ana.words, antiaufklaererische beweislastumkehr

ana.words, antiaufklaererische beweislastumkehr
1. September 2020 tbz
In Allgemein
wie ist es nun ploetzlich schon september geworden?
und warum ist es schon ueber 23 jahre her
dass prinzessin diana starb?
und sind das irgendwie sinnvolle fragen?
bleibt, wer nicht fragt, dumm?

tbz hat grad was zum thema fragen gelesen
und copy-pastet's euch nun.
kleiner service des hauses.

(das original faende sich hier:
https://tinyurl.com/yxo2eerv )

also, ein bisschen philosophie zum dienstag:


Das wird man ja wohl noch fragen dürfen!?

Fragen gelten als scharfe Waffe der Aufklärung. Aber
Verschwörungserzähler, Rechtspopulisten und Twitter-Wichtigtuer
beweisen: Manche dummen Fragen sind sogar gefährlich.

Ein Essay von Maja Beckers 

Wo kommt das Virus wirklich her? Wird Bill Gates uns alle zwangsimpfen?
Was wird hier eigentlich gespielt? Fragen sind ein zentraler Bestandteil
von Verschwörungsmythen und wer sie verbreitet, betont das auch: "Ich
frage mich ?", leitet Attila Hildmann viele seiner Sätze ein; "wir
müssen alles infrage stellen", fordert Xavier Naidoo.

Und als in Berlin zuletzt gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert wurde,
erklärte einer der Veranstalter von der Hauptbühne herab, das Q in QAnon
stehe für ihn "für das englische Wort question" und damit für "eine
Gruppe von Fragestellern, die uns zum Nachdenken und Recherchieren
anregen". Selbst einen hochgefährlichen Verschwörungsmythos wie QAnon,
in dessen Namen schon Gewalttaten begangen wurden, hüllt man in den
Mantel der Fragen, um ihn zu legitimieren.

Denn gegen Fragen kann man ja in einer aufgeklärten Gesellschaft nichts
haben. So geht die Erzählung. Fragen stehen am Anfang jeder Erkenntnis,
Fragen bringen Licht ins Dunkel und wer nicht fragt, bleibt dumm. Das
weiß auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der einem seiner
dramatisch polternden Pamphlete gegen die "Barbarei", in die Italien mit
der Corona-Bekämpfung verfallen sei, den seltsam leisen Titel Una
domanda, Eine Frage, gab. Das wissen auch der Kolumnist Jan Fleischhauer
und der Verleger Jakob Augstein, die ihren neuen Podcast The Curve in
der ersten Folge so charakterisierten: Man wolle sich hier "gemeinsam
wundern", denn "uns ist eigen der fragende Geist".

Es gibt ja auch kaum eine strahlendere Krone, die man sich aufsetzen
kann. Von der Gründung der westlichen Philosophie durch den fragenden
Sokrates bis zu den Idealen der Aufklärung ist der Wert des Fragens
geistesgeschichtlich abgesichert. Aber unsere Fragenverehrung geht
mittlerweile viel weiter. Es ist gerade drei Jahre her, dass ein
Psychologie-Experiment viral ging, das suggerierte, ein Set von 36
Fragen könne wildfremde Menschen ineinander verliebt machen. Wir bimsen
Studierenden ein, in der Innovationsgesellschaft ist es die eine gute
Frage, die sie reich machen kann. Und manche Fragen lieben wir so sehr,
dass wir sagen, sie seien zu schön, um durch eine Antwort verdorben zu
werden. Der 2011 verstorbene Schweizer Psychiater und Professor der
Universität Tel Aviv, Aron Ronald Bodenheimer, glaubte, wir lebten in
einer Zeit der "Divinisierung des Fragens", also einer Art Erhebung des
Fragens in den Götterstand. Das mag der Grund dafür sein, warum wir so
hilflos dastehen, wenn jemand den von Menschen gemachten Klimawandel in
Zweifel zieht, Menschenrechte infrage stellt oder von Bill Gates'
sinisteren Plänen raunt, indem er "nur Fragen stellt".

Dabei wäre es an der Zeit, auch Fragen selbst zu hinterfragen. Wer das
wagt, gilt jedoch schnell als autoritär. Fragen wird man ja wohl
dürfen!, heißt es dann. Ein Satz, der besser begründbar ist als "Das
wird ja man wohl noch sagen dürfen", aber in seiner strategischen
Entrüstung und Selbstverharmlosung ihm doch verwandt. Denn Fragen sind
nicht so harmlos, wie er suggeriert.

Schon die berühmteste Frage der deutschen Literatur, die Gretchenfrage,
erzählt eigentlich von der dunklen Seite der Fragen. Gretchen, die ahnt,
dass mit Faust etwas nicht stimmt, fragt ihn bekanntlich: "Wie hast du's
mit der Religion?" Als die entscheidende Frage, die auf den Kern eines
Problems zielt, ist die Gretchenfrage berühmt geworden. Wenig dagegen
hört man davon, wie die Unterhaltung weiterging. Faust pariert die Frage
mit Gegenfragen: "Mein Liebchen, wer darf sagen: Ich glaube an Gott?",
"Wer darf ihn nennen? Und wer bekennen: Ich glaub ihn?" Mit zehn Fragen
verwirrt er das Mädchen, zerstreut ihre Bedenken und die Tragödie nimmt
ihren Lauf. Es gibt Fragen, die etwas wissen wollen; es gibt aber auch
Fragen, die folgen ganz anderen Interessen.

Trotzdem schauen wir derart unbedarft auf Fragen, dass wir bloß eine
bestimmte Art "rhetorische Frage" nennen, als seien alle anderen
ausschließlich von Wissenwollen getrieben. Doch auch andere Fragen
entfalten rhetorische Wirkung, sollen manchmal nur provozieren,
organisieren die Antwort vor oder beeinflussen auf anderen Wegen.

Forschende der Universität Exeter konnten etwa zeigen, dass
Verschwörungstheorien auch dann verfangen, wenn sie nicht explizit
erklärt, sondern nur implizit angedeutet werden, zum Beispiel durch die
Frage: "Und wer profitiert davon?" Fragen können sogar auf Wegen
beeinflussen, die Aussagen nicht kennen. Sie können nämlich die
wildesten Dinge unterstellen, während sie Augen und Ohren woanders
hinlenken, so wie Agamben es tut, wenn er zu den italienischen
Corona-Maßnahmen fragt: "Wie konnte es geschehen, dass ein ganzes Land
im Angesicht einer Krankheit ethisch und politisch zusammenbrach, ohne
dass man dies bemerkte?" Er unterstellt mal so eben, Italien sei ethisch
und politisch zusammengebrochen ? zu klären bliebe nur, wie uns das
entgehen konnte. Das ist das, wofür es im Englischen die schöne
Bezeichnung "loaded question" gibt, also eine Frage, die schwer mit
Unterstellungen "beladen" ist. 

Seine Unterstellungen aber in eine Frage zu gießen, heißt, sie weniger
angreifbar zu machen. Wer fragt, kann kaum der Lüge überführt werden.
Man fragt ja nur, und die Frage liegt jenseits von Kategorien wie wahr
oder falsch. Dafür, dass wir angeblich in einer Welt leben, in der an
jeder Ecke ein Shitstorm droht, ist das Fragen damit bemerkenswert
risikoarm. Als die Bild Christian Drosten kürzlich unterstellte, seine
Studie zu ansteckenden Kindern sei "grob falsch", schlug ihr massiv
Kritik entgegen für diese Behauptung, auch von ihrem ehemaligen
Redakteur Georg Streiter. Der hatte aber auch eine Idee, wie man die
Sache hätte retten können: "mit einem Fragezeichen". "Schulen und Kitas
wegen falscher Corona-Studie dicht?" Die Suggestion funktioniert auch
so, die Kritik der Falschbehauptung aber läuft ins Leere.

Bequem hat man mit provokanten Fragen auch gleich alle Beweislast
umgekehrt, denn wer fragt, muss nicht antworten. Sollen die anderen doch
erklären, warum man Menschen in Not helfen sollte oder warum sie meinen,
Merkel wäre nicht von Geheimbünden gesteuert! Sollen sie doch zum x-ten
Mal Rassismus definieren oder für ein feindseliges Auditorium belegen,
dass der von Menschen gemachte Klimawandel trotz Restunsicherheiten der
prognostischen Modelle eine Realität ist! Der Fragende genießt derweil
seinen aufmerksamkeitsökonomischen Vorteil, im Zweifel indem er schon
wieder neue Fragen aufbringt, die gar keine Antwort wollen. Denn
Diskurse sind schnell, aber Fragen stets parat, ohne dass man erst
aufwändig Wissen ranschaffen müsste. Die Frage steht jedem Laien zur
Verfügung ? und jedem, der sein Wissen absichtlich unter den Tisch
fallen lässt. Und der mit ihr gesäte Zweifel lässt sich, im Zweifel, nur
äußerst mühsam aus der Welt schaffen: Wie viele von denen, die eine
raunende Frage nach dem Verbleib von Christian Drostens Doktorarbeit
erreichte, erreichte auch die Antwort, dass sie ganz konventionell an
seiner Alma Mater einsehbar ist?

So können auch die fragwürdigsten Fragen Diskurse prägen, steuern,
gegebenenfalls auch manipulieren. Dabei lässt sich nicht nur ein
gewünschter Eindruck herbeifragen, es lassen sich auch diejenigen
Einsichten, die nicht erwünscht sind, hinwegfragen. Dafür muss der
Saboteur nicht einmal so virtuos vorgehen wie Faust bei Gretchen.
Einfach, aber effektiv ist etwa der "Whataboutism", benannt nach der
Frage: "Aber was ist mit...?". Damit gemeint ist die Taktik, eine
Diskussion zu stören, indem man nach einer anderen Sache fragt. In
Diskussionen um die berufliche Benachteiligung von Frauen etwa meldet
sich fast immer jemand zu Wort, der fragt: Und was ist mit
benachteiligten Männern?

Wir glauben derweil immer noch, wem Fragen schaden, der hat es wohl
verdient. Als sägten sie stets in aufklärerischer Manier die dicken
Stuhlbeine falscher Gewissheiten an, als schauten Fragen immer von unten
nach oben. Doch das Machtspiel der Fragen kennt viele Richtungen. Ihr
tendenziell bedrängender Charakter eignet sich hervorragend, um jemanden
kleinzufragen: "Schämst du dich nicht?", um Druck auszuüben: "Wo ist das
Problem?" oder um jemandem zu suggerieren, er gehöre nicht dazu: "Und wo
kommst du eigentlich her?"

Dass Fragen per se antiautoritär seien, ist eine Illusion. Genau wie der
damit verbundene Glaube, sie förderten auf diesem Weg Fortschritt und
Veränderung. Denn Fragen können auch geradezu "restaurative Tendenzen"
haben, schreibt der Psychiater Bodenheimer in seinem Buch Warum? Von der
Obszönität des Fragens. Man lehnt das Neue nicht ab, man fragt nur nach
Beweisen, wozu das gut sein soll, das wird man ja wohl dürfen! Vor dem
fragenden Geist vermag so "nur das längst Bekannte, das Geläufige und
Sichere zu bestehen", schreibt Bodenheimer. Deshalb enthalten fast alle
Innovationsstrategien Phasen, die sich die Fragen vom Leib halten, weil
sie die neuen Keime gleich ersticken würden. Berühmtestes Beispiel ist
wohl das Brainstorming, das dazu anhält, sofort Ideen aufzuschreiben und
erst später zu prüfen.

Das alles ist keine Rede gegen Fragen, nur gegen die Vorstellung, ihre
Weste sei so blütenweiß. "Fragen kostet nichts" und "es gibt keine
dummen Fragen"? Natürlich gibt es dumme Fragen und natürlich können sie
etwas kosten, Nerven zum Beispiel, Zeit, Fortschritt, Erkenntnisse. Das
Fragen kennt mindestens so viele rhetorische Tricks wie das Sagen. Es
versteckt sie nur besser.

Ist es nun anti-aufklärerisch, Fragen zu kritisieren? Im Gegenteil.
Rhetorische, strategische oder politische Manöver zu erkennen, auch wenn
sie die Form der Frage wählen, ist nur eine Ausweitung der Aufklärung
auf das Feld der Fragen. Es ist selbstverständlich, dass eine liberale
Demokratie und moderne Wissensgesellschaft ein Klima braucht, das Fragen
fördert. Aber dafür müssen wir ja nicht eine Satzform heiligsprechen.
Das wäre die Art gedankenlose Auffassung von Aufklärung, gegen die sich
schon Horkheimer und Adorno gewehrt haben, weil sie Gefahr läuft, selbst
wieder in den Mythos zu kippen. Und sei es nur der Mythos der guten
Frage. 

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a n a . w o r d s
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