heftige Reaktion jener zu erklären, die unbedingt weiterhin
«Mohrenkopf» sagen wollen?

bcs: Ich finde diese Reaktion zwar nicht richtig, aber ich kann sie bis
zu einem gewissen Grad verstehen. Denn sie hat zu tun mit einem
Geschichtsbild, das auch ich noch vermittelt bekommen habe. Bis vor
kurzem konnte man in der Schweiz die Schulen durchlaufen, selbst ein
Universitätsstudium abschliessen ? und von der Geschichte des
Kolonialismus wenig mitbekommen, erst recht nicht im Zusammenhang mit
der Geschichte der Schweiz. In der breiten Bevölkerung ist also kaum
Wissen vorhanden. In einem solchen Kontext ist es verständlich, wenn
Menschen aus dem Mittelstand mit gewöhnlicher Schulbildung, die in
letzter Zeit harte Jahre durchgemacht haben und deren Perspektive
unsicher ist, mit Abwehr reagieren. Und als dritter Faktor kommt hinzu,
dass die Debatte von der grössten und mächtigsten Partei des Landes
hochprofessionell propagandistisch bewirtschaftet wird.

Ist die Debatte das schweizerisch-harmlose Symptom eines generell
tobenden Kulturkampfs?

bcs: Ja, wobei es nicht nur harmlos ist. Der Streit um den Mohrenkopf
hat einen Zusammenhang mit den Diskussionen um Polizeigewalt, den Umgang
mit Migrantinnen und Migranten oder struktureller Benachteiligung. Denn
lange war auch der «Mohrenkopf» ein Beispiel für einen breiten
kulturellen Konsens, der sich in einem tiefen Misstrauen gegenüber
Menschen aus Afrika äussert und den Boden bereitet dafür, dass etwa die
Polizei gegenüber afrikanischen Dealern hart einfahren kann und nicht
damit rechnen muss, dafür kritisiert zu werden. Der Mohrenkopf ist also
ein Einstieg zum Anstoss einer breiten gesellschaftlichen Debatte.

Überschiesst diese Debatte bisweilen, wenn sich etwa die Colonial-Bar in
Bern gezwungen sieht, ihren Namen zu ändern ? den sie nicht aus
rassistischen Gründen trägt, sondern wegen des historischen Bezugs zum
Gebäude, in dem sie sich befindet?

bcs: An dieser Geschichte ist interessant, dass sie die Verschiebung auf
breiter Ebene zeigt ? die Colonial-Bar ist das lokale Bespiel, Migros
das nationale, die Geschichte von Nike und dem Football-Spieler Colin
Kaepernick das internationale. Und an ihr zeigt sich, dass der Wandel
sozusagen auch vom Kapitalismus ausgeht. Es geht um Märkte: In der
linksten Stadt der Schweiz kann man angesichts der Diskursverschiebung
irgendwann schlicht nicht mehr an einem solchen Namen festhalten, weil
man sonst einen Reputations- und letztlich Geschäftsschaden erleidet.

Was ist denn so sehr problematisch am Namen «Colonial-Bar»?

bcs: Wir sind uns sicher alle einig, dass man eine Bar nicht
«Stalin-Bar» nennen würde oder «Apartheid-Bar». Auch der Kolonialismus
war ein ausbeuterisches und enorm gewalttätiges Herrschaftssystem. Aber
die koloniale Vergangenheit wird verklärt. Auch dies hängt mit dem
Wissenskontext zusammen: Wir sind in den Schulen gar nicht darüber
informiert worden, wie gewalttätig der Kolonialismus war. Er wird
verharmlost.

Er hat aber auch eine gewisse Romantik ? der Flohmarkt bei der Porte de
Clignancourt in Paris mit seinen kolonialen Gegenständen oder die Bar
eines alten englischen Hotels auf Sri Lanka, das sind schöne Orte.

bcs: Der Kolonialismus wurde schon in seiner Zeit romantisiert ? doch er
war bloss für zwei Prozent der Bevölkerung romantisch, nämlich für die
weissen Kolonialherren. Die Nachfahren jener Menschen, die Zwangsarbeit
leisten mussten oder versklavt wurden, haben mit gutem Grund eine andere
Sichtweise. Sie leben heute unter uns, also müssen wir auch Namen wie
jenen von der Colonial-Bar neu aushandeln. Das Beispiel von Nike und
Colin Kaepernick zeigt, dass mit dem Wandel der Antirassismus auch
ökonomisch interessant wird ? darin zeigt sich die Flexibilität des
Kapitalismus. In Tourismusregionen mit Gästen aus Indien sind
Restaurants, die «Zum Mohren» hiessen, längst umbenannt worden.

Der Kampf gegen Rassismus hat die Bilder und Denkmäler erreicht. In
einer Berner Schule wurde ein Wandbild aus den 50er-Jahren übermalt. Was
halten Sie von der Aktion?

bcs: Ich finde die eigentlich noch gut. Die Stadt Bern hat ja einen
Wettbewerb zum künftigen Umgang mit dem Bild ausgeschrieben. Ich bin in
einem der teilnehmenden Teams als Berater tätig. Wir sind das einzige
Team, das vorschlägt, das Wandbild sei zu entfernen und dem historischen
Museum zu übergeben, wo es Teil einer Ausstellung werden soll, die
aufzeigt, wie Bern als Stadt und Kanton mit dem Kolonialismus verbunden
war. Gerade mit der Übermalung ist das Wandbild ein passendes Exponat,
weil es den Konflikt, in dem wir heute stecken, zum Ausdruck bringt ? es
geht auch um unterschiedliche, konkurrierende Erinnerungsweisen. Man
kann damit aufzeigen, dass dieser Konflikt nicht erst heute entstanden
ist, sondern eine lange Vorgeschichte hat.

Das Bild ist für die Geschichtswissenschaft ein so genannter «Überrest»,
ein materieller Zeitzeuge seiner Epoche. Es müsste Sie als Historiker
doch schmerzen, wenn ein solches Objekt beschädigt oder zerstört wird.

bcs: Das ist womöglich für einen Kunsthistoriker so. Aber es wäre naiv
zu glauben, dass alle Materialien aus der Vergangenheit erhalten
bleiben. Der grösste Teil der Arbeit eines Archivs besteht nicht im
Erhalten, sondern im Aussortieren und Vernichten. Darum gibt es die
Quellen- und Archivkritik. In der Kolonialgeschichte arbeite ich viel in
Indonesien. 95 Prozent der Menschen, die dort lebten, haben keinerlei
Quellen hinterlassen. Was von den restlichen fünf Prozent übrig ist, ist
hochgradig selektiv. Archive sind im 19. Jahrhundert entstanden, also im
kolonialen Kontext. Gewisse Ereignisse wurden bewusst nicht dokumentiert
oder archiviert ? und wenn, dann nur sehr ausgewählt.

Zum Beispiel?

bcs: Ich habe gerade einen Aufsatz geschrieben über Louis Wyrsch, den
«Borneo-Louis». Er war im 19. Jahrhundert Landammann des Kantons
Nidwalden, aber auch 15 Jahre lang Offizier der holländischen
Kolonialarmee. Er hatte eine Konkubine, wahrscheinlich eine Sklavin, mit
der er fünf Kinder zeugte. Er hinterliess ein minutiöses Tagebuch, es
befindet sich nun im Staatsarchiv Nidwalden. Entweder er selber oder
einer seiner Nachfahren hat mit einer Rasierklinge sorgfältigst alle
Passagen entfernt, die über diese Konkubine Auskunft geben. Das zeigt:
Was überliefert wird, ist selektiv, es wird verändert oder auch zerstört
? mit einem gewissen Ziel.

Zurück zum Wandbild: Der Wettbewerb um den künftigen Umgang damit war
noch nicht abgeschlossen. Eine Übermalungsaktion greift dem Ergebnis
vor, sie ist nicht aus historisch-wissenschaftlichem Motiv erfolgt.

bcs: Gerade als Historiker sollten wir dem gegenüber gelassen sein. Wir
befinden uns in einer Umbruchsituation, lange wurde vieles versäumt, und
nun sind die Menschen ungeduldig. Der Tod von George Floyd hat
aufgestaute Wut neu entfacht, und dann kann es zu solchen Aktionen
kommen. Der Blick in die Geschichte zeigt: Historischer Wandel geht
selten diszipliniert und geordnet vonstatten. Auch unser Bundesstaat
wäre ohne solche Aktionen nicht entstanden ? diese beinhalteten nicht
nur Gewalt an Sachen, sondern auch an Personen, wenn wir etwa an die
Freischarenzüge denken.

Wenn man aber sagt, das Bild müsse verschwinden, dann ähnelt diese
Haltung doch jener der Taliban, welche die Buddha-Statuen sprengten.

bcs: Dieser Vergleich ist völlig unhaltbar. Die Taliban sind ein
totalitäres Terrorregime. Die «Täterschaft» in Bern steht gegen alles,
was die Taliban verkörpern. Man muss sehen: Die Geschichtswissenschaft
als Disziplin ist im 19. Jahrhundert entstanden, und bis heute erzählt
sie die Geschichte mehrheitlich aus der Perspektive der europäischen,
weissen Gesellschaften. Vor allem afrikanisch-stämmige Gesellschaften
wurden lange vernachlässigt und vertröstet.

Soll also in Neuenburg die Statue von David de Pury verschwinden?

bcs: Was sind Statuen? Sie sind eine Form der Vergegenwärtigung von
Vergangenheit. Sie sind Narrative, keine objektive Darstellung. Sie sind
im 19. Jahrhundert entstanden, im Zeitalter des Historismus, der
Heldengeschichten. Im Statuenstreit geht es also nicht darum, die
Vergangenheit auszuradieren, sondern es geht um die Frage, wie wir diese
Vergangenheit heute erzählen wollen. Im 19. Jahrhundert erfolgte dies
staatlich-obrigkeitlich verordnet, um einen kleinen Teil der männlichen,
bürgerlichen Elite zu zelebrieren. Niemand kann mehr ernsthaft der
Meinung sein, dass dies auch heute die Art sein soll, wie wir uns an die
Vergangenheit erinnern wollen. In dem Sinne müssen wir den
Statuen-Streit begrüssen: Wir reden heute mehr über Geschichte als
vorher.

Das ist doch genau der Punkt: Die Statue erzählt nicht nur von David de
Pury, sondern sie erzählt von der Darstellung von David de Pury in der
Zeit ihrer Entstehung.

bcs: Als das ? als Quelle ? ist die Statue aber nicht entstanden.
Sondern als Darstellung. Wir betrachten heute ja auch die
Geschichtsbücher des 19. Jahrhunderts nicht mehr als Forschungsstand,
sondern als Quelle. Wenn wir die Statue zur Quelle machen wollen, müssen
wir sie neu kontextualisieren. Denn die Statue selber erzählt uns nicht
die Geschichte davon, wie im 19. Jahrhundert die unangenehmen Seiten
ausgeblendet wurden. Sondern sie hat eine triumphierende Geste, die
heute keinen Sinn mehr macht.

De Pury hat ? wie es für einen Geschäftsmann in seiner Zeit üblich war ?
indirekt am Kolonialismus und Sklavenhandel verdient, aber ebenso viel
Gutes für seine Heimatstadt getan. Wie ist denn eine solche Figur aus
heutiger Sicht zu bewerten?

bcs: Als typisch, exemplarisch für seine Zeit ? das gilt auch für seine
Darstellung. Im 19. Jahrhundert haben wir in Europa einerseits die
Revolutionen und entstehenden Demokratien, die viel übernehmen vom
Freiheitskampf der Sklaven in der Karibik, insbesondere von der
haitianischen Revolution. Doch während sich die europäischen
Gesellschaften demokratisieren, beginnen sie mit der Kolonisierung einer
Mehrheit der Weltbevölkerung in Afrika und Asien. Es kommt zu
Ausbeutung, Völkermord, der Auslöschung ganzer Kulturen. Die Geschichte
ist also ambivalent, und De Pury verkörpert in seiner Person beide
Seiten. Und seine Statue ist typisch für die Erinnerungskultur im 19.
Jahrhundert, die nur die schönen Seiten zeigt.

Missliebig geworden ist auch das Denkmal von Alfred Escher in Zürich.
Wie sehen Sie es bei ihm?

bcs: Ähnlich.

Escher hat nicht einmal selber direkt am Sklavenhandel verdient, wohl
aber seine Familie. Gilt in der rückblickenden Betrachtung Sippenhaft?

bcs: Nicht wir haben Escher auf den Sockel gestellt, sondern die
Menschen im 19. Jahrhundert. Damit müssen wir nun arbeiten. Bei Escher
kristallisiert sich ganz viel aus der Gründungszeit des Bundesstaates.
Auch in ihm zeigt sich die ganze Ambivalenz, und dabei geht es nicht nur
um ihn selber oder die Familie Escher, sondern um die europäische
bürgerliche Gesellschaft überhaupt, die ihren Reichtum natürlich im
imperialen, kolonialen Kontext erworben und eine Kultur, eine
Lebensweise herausgebildet hat, die nur durch die koloniale Expansion
möglich war. Gleichzeitig waren solche Figuren Patrioten und
Nationalisten, welche die engen Modelle von Geschichte geschaffen haben,
die sehr vieles ausgeblendet haben.

Wenn man nun aber sagt, Escher müsse weg ?

bcs: (unterbricht) Ich sage das nicht. Meine Haltung ist: Zelebrieren
wir doch die Demokratie und die Freiheit, weil wir eben gerade nicht
unter einem Taliban-Regime leben. Wir sind frei, die Art und Weise, wie
wir Geschichte vergegenwärtigen, neu zu gestalten.

Und wie?

bcs: Als solider Demokrat sage ich: Der Prozess dieser
Entscheidungsfindung soll demokratisch sein und alle miteinschliessen.
Es ist an der Neuenburger oder der Zürcher Gesellschaft zu befinden, wie
mit De Pury und Escher zu verfahren ist. Vielleicht kommen diese zum
Schluss, die Statuen müssten verschwinden, vielleicht aber auch, dass
sie zum Beispiel mit einer zweiten Statue kombiniert werden sollen. Das
ist ein offener Prozess.

Wer De Pury oder Escher auf die heutige Bewertung von Kolonialismus und
Sklavenhandel reduziert, unterschlägt den historischen Kontext.

bcs: Dieses Unterschlagen ist aber auch genau das, was die Statuen tun.
Sie haben nichts mit Geschichtsschreibung zu tun, das war selbst im 19.
Jahrhundert so. Sie sind dazu da, bestimmte mächtige gesellschaftliche
Gruppierungen abzufeiern, und nicht um diese wissenschaftlich-kritisch
zu kontextualisieren.

In England wird von der BLM-Bewegung selbst Winston Churchill nur noch
auf den Aspekt des Rassismus hin betrachtet, dabei sind seine Verdienste
im Kampf gegen den Faschismus unermesslich. Herrscht da nicht ein
verengter Blick auf die Geschichte?

bcs: Wenn das tatsächlich so sein sollte, dann ja. Aber ich glaube, das
tut niemand, der vernünftig ist. Ich kenne jedenfalls keine Historikerin
und keinen Historiker mit einem so einseitigen Blick. Doch auch hier: Es
wäre ebenso verengt, nur seine ? unbestrittenen! ? Verdienste im Kampf
gegen den Faschismus zu sehen. Die unzähligen Opfer seiner imperialen
Politik in Indien gilt es auch zu berücksichtigen.

Theatermacher Milo Rau hat kürzlich auf diese Ambivalenz hingewiesen. Er
hat darauf aufmerksam gemacht, dass König Leopold II. in Belgisch-Kongo
zwar die Sklavenhaltung der Araber beseitigt hat, aber selber für
unfassbares Leid verantwortlich war, an dem Belgien verdiente. Er
folgert: «Wir alle sind Leopold II.»

bcs: Man muss schon unterscheiden. Figuren wie Escher und De Pury lebten
in einem bestimmten System, so wie wir heute in einem System leben, das
den Kolonialismus immer noch mit sich trägt. Aber Leopold II. ist eine
krasse Figur. Er unterhielt eine Kolonialherrschaft, die selbst für ihre
Zeit unglaublich brutal und gewalttätig war. Sogar die anderen
Kolonialmächte England und Frankreich kritisierten Belgien für dessen
systematische Gewalt. Eine solche Figur würde heute vor dem
Internationalen Strafgerichtshof landen.

Um zurück zur Schweiz zu kommen?

bcs: (unterbricht) Leopold II. hat einen wichtigen Bezug zur Schweiz:
Seine engsten Verbündeten waren jene Genfer Philanthropen, Financiers
und Juristen, die auch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes
gegründet haben.

Ist denn die ganze Geschichte der Entstehung der modernen Schweiz im 18.
und 19. Jahrhundert als rassistisch zu bezeichnen?

bcs: Soweit würde ich nicht gehen. Aber sie lässt sich nicht verstehen
ohne die Geschichte Europas, und diese lässt sich nicht verstehen ohne
die Geschichte des Kolonialismus. Die ganze moderne Welt ist auf Basis
von Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus entstanden. Das betrifft auch
die Schweiz.

Die «Globalgeschichte der Schweiz» ist Ihr Spezialgebiet. Verspüren Sie
Genugtuung, dass Ihr Fachgebiet nun eine so breite Beachtung findet?

bcs: Es freut mich, aber es überrascht mich nicht. Vor allem aber ist
erfreulich, dass Lehrpersonen vermehrt Interesse an unseren
Erkenntnissen haben. Denn in vielen Schulklassen stellen so genannte
Ausländer teils die Mehrheit. Diesen kann man die Geschichte nicht mehr
so vermitteln, wie sie mir im Schulalter erzählt wurde. Und mich freut
am meisten, wenn mir junge People of Colour sagen, dank meiner Arbeit
verstünden sie die Schweiz und ihre eigene Position in diesem Land
besser.

Sie fordern ganz grundsätzlich, man müsse die Schweizer Geschichte neu
denken. Worum geht es Ihnen?

bcs: Um Beziehungen. Darum, dass sich Geschichte nicht länger in
Abgrenzung denken lässt. Wir können uns nur verstehen, wenn wir
begreifen, dass wir in Beziehung zu anderen entstanden sind. Das gilt
nicht nur für die Geschichte von Nationen, sondern für die Geschichte
der Menschen allgemein. Wir sind nicht mehr die kleine Gruppe
bürgerlicher weisser Männer, die entscheiden, was Geschichte ist ?
sondern wir entwickeln diese im Dialog auch mit jenen früheren
Minderheiten, die nun mit am Tisch sitzen.

Sie haben letze Woche in der WoZ gefordert, dass im Historischen Lexikon
der Schweiz ein Eintrag zum Begriff «Rassismus» aufgenommen werden
müsse. Warum ist dies wichtig?

bcs: Die Kolonialgeschichte der Schweiz ist ein grosser blinder Fleck in
der Geschichtsschreibung, selbst in den neueren, grossartigen Büchern
zur Schweizer Geschichte ist dazu wenig zu finden.

Sie haben gleich einen Vorschlag verfasst. Darin schreiben Sie,
Rassismus behaupte «im Kern» «eine christliche, europäische oder weisse
Überlegenheit gegenüber anderen ?Rassen?, ?Völkern?, ?Ethnien? oder
?Kulturen?». Gibt es aus Ihrer Sicht also keinen Rassismus in Asien?

bcs: Das ist etwas komplizierter. In allen Gesellschaften gab es stets
Herrschaftsverhältnisse, Unterdrückung, Gewalt, verschiedene Formen von
Sklaverei. Aber die Kultur und Systematisierung des Rassismus, vor allem
des wissenschaftlichen Rassismus, das ist ein europäisches Phänomen. Und
dieses ist über die kolonialen Bildungssysteme auch in andere
Weltregionen «exportiert» worden.

Wie erklärt sich denn der Völkermord in Ruanda Mitte der 90er-Jahre?

bcs: Dazu gibt es ganz gute Untersuchungen. Vorkolonial gab es dort
keine rassischen Kategorien, man konnte als Hutu geboren werden und als
Tutsi sterben. Das Bemühen, klare Differenzen und Hierarchien zu ziehen
und zu essentialisieren, das ist ein Teil der europäischen Kultur. Diese
wurde namentlich von Schweizer Missionaren im kolonialen ruandischen
Schulsystem vermittelt. Und dieses System wurde dann für die ? durchaus
vorhandenen ? bestehenden Konflikte zwischen Hutus und Tutsis benutzt,
um die eigene Position aufzuwerten.

Und wie sieht es mit China aus? Dort gibt es durchaus auch Rassismus.

bcs: Der Punkt ist: Der europäische Imperialismus war vor allem
kulturell so durchgreifend und erfolgreich, dass wir heute gar keine
direkten Bezüge mehr haben zu vorkolonialen nicht-europäischen
Wissenssystemen. China konnte sich zwar lange zur Wehr setzen, aber
schliesslich hat sich auch das chinesische Bildungssystem am Westen
ausgerichtet, zuletzt am kommunistischen Westen. Diese Verwestlichung
hatte auch zur Folge, dass man die hiesigen Theorien übernahm und
adaptierte. Und dazu gehörte auch die europäische Rassentheorie.

Es gab in China vor dem Kolonialismus also keinen Rassismus?

bcs: Natürlich gab es Ungleichheiten und Abgrenzungen, schliesslich
baute man die chinesische Mauer als Wand gegen die «Barbaren». Aber
diese kategorialen Unterscheidungen waren nicht eingebettet in eine
derart systematische Lehre von Unterschieden, die man auch an
Körpermerkmalen festmachte, wie dies im kolonialen europäischen
Rassismus dann der Fall war. Der heutige Rassismus in China hat also
weniger mit dem Rückgriff auf Konfuzius zu tun als mit dem Theorieimport
während der Republik und vor allem unter Mao.

Ihr Fachkollege Georg Kreis hat festgehalten, dass die Schweiz ein
«Grundproblem mit Rassismus» habe, «wie fast jedes Land». Ist Rassismus
eine Konstante, mithin dem Menschen wesenseigen?

bcs: Dass man Unterscheidungen macht, mag eine anthropologische
Konstante sein. Man findet auch in der Antike bei Aristoteles
Taxierungen, er teilte Pflanzen, Tiere und Menschen in unterschiedliche
Kategorien ein. Doch in der historischen Rassismusforschung ist es
Konsens, dass jener Rassismus, mit dem wir es heute zu tun haben, nicht
auf Aristoteles zurückgeht, nichts mit Konfuzius und fast nichts mit der
ayurvedischen indischen Lehre zu tun hat, nichts mit der Maya- oder der
Zulu-Kultur in Südafrika.

Warum nicht?

bcs: Die Verbindung zu diesen Traditionen ist durch den europäischen
Imperialismus gekappt worden, diese Wissenssysteme wurden als
Aberglaube, als Unwissen taxiert. Alle diese Gesellschaften haben sich
europäisiert. Darum hat der heutige Rassismus weltweit seinen Beginn im
späten 15. Jahrhundert, da ist eine Zäsur. Die obsessive
Systematisierung des Rassismus ? in Europa verlegten sich tausende
Menschen auf dessen Erforschung ? ist ein Phänomen, das erst mit der
europäischen Expansion entstand.

Übrigens: Von wo kommen Sie?

bcs: Ich bin vorhin von zuhause gekommen.

Sie vereinen in sich selber ein Stück Migrationsgeschichte.

bcs: Ja, ich komme ein bisschen von überall her. Meine Mutter stammt aus
Peru, dieses war Teil der europäischen Kolonialisierung, hat indigene
Bevölkerung, aber auch einen grossen Anteil asiatischer Migration. Ein
Teil meiner peruanischen Familie hat japanische Verbindungen. Mein Vater
kommt aus dem Emmental.

Die Frage nervt viele People of Colour ? aber wenn sie aus ehrlichem
Interesse erfolgt, ist sie doch ein Zeichen von Anteilnahme.

bcs: Es kommt auf die Art und Weise an, wie man sie stellt. Aus
Interesse und respektvoll gefragt, ist sie kein Problem. Aber wenn
People of Colour dies mehrmals pro Tag gefragt werden, kann das schon
nerven. Sind Sie im aussereuropäischen Raum gereist?

Beispielsweise in Afrika. Es kam vor, dass mich Kinder berührten und
testen wollten, ob sich die weisse Hautfarbe wegrubbeln lässt.

bcs: Sehen Sie ? das gibt eine vage Vorstellung davon, wie es ist, wenn
man zu einer Minderheit gehört und als Abweichung von der Norm
wahrgenommen wird. Das ist anstrengend.

Mit der Globalisierung nimmt dies aber ab. Hierzulande ist eigentlich
niemand mehr richtig exotisch.

bcs: Das sollte man meinen. Und trotzdem wird schwarzen Menschen ständig
zu verstehen gegeben, dass sie hier fremd sind, auch wenn sie schon in
dritter Generation hier leben und perfekt Mundart reden. Die Frage,
woher man kommt, wird dann bald mal lästig.

Zur Person
Geboren 1975
Studium der Geschichtswissenschaft in Bern und Genf
Promotion zum Thema «Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900», erschienen im Campus-Verlag
Lehrt und forscht an der ETH Zürich, derzeit zur Rolle von Schweizer Söldnern während der holländischen Kolonialkriege im Südostasien des 19. Jahrhunderts
Zahlreiche Publikationen zur Globalgeschichte der Schweiz, aber auch zur 68er-Bewegung, zum Antiziganismus oder zur Wissenschaftsgeschichte
Lebt in Bern tg

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a n a . w o r d s
aus dem hellblauen salon

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ana.txt seite 444

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