mahalwords, gisela widmer ueber vernunft

mahalwords, gisela widmer ueber vernunft
29. Oktober 1997 michael
In mahalwords
leichtigkeit des seins

die tage laeppern sich zusammen, dann die wochen und 
mit der zeit die jahre, die jahrzenhnte immer weiter in 
richtung vorzeitiger pensionierung, gicht und senilitaet, 
und natuerlich, am ende ist man tot.

das sei weiter nicht so schlimm, sagt rainer, der freund, 
denn bevor man geboren wurde, sei man ja auch zumindest
insofern tot gewesen, als man nicht gelebt habe. die erde 
also habe sich bereits ohne uns gedreht und werde sich eines
tages ohne uns weiterdrehen; stets langsamer zwar, bis
auch sie, dereinst, in ein paar milliarden jahren, zum stillstand 
kommt, aber immerhin, sie wird sich vergleichsweise noch 
ziemlich lange drehen. 

rainer hat natuerlich, wie immer, auch in diesem falle recht.
und es gibt kein wenn oder aber zum thema. hoechstens 
die vrage: warum nehmen wir unser bisschen leben dennoch 
so ernst?

die antwort kenne ich nicht. und vielleicht sollte ich rainer 
anrufen und ihn vragen. aber vielleicht wuerde er nur antworten: 
 und er wuerde lachen dazu, so wie immer, wenn es
um leben und tod geht, weil rainer rainer ist und einfach
nicht anders kann. aber natuerlich haette er schon wieder 
recht - bei genauerem hinsehen.

die stunden mit rainer, obwohl diese stunden meist nur noch 
am telefon stattfinden, weil auch rainer wie so viele meiner 
freunde wegen unserer verfluchten mobilitaet tausende 
von kilometern entfernt lebt, die stunden mit rainer sind 
befreiend. zum beispiel, wenn ich ein riesiges problem habe, 
dann macht rainer ein winziges problemchen daraus. wenn 
mir eine der schlimmsten ungerechtigkeiten widerfahren ist, 
die ich mir ueberhaupt nur vorstellen kann, dann sagt er 
zwar nicht unbedingt, diese ungerechtigkeit geschehe mir 
recht. aber er kann durchaus sagen, ich solle doch nicht immer 
gleich so uebertreiben. klurz und gut: rainer betrachtet alles, 
was ich subjektiv wahrnehme, gelassen, aus distanz.

darum, wegen seiner gelassenheit und wegen seiner ehrlichkeit, 
die durchaus brutal sein kann, ist er einer meiner wichtigsten
freunde. beispielsweise, als vor einem jahr etwas passierte, von
dem ich in der oeffentlichkeit nicht zu berichten mag, das mich 
aber monatelang beschaeftigte. da gab es leute, die fingen gleich
an zu heulen, wenn ich ihnen davon erzaehlte, so dass am ende ich 
die leute troesten musste, obwohl doch eigentlich ich getroestet 
werden wollte. rainer hingegen macht fast so wie ein polizist eine
bestandesaufnahme, diskutierte, sagte, was sache ist, analysierte 
und kam zum schluss: 

was nicht heissen soll, dass rainer kein herz hat. o ja, herz hat er, 
viel herz sogar. aber er hat gleichzeitig die ojektiv einzig moegliche  
wahrnehmung. das leben faengt an und hoert, schlusspunkt, wieder 
auf. und was dazwischen  ist, so sagt er, duerfe man, wegen der 
zufaelligkeit unseres daseins, nicht so ernst nehmen. vo allem 
sich selber nicht.

manchmal denke ich, rainer ist einfach erwaxen. so, wie andere 
nie erwaxen werden. er hat sich entschieden: nicht fuer endlose
leiderei, sondern fuer eine gewisse leichtigkeit. er ist, eindeutig
und was eher selten vorkommt, ein vernunftbegabtes wesen. <


das magazin, gisela widmer





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