ana.words, fruehstueck in spanien

ana.words, fruehstueck in spanien
5. September 2001 michael
In Allgemein
Es geschah zu vorgerueckter Stunde in einem netten Madrider
Restaurant, als sich meine spanische Gespraechspartnerin
halblaut erkundigte, ob sie mir eine "sehr persoenliche
Frage" stellen duerfte. Ich war auf alles gefasst und
beschloss, frank und frei zu antworten. Mein Gegenueber
zuendete sich eine Zigarette an, blies den Rauch
theatralisch langsam aus und erkundigte sich, ob es stimme,
dass man in Mitteleuropa das Fruehstueck daheim, also in der
eigenen Wohnung, einnehme. Ich gab zu, dass es sich so
verhalte.

Kaum zu glauben, befand mein Gegenueber. Wie unpraktisch
ueberdies. Allein die staendig notwendige Vorratshaltung von
Milch, Brot und Butter etwa. Wieviel Zeit man dadurch
verliere, allein an wertvollem Morgenschlaf. In Spanien sei
das ganz anders.

Ohne die heimatliche Kueche auch nur betreten zu haben,
laeuft man nuechtern, jedoch voller Tatendrang im Buero ein,
laesst den Blick kurz ueber den Schreibtisch schweifen,
begruesst die Kollegin, um mit dieser gleich darauf in der
Bar um die Ecke zu verschwinden. Bei Cafe con leche und
Gebaeck gelte es, sich auf den Tag einzustimmen, zu
ueberlegen, was dringend anzugehen, was hingegen
hinauszuschieben sei. Auf diese Weise kommt man allmaehlich
auf Touren und kann sich beherzt den Zumutungen des Tages
stellen. Alles klar soweit? Im Prinzip schon, raeumte ich
ein.

Um es gleich zu sagen: In Spanien ist die "Bar" eine durch
und durch serioese Lokalitaet. Eine Bar ist kein Nachtlokal
und hat weder Schummerbeleuchtung noch halbseidenen
Anstrich. In keinem Land der Erde gibt es so viele Bars wie
in Spanien. Der Spanier braucht die Bar wie die Luft zum
Atmen. In Grossstaedten betraegt der Abstand von einer Bar
zur naechsten nicht mehr als ein paar Schritte. Jeder noch
so kleine Weiler hat wenigstens eine solche Lokalitaet. Nur
Friedhoefe haben keine Bar.

Die Bar ist das oeffentliche Wohnzimmer jeder menschlichen
Ansiedlung. Ohne die Bar kaeme das soziale Leben zum
Erliegen. Die Zeiten, in denen die Kneipe an der Ecke reine
Maennerdomaene war, sind laengst vorbei. Spaniens Frauen
haben sich mit Beharrlichkeit und Nonchalance laengst einen
Platz an der Theke erobert.

Selbst aeltere Damen mit steifen Dauerwellen schauen
inzwischen auf ein Bierchen herein oder begiessen mit
Nachbarinnen den erfolgreichen Fischzug durch die
Kaufhaeuser. Auch Kinder, selbst Saeuglinge, trifft man
durchaus in der Bar.

Die Bar ist der beste Wecker fuer einen notorischen
Morgenmuffel. Alle Sinne werden wach. Ein Konzentrat von
Kaffeearoma liegt in der Luft.

Der frisch gewischte Fussboden duenstet chlorig-scharfe
Seifenlauge aus. Die Espressomaschinen zischen
ohrenbetaeubend. Der Fernseher laeuft, immerfrohe Typen aus
den Werbespots exerzieren vor, wie man optimistisch,
dynamisch und erfolgreich durch den Tag kommt.
Spielautomaten dudeln, heischen mit bunten Blinklichtern um
Aufmerksamkeit. Stimmen schwirren ueber dem Tresen,
Tellerchen klappern, Kellner rufen kurze Bestellbefehle in
die Kueche. Ein Losverkaeufer schaut herein und intoniert
das Lied vom Hauptgewinn. Den ersten Schluck Cafe cortado
durch die Kehle laufen lassen. Ein Stueck Gebaeck oder ein
Schinkenbroetchen dazu. Oder ein Tostada mit einem Schwapp
Olivenoel aus dem Blechkaennchen. Oder Churros in
dickfluessige Schokolade tauchen. Doch Iieber ein Bierchen
oder einen Brandy, um drohender Ernuechterung vorzubeugen?
Kein Problem, niemand wird sich ueber eine solche
fuehmorgendliche bestellung wurndern. Wer jetzt nicht munter
ist, muss als scheintot abgeschrieben werden.

Hinter den maechtigen Tresen das Ballett der Barmaenner.
Schnell, umsichtig und elegant taenzeln sie von der
Saftpresse zur heissen Bratplatte und zurueck zum fauchenden
Ungeheuer der Kaffeemaschine. Dazwischen werden Untertassen
dutzendweise mit Loeffelchen und Zuckerbeuteln fuer den
naechsten Ansturm vorbereitet, Brotscheibchen geschnitten,
Tortillas geachtelt. Ein Barmann ist aufmerksam wie ein
Psychologe, verschwiegen wie ein Beichtvater, kunstfertig
wie ein Artist und kompetent wie ein Arzt.

Deswegen heisst ein gesunder Kraeutertee folgerichtig
"infusion". Bei drohender Erkaeltung hilft eine zuweilen
eine Chininlimonade.

Irgendwann wird es ruhiger, der Strom der berufstaetigen
Fruehstuecksgaeste hat sich zum vormittaeglichen Intermezzo
am Schreibtisch verzogen. Laengst ist der Marmorboden mit
Olivenkernen, Papierservietten, Kippen und Kruemeln
uebersaet. Das ist normal so. In der Bar darf man
ungezwungen alles auf den Boden fallenlassen. Ab und zu wird
durchgefegt und einmal taeglich geschrubbt, als gaelte es
einen Operationssaal zu desinfizieren.

claudia diemar, weltwoche vor einiger zeit


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