mahalwords, herzausreisser, ahh, ssch(t)oehn

mahalwords, herzausreisser, ahh, ssch(t)oehn
24. August 1997 michael
In mahalwords
21

28. oktember

jacquemort kam mit grossen schritten zurueck; den ruecken 
gebeugt, den bart ganz schmal, den blick starr zu boden 
gerichtet. er verfuegte jetzt ueber eine betraechtliche 
opatitaet und fuehlte sich dementsprechen aeusserst
 materiell. die sitzungen hatten fortschritte gezeigt und 
auch an zahl zugenommen; sicherlich wuerde es jetzt kaum 
noch welche geben. besorgt vragte sich jacquemort, was das 
wohl fuer ein ende nehmen wuerde. er mochte tun und sagen 
was er wollte, und aus la gloire alles moegliche herausquetschen, 
fuer sich selbst jedoch gewann er in geistiger hinsicht rein gar 
nichts hinzu. an lebendigem besass er nur erinnerungen und 
eigene erfahrungen. die von la gloire zu integrieren, gelang ihm 
nicht. zumindest nicht alle.

"genug damit", sagte er sich. "die natur ist vrisch und schoen, obwohl 
das jahr sich schon dem ende zuneigt. oktember, der mir am liebsten 
ist an meerumspuelten gestaden, oktember voll der duefte und
ueberreif, mit schwarzen harten blaettern und rotgezaehnten 
brombeerhecken und all den wolken, die am himmelsrand sich
ballen und dahinziehn, getreidestoppeln in dem gelb von altem 
honig, all das ist doch sehr schoen, die erde ist weich und braun 
und warm, dabei sich in aufregung zu stuerzen, ware doch irrsinn, 
wo das alles allzubald wieder vergangen sein wird. ach, was ist
dieser weg doch lang!"

ein zug malitten, die zweifellos gerade in den sueden aufbrachen, 
lenkte seinen blick nach oben, seines feinen gehoers wegen. 
merkwuerdig, diese gewohnheit, in akkorden zu singen: die 
voegel an der spitze pfiffen die bassstimme, die in der mitte 
uebernahemen die tonika, die anderen teilten sich untereinander
dominante und leitton; einige gar versuchten sich in verfeinerten 
ausschmueckungen, wie zum biespiel septimen. alle begannen und 
endeten zur leben sekunde, jdoch mit hoechst unueblichen 
intervallen.

"die sitten der malitten", dachte jacquemort. "wer wird sie wohl 
studieren? wer mag sie wohl zu beschreiben wissen? ein dickes
buch wurede man fuellen koennen, mit farbigen kunstdrucktafeln, 
radiert von der schaffensreichen hand eines unseren tuechtigsten 
tiermaler. malitten, malitten, warum erforscht denn keiner eure 
sitten? unselig wer jemals eine fing, russfarbene malitten, mit
eurer roten brust, dem mondauge und dem leisen fiepen junger 
maeuse! malitten, die ihr sterbt, sowie man den leisesten finger 
an euer unantastbares gefieder legt, die ihr aus dem geringsten
anlass eingeht, schon wenn man euch zu lange anschaut, oder
dabei gar noch lacht, wenn man euch den ruecken kehrt, wenn 
man seinen hut zieht, wenn die nacht auf sich warten laesst, 
wenn der abend allzufrueh hereinbricht. ihr emfindsamen und 
zartleibigen malitten, bei denen das herz all jenen platz beansprucht,
wo andere tiere sonst nur nichtswuerdige organe bergen."

"vielleicht sehen andere die malitten nicht so, wie ich sie sehe", sagt 
sich jacquemort. "und vielleicht sehe ich sie auch nicht, wo wie ich es 
sage, doch eines ist immerhin sicher, naemlich wenn man die malitten 
auch gar nicht sieht, so sollte man zumindest so tun, als saehe man sie. 
ausserdem sind sie dermassen sichtbar, dass es lachhaft waere, sie
zu uebersehen.

die strasse nehme ich von mal zu mal weniger warh, soviel steht
jedenfalls fest. weil ich sie zu gut kenne. und dennoch finden wir
hauptsaehclich das schoen, was uns vertraut ist, heisst es. ich 
moeglicherweise nicht. oder vielleicht deshalb, weil mir diese 
vertrautheit die vreiheit laesst, an ihrer stelle etwas anderes zu 
sehen. die malitten eben. also wollen wir richtigstellen: wir finden
das schoen, was uns genuegend gleichgueltig ist, dass es uns erlaubt, 
das zu sehen, was wir statt dessen sehen wollen. vielleicht tue ich 
unrecht daran, hier die erste person plural zu sezten. also das ganze 
nochma im singular: ich finde ... (siehe oben)."

"ach du meine guete", sage sich jacquemort, "da bin ich doch ploetzlich
so unerhoert tiefsinnig und spitzfindig geworden. wer haette das 
gedacht. im uebrigen zeigt diese letzte definition von einem anomal
gut entwickelten gesunden menschenversand. und es gibt nichts
poetischeres als einen gesunden menschenverstand."

die malitten flogen hin und her, wendeten ganz unvermutent, 
zeichneten auch am himmel die grazioeseesten figuren, unter welchen,
bei laengerem verweilen des bildeindrucks auf der nezthaut, das
cartesianische trifolium erkennbar geworden ware, sowie noch eine
reihe anderer kurzweiliger schnoerkeliger viguren, einschliesslich jener
verliebt verschlungenen, die man die kardioide, will sagen die herzfoermige 
nennt. jacquemort sah ihnen immer zu. sie flogen mit jedem mal hoeher, 
stiegen in weiten spiralen auf, bis sie keine eindeutig unterscheidbaren 
umrisse mehr zeigten. es ware jeztzt nur mehr einfache schwarze punkte,
in eigenwilliger anordnung und von kollektivem leben beseelt. als sie vor 
der sonnsenscheibe vorbeiflogen, kniff er geblendet die augen zusammen. 

ploeztlich bemerkte er in richtung meer drei etwas groessere
voegel, die so schnell flogen, dass man ihre gattung nicht zu 
bestimmen vermochte. mit der hand als sonnenschirm ueber 
den augen versuchete er, etwas genaues zu erkennen. aber 
die drei flugwesen ware schon vorueber. er sah sie hinter 
einem fernen felsblock wieder autauchen, wobei sie einen 
rasanten bogen beschrieben und dann eines nach dem anderen 
gen himmel stachen, immer noch mit der gleichen atemberaubenden 
geschwindigkeit. ihre fluegel mussten so schnell schlagen, dass er sie
nicht ausmachen konnte - es waren drei laengliche, spindelfoermig,
nahezu gleich aussehende silhouetten. 

die drei voegel hielten in geschlossener formation auf die malitten zu. 
jacquemort bleib stehen und schaute. das herz schlug ihm schneller, 
eine gemuetsbewegund, fuer die er keine erklaerung fand. vielleicht 
war es die leichtigkeit und danmut der neuankoemmlinge - vielleicht 
die furcht, sie koennten ueber die malitten herfallen - vielleicht auch
der eindruck voelliger uebereinstimmung, der von ihrer vollendet 
synchronen flugbewegung herruehrt.

in steilem winkel, entlang einem imaginaeren luftabhang schossen 
sie hoch; ihre geschwindigkeit raubte einem den atem. "nicht einmal 
schwalben koennten ihnen folgen", dachte jacquemort. und es mussten 
auch ziemlich grosse voegel sein. die ungewissheit ueber die entfernung, 
aus der er sie zuerst wahrgenommen  hatte, erlaubte ihm nicht einmal
eine annaehernde schaetzung ihrer groesse; sie hoben sich aber vom
himmel unendlich deutlicher ab als die malitten, die sich jetzt, fast an 
der grenze der wahrnehmbarkeit, wie stecknadelkoepfe auf dem 
grauen samt des himmels verloren.




[boris vian, der herzausreisser, kapitel 21]





--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--=--

reicht mahalwords interessierten weiter!

questions & comments & texte, die
ihr davon findet, sie seien es wert, 
dass es die ganze welt erfaehrt, so 
 all
this stuff

du willst auch? immer mehr?
dann abonnier auch du die mahalmaillist:
 mit den worten:
"SUBSCRIBE mahalwords mein_name"
oder zum abonnement loeschen:
"UNSUBSCRIBE mahalwords mein_name"

mehr infos & befehle & archive auf dem www:
<http://www.skandal.ch/mahal/words.html>