ana.words, in beispielloser fadenscheinigkeit beeindrucken

ana.words, in beispielloser fadenscheinigkeit beeindrucken
11. Dezember 2007 tbz
In Allgemein
ich ging durch die verandatür nach drinnen. in der küche
baute frau angelescu aus brandteiggebäck und frischem
schlagrahm schwäne. ich bat sie um papier und farben,
"danke", und zog mich mit allem nötigen ins wohnzimmer
zurück, wo es am ruhigsten war. dort, zwischen zahlreichen
gerahmten fotos von ringersgrössen, an einem tisch, in
dessen mitte eine kristallschale mit gesammelten
zuckerbriefen stand, gewann in kürzester zeit ein zweifach
abgebildeter mann gestalt, der zu ehren der tochter der
angelescus mit blosser körperkraft eine eisenstange bog und
ein pferd stemmte.
"das bin ich!" sagte ich stolz, als die tochter der
angelescus hinter mich trat. die zeichnung war praktisch
fertig, sie schimmerte in kräftigen tönen, weil ich die
stifte zwischendurch immer wieder abgeleckt hatte, damit das
papier die farben besser annahm. das mädchen blickte über
meine schulter. ich reichte ihr das blatt, glücklich
darüber, glänzen zu können, merkte aber gleich, dass die
tochter der angelescus nichts rechtes damit anzufangen
wusste. ohne danke zu sagen, behauptete sie, dass ich fürs
pferdestemmen zu klein sei. ich widersprach ihr: "bin ich
nicht."
sie beharrte darauf: "bist du doch."
"und warum?"
"weil ich es sage."
diese argumentation beeindruckte mich nur in ihrer
beispiellosen fadenscheinigkeit (ausdruck des
untersuchungsbeamten), also sagte ich, sie ehaupte das nur
aus eigener schwäche oder phantasielosigkeit.
antwort: "du bist ein lügner, ein ganz ganz grosser dreckiger lügner!"
ich schwieg eine zeitlang. ausgerechnet die jüngste tochter
der angelescus, dachte ich. wenn ein kräftiger wind ging,
steckte ihr die mutter steine in den schulranzen, und erst
wenige tage zuvor hatte ich sie in der telefonzelle gesehen,
wie sie die telefonbücher am bodengestapelt hatte, um zu den
münzschlitzen hochzureichen. [...] machte eine reihe
einwände zu meinen hunsten. unter anderem behauptete ich,
dass die welt fürchterlich relativ und ungefähr sein
(ausdruck direktor backmark). die tochter der angelescus
lachte, unfähig, meine gedanken nachzuempfinden. sie lachte
so heftig, dass ich angst bekam, die drähte und gummis in
ihrem mund könnten sirrend und schnalzend reissen. sie
fasste sich wieder, betrachtete mich neuerlich mit
vollkommen nüchterner sachlichkeit, schob ihren unterkiefer
nach vorn und nickte mit rechtsgeneigtem kopf, sie behielt
mich scharf im auge. ich stemmte die fäuste in die seiten.
aber da sagte sie schon, ich solle mit dem linken arm über
den scheitel an mein rechtes ohr langen; dies, wie sich
hinterher zeigte, um festzustellen, ob ich in meiner
entwicklung ausreichend fortgeschritten sei, um eisenstangen
zu biegen und pferde zu stemmen. ich sage es gleich: das
ergebnis fiel enttäuschend aus. die jacke, die mir frau
doktor bianchi geschenkt hatte, sass so eng, dass es
unmöglich war, den arm weit genug zu heben, dass ich mein
ohr erreichte. [...]
also schlich ich, leise weinend und auf zehenspitzen, damit
es niemand merkte, durch die vordere tür hinaus auf die
strasse und trottete zurück zum grossen tor. wie stehe ich
nun da, dachte ich, wie stehe ich nur da. mir war ganz elend
ums herz. ich hörte förmlich, wie die ganze welt inter
meinem rücken witze riss und lachsalven in alle winkel
pfefferte. das gelächter erklang so laut, dass ich nahe
daran war, mir die ohren zuzuhalten. aber da rief mich von
hinten frau angelescu an, ich solle auf sie warten. sie
holte mich auf ihrem fahrrad ein, mehrmals klingelnd, ganz
ausser atem. ihre augen leuchteten von der anstrengung, und
als sie vom fahrrad stieg, liess sie es einfach umfallen, so
dass es krachend auf den asphalt fiel. "wenn mir ein mann so
ein schönes geschenk machen würde würde ich ich nicht nur
sehr freuen, sondern ihn gleich heiraten", sagte sie.
verwirrt und irritiert von den sich überstürzenden
ereignissen sagte ich: "aber sie können mich doch gar nicht
heiraten, frau angelescu. sie sind doch schon verheiratet!"
und noch immer ganz benommen von der kränkung, die ich
erfahren hatte, die augen von tränensalz umrandet,
schüttelte ich fassungslos den kopf und setzte meinen weg
zum grossen tor fort.

arno geiger, 
schöne freunde. 
münchen 2006. 
isbn 978-3-423-13504-7

submitted by dietrichstein

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