ana.words, volkssport, diktat

ana.words, volkssport, diktat
11. März 1999 michael
In Allgemein
Auf zum goldenen Diktat

Das Rechtschreibediktat als Volkssport? So was kann es nur
in Frankreich geben.




"Thimothee": Drei Fallen in einem Wort. Doppeltes E? H oder
nicht H? Aber Bernard Pivot, der Literaturpapst des
franzoesischen Fernsehens, hatte ein Einsehen: Im letzten
Moment strich er das Wort aus dem Text, den er sich
alljaehrlich ausdenkt, um seine Landsleute zum Diktat zu
bitten. Einmal im Jahr wird in Frankreich der Kampf mit der
komplizierten Rechtschreibung und Grammatik der
franzoesischen Sprache zum Volkssport.

Unlaengst war es wieder so weit: Zur Prime Time sassen die
Franzoesinnen und Franzosen vor dem Fernseher, schrieben mit
und holten sich wieder die Bestaetigung: Ihre Sprache ist so
schwer, dass sie praktisch niemand fehlerfrei beherrscht.
Drei Fernsehsender uebertrugen die Endrunde des von Pivot
organisierten Wettbewerbs, an der dieses Jahr 173 Kandidaten
und Kandidatinnen teilnahmen. Sie trafen sich nicht etwa in
irgendeiner Schule, sondern unter Chagalls Deckenfresko in
der Pariser Garnier-Oper zum letzten und schwierigsten
Diktat. Saengerinnen und ein Ballett gaben dem Ganzen einen
festlichen Rahmen.

Die Veranstaltung, "Dico d'Or" - das goldene Diktat -
genannt, ist im Laufe ihres 14-jaehrigen Bestehens zu einem
kulturellen Ereignis geworden, auf das man in Frankreich
gespannt wartet. Jedes Jahr graebt Pivot wieder abstruse
Woerter aus, die die meisten Franzosen laengst vergessen
oder nie in ihren Wortschatz integriert hatten:
"Anacoluthe", "moucharabieh", "sot-l'y-laisse" waren die
spektakulaersten Fallen der Diktate in den vergangenen
Jahren.

Fuer geplagte Franzoesisch-Schueler mag dieser sportliche
Umgang mit den Tuecken der franzoesischen Sprache schwer
nachvollziehbar sein. Aber eines koennte sie troesten:
Selbst prominente Franzosen muessen sich damit abfinden,
dass sie im Allgemeinen klaeglich scheitern. Dieses Jahr
schrieben Schriftsteller wie Hector Biancotti und Pierre
Assouline mit - ueber die Zahl ihrer Fehler wurde, wie
ueblich, der gnaedige Mantel des Schweigens gebreitet.

Dabei geschah es dieses Jahr zum ersten Mal, dass gleich
mehrere Kandidaten fehlerfrei durch Pivots Text mit seinen
232 Woertern kamen. Dass ueberhaupt jemand den Parcours
fehlerfrei ueberstand, war zum letzten Mal vor fuenf Jahren
vorgekommen. Ueberhaupt scheinen gewoehnliche
Festland-Franzosen fuer Bernard Pivots Diktate schlechter
geruestet zu sein als Konkurrenten in Uebersee oder im
Ausland. 1994 gewann ein Schwarzer aus Martinique. Legendaer
blieb der Sieger des Jahres 1992: Peter Yordanow, ein
17jaehriger Bulgare, hatte sich Franzoesisch im
Selbststudium beigebracht und franzoesischen Boden noch nie
betreten.  

autorin: Astrid Mayer
submitted by versus@ana.ch


-- = --    -- = --    -- = --     

a n a . w o r d s
aus dem hellblauen salon

words@ana.ch
http://ana.ch/words/
ana.txt seite 444

reicht ana.words weiter!

vragen & kommentare & texte, die
ihr davon findet, sie seien es wert, 
dass es die ganze welt erfaehrt, oder 
mindestens die redaktion, dann 


du willst auch? immer mehr?
dann abonnier auch du ana.words:
<http://ana.ch/txt/444> oder
 mit subject:subscribe

hast du genug? immer weniger?
dann bestell doch nicht ana.words ab:
<http://ana.ch/txt/444>