ana.words, es gilt keine unschuldsvermutung

ana.words, es gilt keine unschuldsvermutung
22. September 2021 tbz
In sex, drugs and techno
Als wir aus dem >Duke of New York< kamen, sahen wir im Licht der
Straßenlaternen einen brabbelnden alten Piahnitsa oder Wermutbruder, der
lallend die schmutzigen Lieder seiner Väter heulte und zwischendurch
blerp blerp machte, wie wenn er ein schmutziges altes Orchester in
seinen stinkenden, verfaulten Därmen hätte. Ein Ding, das ich nie
vertragen konnte, war dies. Ich fand es immer widerlich, einen
schmutzigen besoffenen Veck herumfallen zu sehen, egal wie alt er sein
mochte, besonders dann, wenn er wie dieser hier richtig stari war. Er
hielt sich an der Hauswand fest, halb daran hängend, und seine Platties
waren eine Schande, ganz zerknautscht und unordentlich, voll Kacke und
Dreck und Schmutz und Zeug. Wir faßten ihn an den schmierigen Ärmeln und
polierten ihm die Visage mit ein paar guten Horrorschau-Tollschocks,
aber er sang immer noch weiter, als ob er überhaupt nichts merkte. Das
Lied ging: 
Krumm war die Nas' und aufgestülpt, Und überquer das Kinn; Wo man den
Mund vermutete, Da lag ihr Auge drin.
Und ich komm zurück zu dir, Mein Liebling, mein Liebling, Wenn du, mein
Liebling, bist tot.

Aber als Dim ihm ein paar in sein schmutziges Schlabbmaul gab, hörte er
auf zu grölen und fing an zu kakeln: »Na los, schlagt mich tot, ihr
feigen Bastarde, ich will sowieso nicht mehr leben, nicht in einer
stinkenden Welt wie dieser.« Dann sagte ich Dim, er solle sich ein
bißchen zurückhalten, denn manchmal interessiert es mich, zu sluschen,
was diese verkalkten Ruinen über das Leben und die Welt zu sagen hatten.
Ich sagte: »So? Und was ist daran stinkend?«

»Es ist eine stinkende Welt, weil sie die Jungen auf den Alten
rumtrampeln läßt, wie ihr es mit mir macht«, schrie er. »Und weil es
keinen Anstand und keine Ordnung mehr gibt, und kein Gesetz.« Er
fuchtelte und machte richtig Horrorschau mit den Slovos, bloß kam immer
wieder das alte blerp blerp aus seinen Kischkas dazwischen, wie wenn
irgendwas da drinnen raus wollte. Der alte Veck schüttelte seine
Gichtkrallen vor unseren Litsos und schrie: »Das ist keine Welt mehr für
einen alten Mann, und das bedeutet, daß ich kein bißchen Angst vor euch
habe, meine Jüngelchen, denn ich bin zu besoffen, um die Schmerzen zu
fühlen, wenn ihr mich verprügelt, „und wenn ihr mich umbringt, dann
macht es mir auch nichts, weil ich froh sein werde, tot zu sein.« Wir
smeckten und grinsten, sagten aber nichts, und dann rief er: »Was ist
das überhaupt für eine Welt? Menschen auf dem Mond und Menschen, die um
die Erde fliegen wie Motten um eine Lampe, und hier unten geht alles vor
die Hunde, und keinen kümmert es. Also tut was ihr wollt, ihr
schmutzigen feigen Rowdies.« Dann gab er uns ein bißchen Lippenmusik -
»Prrrrzzzzrrr«-, wie wir es gerade bei den zwei Bullen getan hatten, und
dann fing er wieder zu singen an.

O Vaterland, ich focht für dich, In diesem großen Krieg, Standhaft in
Not und Tod blieb ich, Und brachte dir den Sieg - Also scheuerten wir
ihm noch ein paar, aber er grölte immer weiter. Dann stellte Georgie ihm
ein Bein, und er fiel flach auf den Bauch, und eine Eimerladung
Bierkotze schoß in einem Schwall aus ihm raus und über das Pflaster. Das
war ekelhaft, und so gaben wir ihm den Stiefel, jeder einmal, und dann
war es Blut, nicht Gesang oder Kotze, was aus seinem schmutzigen alten
Rüssel kam. Dann gingen wir weiter unseres Wegs.

.-.-.

vorletzte nacht 
wurde der 66-jaehrige obdachlose r. 
bei seinem schlafplatz 
beim gemeinschaftszentrum bachwiesen in zuerich albisrieden 
von einem 20-jaehrigen mann zu tode geschlagen
("massive stumpfe gewalteinwirkung").
der taeter hat ein gestaendnis abgelegt.

ein ganz lieber mensch sei r. gewesen, heisst es.

am lieblingsplatz von r. beim einkaufszentrum letzipark 
stehen nun
kerzen, blumen und bierdosen. 
ebenso beim gz bachwiesen.
kerzen, blumen und bierdosen. 
rip.

der ausschnitt oben ist aus 
clockwork orange 
von anthony burgess.
das buch wurde verfilmt.
die tat wurde auch gefilmt.
war auf snapchat.

ein kleines bisschen horrorshow.

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a n a . w o r d s
aus dem hellblauen salon

furcht und schrecken seit 1997

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