ana.words, der process, nach handschrift

ana.words, der process, nach handschrift
25. Januar 2006 mahal
In Allgemein
Franz Kafka

Der Proceß

Originalfassung nach der Handschrift

Verhaftung

Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er
etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.
Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die
ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam
diesmal nicht. Das war noch niemals geschehn. K. wartete
noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte
Frau die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr
ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber,
gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort
klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch
niemals gesehen hatte trat ein. Er war schlank und doch fest
gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das ähnlich
den Reiseanzügen mit verschiedenen Falten, Taschen,
Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und
infolgedessen, ohne daß man sich darüber klar wurde, wozu es
dienen sollte, besonders praktisch erschien. ?Wer sind Sie??
fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann
aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine
Erscheinung hinnehmen und sagte bloß seinerseits: ?Sie haben
geläutet?? ?Anna soll mir das Frühstück bringen,? sagte K.
und versuchte zunächst stillschweigend durch Aufmerksamkeit
und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war.
Aber dieser setzte sich nicht allzulange seinen Blicken aus,
sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um
jemandem, der offenbar knapp hinter der Tür stand, zu sagen:
?Er will, daß Anna ihm das Frühstück bringt.? Ein kleines
Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang nicht
sicher ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren.
Trotzdem der fremde Mann dadurch nichts erfahren haben
konnte, was er nicht schon früher gewußt hätte, sagte er nun
doch zu K. im Tone einer Meldung: ?Es ist unmöglich.? ?Das
wäre neu,? sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch seine
Hosen an. ?Ich will doch sehn, was für Leute im Nebenzimmer
sind und wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber
verantworten wird.? Es fiel ihm zwar gleich ein, daß er das
nicht hätte laut sagen müssen und daß er dadurch
gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden
anerkannte, aber es schien ihm jetzt nicht wichtig. Immerhin
faßte es der Fremde so auf, denn er sagte: ?Wollen Sie nicht
lieber hier bleiben?? ?Ich will weder hierbleiben noch von
Ihnen angesprochen werden, solange Sie sich mir nicht
vorstellen.? ?Es war gut gemeint,? sagte der Fremde und
öffnete nun freiwillig die Tür. Im Nebenzimmer, in das K.
langsamer eintrat als er wollte, sah es auf den ersten Blick
fast genau so aus, wie am Abend vorher. Es war das
Wohnzimmer der Frau Grubach, vielleicht war in diesem mit
Möbeln Decken Porzellan und Photographien überfüllten Zimmer
heute ein wenig mehr Raum als sonst, man erkannte das nicht
gleich, umsoweniger als die Hauptveränderung in der
Anwesenheit eines Mannes bestand, der beim offenen Fenster
mit einem Buch saß, von dem er jetzt aufblickte. ?Sie hätten
in Ihrem Zimmer bleiben sollen! Hat es Ihnen denn Franz
nicht gesagt?? ?Ja, was wollen Sie denn?? sagte K. und sah
von der neuen Bekanntschaft zu dem mit Franz Benannten, der
in der Tür stehen geblieben war, und dann wieder zurück.
Durch das offene Fenster erblickte man wieder die alte Frau,
die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem jetzt
gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch weiterhin
alles zu sehn. ?Ich will doch Frau Grubach ? ,? sagte K.,
machte eine Bewegung, als reiße er sich von den zwei Männern
los, die aber weit von ihm entfernt standen, und wollte
weitergehn. ?Nein,? sagte der Mann beim Fenster, warf das
Buch auf ein Tischchen und stand auf. ?Sie dürfen nicht
weggehn, Sie sind ja gefangen.? ?Es sieht so aus,? sagte K.
?Und warum denn?? fragte er dann. ?Wir sind nicht dazu
bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehn Sie in Ihr Zimmer und
warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal eingeleitet und Sie
werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe über
meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich
zurede. Aber ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz
und der ist selbst gegen alle Vorschrift freundlich zu
Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben, wie bei
der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich
sein.? K. wollte sich setzen, aber nun sah er, daß im ganzen
Zimmer keine Sitzgelegenheit war, außer dem Sessel beim
Fenster. ?Sie werden noch einsehn, wie wahr das alles ist,?
sagte Franz und gieng gleichzeitig mit dem andern Mann auf
ihn zu. Besonders der letztere überragte K. bedeutend und
klopfte ihm öfters auf die Schulter. Beide prüften K.?s
Nachthemd und sagten, daß er jetzt ein viel schlechteres
Hemd werde anziehn müssen, daß sie aber dieses Hemd wie auch
seine übrige Wäsche aufbewahren und, wenn seine Sache
günstig ausfallen sollte, ihm wieder zurückgeben würden. ?Es
ist besser, Sie geben die Sachen uns, als ins Depot,? sagten
sie, ?denn im Depot kommen öfters Unterschleife vor und
außerdem verkauft man dort alle Sachen nach einer gewissen
Zeit, ohne Rücksicht ob das betreffende Verfahren zuende
ist, oder nicht. Und wie lange dauern doch derartige
Processe besonders in letzter Zeit! Sie bekämen dann
schließlich allerdings vom Depot den Erlös, aber dieser
Erlös ist erstens an sich schon gering, denn beim Verkauf
entscheidet nicht die Höhe des Angebotes sondern die Höhe
der Bestechung, und zweitens verringern sich solche Erlöse
erfahrungsgemäß, wenn sie von Hand zu Hand und von Jahr zu
Jahr weitergegeben werden.? K. achtete auf diese Reden kaum,
das Verfügungsrecht über seine Sachen, das er vielleicht
noch besaß, schätzte er nicht hoch ein, viel wichtiger war
es ihm Klarheit über seine Lage zu bekommen; in Gegenwart
dieser Leute konnte er aber nicht einmal nachdenken, immer
wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters ? es konnten ja
nur Wächter sein ? förmlich freundschaftlich an ihn, sah er
aber auf, dann erblickte er ein zu diesem dicken Körper gar
nicht passendes trockenes knochiges Gesicht, mit starker
seitlich gedrehter Nase, das sich über ihn hinweg mit dem
andern Wächter verständigte. Was waren denn das für
Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie
an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte
Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in
seiner Wohnung zu überfallen? Er neigte stets dazu, alles
möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim
Eintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die
Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte. Hier schien
ihm das aber nicht richtig, man konnte zwar das ganze als
Spaß ansehn, als einen groben Spaß, den ihm aus unbekannten
Gründen, vielleicht weil heute sein dreißigster Geburtstag
war, die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten, es war
natürlich möglich, vielleicht brauchte er nur auf irgendeine
Weise den Wächtern ins Gesicht zu lachen und sie würden
mitlachen, vielleicht waren es Dienstmänner von der
Straßenecke, sie sahen ihnen nicht unähnlich ? trotzdem war
er diesmal förmlich schon seit dem ersten Anblick des
Wächters Franz entschlossen nicht den geringsten Vorteil,
den er vielleicht gegenüber diesen Leuten besaß, aus der
Hand zu geben. Darin daß man später sagen würde, er habe
keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr,
wohl aber erinnerte er sich ? ohne daß es sonst seine
Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfahrungen zu lernen ? an
einige an sich unbedeutende Fälle, in denen er zum
Unterschied von seinen Freunden mit Bewußtsein, ohne das
geringste Gefühl für die möglichen Folgen sich unvorsichtig
benommen hatte und dafür durch das Ergebnis gestraft worden
war. Es sollte nicht wieder geschehn, zumindest nicht
diesmal, war es eine Komödie, so wollte er mitspielen.

Noch war er frei. ?Erlauben Sie,? sagte er und gieng eilig
zwischen den Wächtern durch in sein Zimmer. ?Er scheint
vernünftig zu sein,? hörte er hinter sich sagen. In seinem
Zimmer riß er gleich die Schubladen des Schreibtisches auf,
es lag dort alles in großer Ordnung, aber gerade die
Legitimationspapiere, die er suchte, konnte er in der
Aufregung nicht gleich finden. Schließlich fand er seine
Radfahrlegitimation und wollte schon mit ihr zu den Wächtern
gehn, dann aber schien ihm das Papier zu geringfügig und er
suchte weiter, bis er den Geburtsschein fand. Als er wieder
in das Nebenzimmer zurückkam, öffnete sich gerade die
gegenüberliegende Tür und Frau Grubach wollte dort
eintreten. Man sah sie nur einen Augenblick, denn kaum hatte
sie K. erkannt, als sie offenbar verlegen wurde, um
Verzeihung bat, verschwand und äußerst vorsichtig die Türe
schloß. ?Kommen Sie doch herein,? hatte K. gerade noch sagen
können. Nun aber stand er mit seinen Papieren in der Mitte
des Zimmers, sah noch auf die Tür hin, die sich nicht wieder
öffnete und wurde erst durch einen Anruf der Wächter
aufgeschreckt, die bei dem Tischchen am offenen Fenster
saßen und wie K. jetzt erkannte, sein Frühstück verzehrten.
?Warum ist sie nicht eingetreten?? fragte er. ?Sie darf
nicht,? sagte der große Wächter, ?Sie sind doch verhaftet.?
?Wie kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf diese Weise??
?Nun fangen Sie also wieder an,? sagte der Wächter und
tauchte ein Butterbrot ins Honigfäßchen. ?Solche Fragen
beantworten wir nicht.? ?Sie werden sie beantworten müssen,?
sagte K. ?Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie
mir jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.? ?Du
lieber Himmel!? sagte der Wächter, ?daß Sie sich in Ihre
Lage nicht fügen können und daß Sie es darauf angelegt zu
haben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlich von
allen Ihren Mitmenschen am nächsten stehn, nutzlos zu
reizen.? ?Es ist so, glauben Sie es doch,? sagte Franz,
führte die Kaffeetasse die er in der Hand hielt nicht zum
Mund sondern sah K. mit einem langen wahrscheinlich
bedeutungsvollen, aber unverständlichen Blicke an. K. ließ
sich ohne es zu wollen in ein Zwiegespräch der Blicke mit
Franz ein, schlug dann aber doch auf seine Papiere und
sagte: ?Hier sind meine Legitimationspapiere.? ?Was kümmern
uns denn die?? rief nun schon der große Wächter, ?Sie führen
sich ärger auf als ein Kind. Was wollen Sie denn? Wollen Sie
Ihren großen verfluchten Proceß dadurch zu einem raschen
Ende bringen, daß Sie mit uns den Wächtern über Legitimation
und Verhaftbefehl diskutieren? Wir sind niedrige
Angestellte, die sich in einem Legitimationspapier kaum
auskennen und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu tun
haben, als daß sie zehn Stunden täglich bei Ihnen Wache
halten und dafür bezahlt werden. Das ist alles, was wir
sind, trotzdem aber sind wir fähig einzusehn, daß die hohen
Behörden, in deren Dienst wir stehn, ehe sie eine solche
Verhaftung verfügen, sich sehr genau über die Gründe der
Verhaftung und die Person des Verhafteten unterrichten. Es
gibt darin keinen Irrtum. Unsere Behörde, soweit ich sie
kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch
nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird wie
es im Gesetz heißt von der Schuld angezogen und muß uns
Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen
Irrtum?? ?Dieses Gesetz kenne ich nicht,? sagte K. ?Desto
schlimmer für Sie,? sagte der Wächter. ?Es besteht wohl auch
nur in Ihren Köpfen,? sagte K., er wollte sich irgendwie in
die Gedanken der Wächter einschleichen, sie zu seinen
Gunsten wenden oder sich dort einbürgern. Aber der Wächter
sagte nur abweisend: ?Sie werden es zu fühlen bekommen.?
Franz mischte sich ein und sagte: ?Sieh Willem er gibt zu,
er kenne das Gesetz nicht und behauptet gleichzeitig
schuldlos zu sein.? ?Du hast ganz recht, aber ihm kann man
nichts begreiflich machen,? sagte der andere. K. antwortete
nichts mehr; muß ich, dachte er, durch das Geschwätz dieser
niedrigsten Organe ? sie geben selbst zu, es zu sein ? mich
noch mehr verwirren lassen? Sie reden doch jedenfalls von
Dingen, die sie gar nicht verstehn. Ihre Sicherheit ist nur
durch ihre Dummheit möglich. Ein paar Worte, die ich mit
einem mir ebenbürtigen Menschen sprechen werde, werden alles
unvergleichlich klarer machen, als die längsten Reden mit
diesen. Er gieng einige Male in dem freien Raum des Zimmers
auf und ab, drüben sah er die alte Frau die einen noch viel
ältern Greis zum Fenster gezerrt hatte, den sie umschlungen
hielt; K. mußte dieser Schaustellung ein Ende machen:
?Führen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten,? sagte er. ?Bis er
es wünscht; nicht früher,? sagte der Wächter, der Willem
genannt worden war. ?Und nun rate ich Ihnen,? fügte er
hinzu, ?in Ihr Zimmer zu gehn, sich ruhig zu verhalten und
darauf zu warten, was über Sie verfügt werden wird. Wir
raten Ihnen, zerstreuen Sie sich nicht durch nutzlose
Gedanken, sondern sammeln Sie sich, es werden große
Anforderungen an Sie gestellt werden. Sie haben uns nicht so
behandelt, wie es unser Entgegenkommen verdient hätte, Sie
haben vergessen, daß wir, mögen wir auch sein was immer,
zumindest jetzt Ihnen gegenüber freie Männer sind, das ist
kein kleines Übergewicht. Trotzdem sind wir bereit, falls
Sie Geld haben, Ihnen ein kleines Frühstück aus dem
Kafeehaus drüben zu bringen.?

Ohne auf dieses Angebot zu antworten, stand K. ein Weilchen
lang still. Vielleicht würden ihn die Beiden, wenn er die
Tür des folgenden Zimmers oder gar die Tür des Vorzimmers
öffnen würde, gar nicht zu hindern wagen, vielleicht wäre es
die einfachste Lösung des Ganzen, daß er es auf die Spitze
trieb. Aber vielleicht würden sie ihn doch packen und war er
einmal niedergeworfen, so war auch alle Überlegenheit
verloren, die er ihnen jetzt gegenüber in gewisser Hinsicht
doch wahrte. Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor,
wie sie der natürliche Verlauf bringen mußte, und ging in
sein Zimmer zurück, ohne daß von seiner Seite oder von Seite
der Wächter ein weiteres Wort gefallen wäre.

Er warf sich auf sein Bett und nahm vom Nachttisch einen
schönen Apfel, den er sich gestern Abend für das Frühstück
vorbereitet hatte. Jetzt war er sein einziges Frühstück und
jedenfalls, wie er sich beim ersten großen Bissen
versicherte, viel besser, als das Frühstück aus dem
schmutzigen Nachtkafe gewesen wäre, das er durch die Gnade
der Wächter hätte bekommen können. Er fühlte sich wohl und
zuversichtlich, in der Bank versäumte er zwar heute
vormittag seinen Dienst, aber das war bei der
verhältnismäßig hohen Stellung die er dort einnahm, leicht
entschuldigt. Sollte er die wirkliche Entschuldigung
anführen? Er gedachte es zu tun. Würde man ihm nicht
glauben, was in diesem Fall begreiflich war, so konnte er
Frau Grubach als Zeugin führen oder auch die beiden Alten
von drüben, die wohl jetzt auf dem Marsch zum
gegenüberliegenden Fenster waren. Es wunderte K., wenigstens
aus dem Gedankengang der Wächter wunderte es ihn, daß sie
ihn in das Zimmer getrieben und ihn hier allein gelassen
hatten, wo er doch zehnfache Möglichkeit hatte sich
umzubringen. Gleichzeitig allerdings fragte er sich, mal aus
seinem Gedankengang, was für einen Grund er haben könnte, es
zu tun. Etwa weil die zwei nebenan saßen und sein Frühstück
abgefangen hatten? Es wäre so sinnlos gewesen sich
umzubringen, daß er, selbst wenn er es hätte tun wollen,
infolge der Sinnlosigkeit dessen dazu nicht imstande gewesen
wäre. Wäre die geistige Beschränktheit der Wächter nicht so
auffallend gewesen, so hätte man annehmen können, daß auch
sie infolge der gleichen Überzeugung keine Gefahr darin
gesehen hätten, ihn allein zu lassen. Sie mochten jetzt,
wenn sie wollten zusehn, wie er zu einem Wandschränkchen
gieng, in dem er einen guten Schnaps aufbewahrte, wie er ein
Gläschen zuerst zum Ersatz des Frühstücks leerte und wie er
ein zweites Gläschen dazu bestimmte, ihm Mut zu machen, das
letztere nur aus Vorsicht für den unwahrscheinlichen Fall,
daß es nötig sein sollte.

Da erschreckte ihn ein Zuruf aus dem Nebenzimmer derartig,
daß er mit den Zähnen ans Glas schlug. ?Der Aufseher ruft
Sie,? hieß es. Es war nur das Schreien, das ihn erschreckte,
dieses kurze abgehackte militärische Schreien, das er dem
Wächter Franz gar nicht zugetraut hätte. Der Befehl selbst
war ihm sehr willkommen, ?endlich? rief er zurück,
versperrte den Wandschrank und eilte sofort ins Nebenzimmer.
Dort standen die zwei Wächter und jagten ihn, als wäre das
selbstverständlich, wieder in sein Zimmer zurück. ?Was fällt
Euch ein?? riefen sie, ?im Hemd wollt Ihr vor den Aufseher?
Er läßt Euch durchprügeln und uns mit!? ?Laßt mich, zum
Teufel,? rief K., der schon bis zu seinem Kleiderkasten
zurückgedrängt war, ?wenn man mich im Bett überfällt, kann
man nicht erwarten mich im Festanzug zu finden.? ?Es hilft
nichts,? sagten die Wächter, die immer wenn K. schrie, ganz
ruhig, ja fast traurig wurden und ihn dadurch verwirrten
oder gewissermaßen zur Besinnung brachten. ?Lächerliche
Ceremonien!? brummte er noch, hob aber schon einen Rock vom
Stuhl und hielt ihn ein Weilchen mit beiden Händen, als
unterbreite er ihn dem Urteil der Wächter. Sie schüttelten
die Köpfe. ?Es muß ein schwarzer Rock sein,? sagten sie. K.
warf daraufhin den Rock zu Boden und sagte ? er wußte selbst
nicht, in welchem Sinn er es sagte ?: ?Es ist doch noch
nicht die Hauptverhandlung.? Die Wächter lächelten, blieben
aber bei ihrem: ?Es muß ein schwarzer Rock sein.? ?Wenn ich
dadurch die Sache beschleunige, soll es mir recht sein,?
sagte K., öffnete selbst den Kleiderkasten, suchte lange
unter den vielen Kleidern, wählte sein bestes schwarzes
Kleid, ein Jakettkleid, das durch seine Taille unter den
Bekannten fast Aufsehen gemacht hatte, zog nun auch ein
anderes Hemd an und begann sich sorgfältig anzuziehn. Im
Geheimen glaubte er eine Beschleunigung des Ganzen damit
erreicht zu haben, daß die Wächter vergessen hatten, ihn zum
Bad zu zwingen. Er beobachtete sie, ob sie sich vielleicht
daran doch erinnern würden, aber das fiel ihnen natürlich
gar nicht ein, dagegen vergaß Willem nicht, Franz mit der
Meldung, daß sich K. anziehe, zum Aufseher zu schicken.

Als er vollständig angezogen war, mußte er knapp vor Willem
durch das leere Nebenzimmer in das folgende Zimmer gehn,
dessen Tür mit beiden Flügeln bereits geöffnet war. Dieses
Zimmer wurde wie K. genau wußte seit kurzer Zeit von einem
Fräulein Bürstner, einer Schreibmaschinistin bewohnt, die
sehr früh in die Arbeit zu gehen pflegte, spät nachhause kam
und mit der K. nicht viel mehr als die Grußworte gewechselt
hatte. Jetzt war das Nachttischchen von ihrem Bett als
Verhandlungstisch in die Mitte des Zimmers gerückt und der
Aufseher saß hinter ihm. Er hatte die Beine über einander
geschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhles
gelegt. In einer Ecke des Zimmers standen drei junge Leute
und sahen die Photographien des Fräulein Bürstner an, die in
einer an der Wand aufgehängten Matte steckten. An der Klinke
des offenen Fensters hieng eine weiße Bluse. Im
gegenüberliegenden Fenster lagen wieder die zwei Alten, doch
hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn hinter ihnen
sie weit überragend stand ein Mann mit einem auf der Brust
offenen Hemd, der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern
drückte und drehte.

?Josef K.?? fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.?s
zerstreute Blicke auf sich zu lenken. K. nickte. ?Sie sind
durch die Vorgänge des heutigen Morgens wohl sehr
überrascht?? fragte der Aufseher und verschob dabei mit
beiden Händen die paar Gegenstände die auf dem
Nachttischchen lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, ein Buch
und ein Nadelkissen, als seien es Gegenstände, die er zur
Verhandlung benötige. ?Gewiß,? sagte K. und das Wohlgefühl
endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehn und
über seine Angelegenheit mit ihm sprechen zu können ergriff
ihn, ?gewiß ich bin überrascht, aber ich bin keineswegs sehr
überrascht.? ?Nicht sehr überrascht?? fragte der Aufseher
und stellte nun die Kerze in die Mitte des Tischchens,
während er die andern Sachen um sie gruppierte. ?Sie
mißverstehen mich vielleicht,? beeilte sich K. zu bemerken.
?Ich meine ?? Hier unterbrach sich K. und sah sich nach
einem Sessel um. ?Ich kann mich doch setzen?? fragte er. ?Es
ist nicht üblich,? antwortete der Aufseher. ?Ich meine,?
sagte nun K. ohne weitere Pause, ?ich bin allerdings sehr
überrascht, aber man ist, wenn man dreißig Jahre auf der
Welt ist und sich allein hat durchschlagen müssen, wie es
mir beschieden war, gegen Überraschungen abgehärtet und
nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die heutige nicht.?
?Warum besonders die heutige nicht?? ?Ich will nicht sagen,
daß ich das Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mir
die Veranstaltungen die gemacht wurden, doch zu umfangreich.
Es müßten alle Mitglieder der Pension daran beteiligt sein
und auch Sie alle, das gienge über die Grenzen eines Spaßes.
Ich will also nicht sagen, daß es ein Spaß ist.? ?Ganz
richtig,? sagte der Aufseher und sah nach, wieviel
Zündhölzchen in der Zündhölzchenschachtel waren. ?Anderseits
aber,? fuhr K. fort und wandte sich hiebei an alle und hätte
gern sogar den drei bei den Photographien sich zugewendet,
?andererseits aber kann die Sache auch nicht viel
Wichtigkeit haben. Ich folgere das daraus, daß ich angeklagt
bin, aber nicht die geringste Schuld auffinden kann wegen
deren man mich anklagen könnte. Aber auch das ist
nebensächlich, die Hauptfrage ist: von wem bin ich
angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren? Sind Sie
Beamte? Keiner hat eine Uniform, wenn man nicht Ihr Kleid? ?
hier wandte er sich an Franz ? ?eine Uniform nennen will,
aber es ist doch eher ein Reiseanzug. In diesen Fragen
verlange ich Klarheit und ich bin überzeugt, daß wir nach
dieser Klarstellung von einander den herzlichsten Abschied
werden nehmen können.? Der Aufseher schlug die
Zündhölzchenschachtel auf den Tisch nieder. ?Sie befinden
sich in einem großen Irrtum,? sagte er. ?Diese Herren hier
und ich sind für Ihre Angelegenheit vollständig
nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast nichts. Wir
könnten die regelrechtesten Uniformen tragen und Ihre Sache
würde um nichts schlechter stehn. Ich kann Ihnen auch
durchaus nicht sagen, daß Sie angeklagt sind oder vielmehr
ich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie sind verhaftet, das ist
richtig, mehr weiß ich nicht. Vielleicht haben die Wächter
etwas anderes geschwätzt, dann ist eben nur Geschwätz
gewesen. Wenn ich nun also auch Ihre Fragen nicht
beantworten kann, so kann ich Ihnen doch raten, denken Sie
weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird,
denken Sie lieber mehr an sich. Und machen Sie keinen
solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld, es stört den
nicht gerade schlechten Eindruck, den Sie im übrigen machen.
Auch sollten Sie überhaupt im Reden zurückhaltender sein,
fast alles was Sie vorhin gesagt haben, hätte man auch wenn
Sie nur paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen
können, außerdem war es nichts übermäßig für Sie Günstiges.?

K. starrte den Aufseher an. Schulmäßige Lehren bekam er hier
von einem vielleicht jüngern Menschen? Für seine Offenheit
wurde er mit einer Rüge bestraft? Und über den Grund seiner
Verhaftung und über deren Auftraggeber erfuhr er nichts? Er
geriet in eine gewisse Aufregung, gieng auf und ab, woran
ihn niemand hinderte, schob seine Manschetten zurück,
befühlte die Brust, strich sein Haar zurecht, kam an den
drei Herren vorüber, sagte ?es ist ja sinnlos,? worauf sich
diese zu ihm umdrehten und ihn entgegenkommend aber ernst
ansahen, und machte endlich wieder vor dem Tisch des
Aufsehers halt. ?Der Staatsanwalt Hasterer ist mein guter
Freund,? sagte er, ?kann ich ihm telephonieren?? ?Gewiß,?
sagte der Aufseher, ?aber ich weiß nicht, welchen Sinn das
haben sollte, es müßte denn sein, daß Sie irgendeine private
Angelegenheit mit ihm zu besprechen haben.? ?Welchen Sinn??
rief K. mehr bestürzt, als geärgert. ?Wer sind Sie denn? Sie
wollen einen Sinn und führen das Sinnloseste auf was es
gibt? Ist es nicht zum Steinerweichen? Die Herren haben mich
zuerst überfallen und jetzt sitzen oder stehn sie hier herum
und lassen mich vor Ihnen die hohe Schule reiten. Welchen
Sinn es hätte, an einen Staatsanwalt zu telephonieren, wenn
ich angeblich verhaftet bin? Gut, ich werde nicht
telephonieren.? ?Aber doch,? sagte der Aufseher und streckte
die Hand zum Vorzimmer aus, wo das Telephon war, ?bitte
telephonieren Sie doch.? ?Nein, ich will nicht mehr,? sagte
K. und ging zum Fenster. Drüben war noch die Gesellschaft
beim Fenster und schien nur jetzt dadurch, daß K. ans
Fenster herangetreten war, in der Ruhe des Zuschauens ein
wenig gestört. Die Alten wollten sich erheben, aber der Mann
hinter ihnen beruhigte sie. ?Dort sind auch solche
Zuschauer,? rief K. ganz laut dem Aufseher zu und zeigte mit
dem Zeigefinger hinaus. ?Weg von dort,? rief er dann
hinüber. Die drei wichen auch sofort ein paar Schritte
zurück, die beiden Alten sogar noch hinter den Mann, der sie
mit seinem breiten Körper deckte und nach seinen
Mundbewegungen zu schließen, irgendetwas auf die Entfernung
hin unverständliches sagte. Ganz aber verschwanden sie
nicht, sondern schienen auf den Augenblick zu warten, bis
sie sich unbemerkt wieder dem Fenster nähern könnten.
?Zudringliche, rücksichtslose Leute!? sagte K., als er sich
ins Zimmer zurückwendete. Der Aufseher stimmte ihm
möglicherweise zu, wie K. mit einem Seitenblick zu erkennen
glaubte. Aber es war ebensogut möglich daß er gar nicht
zugehört hatte, denn er hatte eine Hand fest auf den Tisch
gedrückt und schien die Finger ihrer Länge nach zu
vergleichen. Die zwei Wächter saßen auf einem mit einer
Schmuckdecke verhüllten Koffer und rieben ihre Knie. Die
drei jungen Leute hatten die Hände in die Hüften gelegt und
sahen ziellos herum. Es war still wie in irgendeinem
vergessenen Bureau. ?Nun meine Herren,? rief K., es schien
ihm einen Augenblick lang, als trage er alle auf seinen
Schultern, ?Ihrem Aussehn nach zu schließen, dürfte meine
Angelegenheit beendet sein. Ich bin der Ansicht, daß es am
besten ist, über die Berechtigung oder Nichtberechtigung
Ihres Vorgehns nicht mehr nachzudenken und der Sache durch
einen gegenseitigen Händedruck einen versöhnlichen Abschluß
zu geben. Wenn auch Sie meiner Ansicht sind, dann bitte ??
und er trat an den Tisch des Aufsehers hin und reichte ihm
die Hand. Der Aufseher hob die Augen, nagte an den Lippen
und sah auf K.?s ausgestreckte Hand, noch immer glaubte K.
der Aufseher werde einschlagen. Dieser aber stand auf, nahm
einen harten runden Hut, der auf Fräulein Bürstners Bett lag
und setzte sich ihn vorsichtig mit beiden Händen auf, wie
man es bei der Anprobe neuer Hüte tut. ?Wie einfach Ihnen
alles scheint!? sagte er dabei zu K. ?Wir sollten der Sache
einen versöhnlichen Abschluß geben, meinten Sie? Nein, nein,
das geht wirklich nicht. Womit ich andererseits durchaus
nicht sagen will, daß Sie verzweifeln sollen. Nein, warum
denn? Sie sind nur verhaftet, nichts weiter. Das hatte ich
Ihnen mitzuteilen, habe es getan und habe auch gesehn, wie
Sie es aufgenommen haben. Damit ist es für heute genug und
wir können uns verabschieden, allerdings nur vorläufig. Sie
werden wohl jetzt in die Bank gehn wollen?? ?In die Bank??
fragte K. ?Ich dachte, ich wäre verhaftet.? K. fragte mit
einem gewissen Trotz, denn obwohl sein Handschlag nicht
angenommen worden war, fühlte er sich insbesondere seitdem
der Aufseher aufgestanden war immer unabhängiger von allen
diesen Leuten. Er spielte mit ihnen. Er hatte die Absicht,
falls sie weggehn sollten, bis zum Haustor nachzulaufen und
ihnen seine Verhaftung anzubieten. Darum wiederholte er
auch: ?Wie kann ich denn in die Bank gehn, da ich verhaftet
bin?? ?Ach so,? sagte der Aufseher, der schon bei der Tür
war, ?Sie haben mich mißverstanden, Sie sind verhaftet,
gewiß, aber das soll Sie nicht hindern Ihren Beruf zu
erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise
nicht gehindert sein.? ?Dann ist das Verhaftetsein nicht
sehr schlimm,? sagte K. und gieng nahe an den Aufseher
heran. ?Ich meinte es niemals anders,? sagte dieser. ?Es
scheint aber dann nicht einmal die Mitteilung der Verhaftung
sehr notwendig gewesen zu sein,? sagte K. und gieng noch
näher. Auch die andern hatten sich genähert. Alle waren
jetzt auf einem engen Raum bei der Tür versammelt. ?Es war
meine Pflicht,? sagte der Aufseher. ?Eine dumme Pflicht,?
sagte K. unnachgiebig. ?Mag sein,? antwortete der Aufseher,
?aber wir wollen mit solchen Reden nicht unsere Zeit
verlieren. Ich hatte angenommen, daß Sie in die Bank gehn
wollen. Da Sie auf alle Worte aufpassen, füge ich hinzu: ich
zwinge Sie nicht in die Bank zu gehn, ich hatte nur
angenommen, daß Sie es wollen. Und um Ihnen das zu
erleichtern und Ihre Ankunft in der Bank möglichst
unauffällig zu machen, habe ich diese drei Herren Ihre
Kollegen hier zu Ihrer Verfügung gehalten.? ?Wie?? rief K.
und staunte die drei an. Diese so uncharakteristischen
blutarmen jungen Leute, die er immer noch nur als Gruppe bei
den Photographien in der Erinnerung hatte, waren tatsächlich
Beamte aus seiner Bank, nicht Kollegen, das war zu viel
gesagt und bewies eine Lücke in der Allwissenheit des
Aufsehers, aber untergeordnete Beamte aus der Bank waren es
allerdings. Wie hatte K. das übersehen können? Wie hatte er
doch hingenommen sein müssen, von dem Aufseher und den
Wächtern, um diese drei nicht zu erkennen. Den steifen, die
Hände schwingenden Rabensteiner, den blonden Kullich mit den
tiefliegenden Augen und Kaminer mit dem unausstehlichen
durch eine chronische Muskelzerrung bewirkten Lächeln.
?Guten Morgen!? sagte K. nach einem Weilchen und reichte den
sich korrekt verbeugenden Herren die Hand. ?Ich habe Sie gar
nicht erkannt. Nun werden wir also an die Arbeit gehn,
nicht? Die Herren nickten lachend und eifrig, als hätten sie
die ganze Zeit über darauf gewartet, nur als K. seinen Hut
vermißte, der in seinem Zimmer liegen geblieben war, liefen
sie sämtlich hintereinander ihn holen, was immerhin auf eine
gewisse Verlegenheit schließen ließ. K. stand still und sah
ihnen durch die zwei offenen Türen nach, der letzte war
natürlich der gleichgültige Rabensteiner, der bloß einen
eleganten Trab angeschlagen hatte. Kaminer überreichte den
Hut und K. mußte sich, wie dies übrigens auch öfters in der
Bank nötig war, ausdrücklich sagen, daß Kaminers Lächeln
nicht Absicht war, ja daß er überhaupt absichtlich nicht
lächeln konnte. Im Vorzimmer öffnete dann Frau Grubach, die
gar nicht sehr schuldbewußt aussah, der ganzen Gesellschaft
die Wohnungstür und K. sah, wie so oft, auf ihr Schürzenband
nieder, das so unnötig tief in ihren mächtigen Leib
einschnitt. Unten entschloß sich K., die Uhr in der Hand,
ein Automobil zu nehmen, um die schon halbstündige
Verspätung nicht unnötig zu vergrößern. Kaminer lief zur
Ecke, um den Wagen zu holen, die zwei andern versuchten
offensichtlich K. zu zerstreuen, als plötzlich Kullich auf
das gegenüberliegende Haustor zeigte, in dem eben der Mann
mit dem blonden Spitzbart erschien und im ersten Augenblick
ein wenig verlegen darüber, daß er sich jetzt in seiner
ganzen Größe zeigte, zur Wand zurücktrat und sich anlehnte.
Die Alten waren wohl noch auf der Treppe. K. ärgerte sich
über Kullich, daß dieser auf den Mann aufmerksam machte, den
er selbst schon früher gesehn, ja den er sogar erwartet
hatte. ?Schauen Sie nicht hin,? stieß er hervor ohne zu
bemerken, wie auffallend eine solche Redeweise gegenüber
selbständigen Männern war. Es war aber auch keine Erklärung
nötig, denn gerade kam das Automobil, man setzte sich und
fuhr los. Da erinnerte sich K. daß er das Weggehn des
Aufsehers und der Wächter gar nicht bemerkt hatte, der
Aufseher hatte ihm die drei Beamten verdeckt und nun wieder
die Beamten den Aufseher. Viel Geistesgegenwart bewies das
nicht und K. nahm sich vor, sich in dieser Hinsicht genauer
zu beobachten. Doch drehte er sich noch unwillkürlich um und
beugte sich über das Hinterdeck des Automobils vor, um
möglicherweise den Aufseher und die Wächter noch zu sehn.
Aber gleich wendete er sich wieder zurück ohne auch nur den
Versuch gemacht zu haben jemanden zu suchen, und lehnte sich
bequem in die Wagenecke. Trotzdem es nicht den Anschein
hatte, hätte er gerade jetzt Zuspruch nötig gehabt, aber nun
schienen die Herren ermüdet, Rabensteiner sah rechts aus dem
Wagen, Kullych links und nur Kaminer stand mit seinem
Grinsen zur Verfügung, über das einen Spaß zu machen leider
die Menschlichkeit verbot.

Gespräch mit Frau Grubach / Dann Fräulein Bürstner

In diesem Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weise zu
verbringen, daß er nach der Arbeit wenn dies noch möglich
war ? er saß meistens bis neun Uhr im Bureau ? einen kleinen
Spaziergang allein oder mit Bekannten machte und dann in
eine Bierstube gieng, wo er an einem Stammtisch mit meist
ältern Herren gewöhnlich bis elf Uhr beisammensaß. Es gab
aber auch Ausnahmen von dieser Einteilung, wenn K. z. B. vom
Bankdirektor der seine Arbeitskraft und Vertrauenswürdigkeit
sehr schätzte zu einer Autofahrt oder zu einem Abendessen in
seiner Villa eingeladen wurde. Außerdem gieng K. einmal in
der Woche zu einem Mädchen namens Elsa, die während der
Nacht bis in den späten Morgen als Kellnerin in einer
Weinstube bediente und während des Tages nur vom Bett aus
Besuche empfieng.

An diesem Abend aber ? der Tag war unter angestrengter
Arbeit und vielen ehrenden und freundschaftlichen
Geburtstagswünschen schnell verlaufen ? wollte K. sofort
nachhause gehn. In allen kleinen Pausen der Tagesarbeit
hatte er daran gedacht; ohne genau zu wissen, was er meinte,
schien es ihm, als ob durch die Vorfälle des Morgens eine
große Unordnung in der ganzen Wohnung der Frau Grubach
verursacht worden sei und daß gerade er nötig sei, um die
Ordnung wieder herzustellen. War aber einmal diese Ordnung
hergestellt, dann war jede Spur jener Vorfälle ausgelöscht
und alles nahm seinen alten Gang wieder auf. Insbesondere
von den drei Beamten war nichts zu befürchten, sie waren
wieder in die große Beamtenschaft der Bank versenkt, es war
keine Veränderung an ihnen zu bemerken. K. hatte sie öfters
einzeln und gemeinsam in sein Bureau berufen, zu keinem
andern Zweck als um sie zu beobachten; immer hatte er sie
befriedigt entlassen können.

Als er um halb zehn Uhr abends vor dem Hause, in dem er
wohnte ankam, traf er im Haustor einen jungen Burschen, der
dort breitbeinig stand und eine Pfeife rauchte. ?Wer sind
Sie,? fragte K. sofort und brachte sein Gesicht nahe an den
Burschen, man sah nicht viel im Halbdunkel des Flurs. ?Ich
bin der Sohn des Hausmeisters, gnädiger Herr,? antwortete
der Bursche, nahm die Pfeife aus dem Mund und trat zur
Seite. ?Der Sohn des Hausmeisters?? fragte K. und klopfte
mit seinem Stock ungeduldig den Boden. ?Wünscht der gnädige
Herr etwas? Soll ich den Vater holen?? ?Nein, nein,? sagte
K., in seiner Stimme lag etwas Verzeihendes, als habe der
Bursche etwas Böses ausgeführt, er aber verzeihe ihm. ?Es
ist gut,? sagte er dann und gieng weiter, aber ehe er die
Treppe hinaufstieg, drehte er sich noch einmal um.

Er hätte geradewegs in sein Zimmer gehen können, aber da er
mit Frau Grubach sprechen wollte, klopfte er gleich an ihre
Türe an. Sie saß mit einem Strickstrumpf am Tisch, auf dem
noch ein Haufen alter Strümpfe lag. K. entschuldigte sich
zerstreut, daß er so spät komme, aber Frau Grubach war sehr
freundlich und wollte keine Entschuldigung hören: für ihn
sei sie immer zu sprechen, er wisse sehr gut, daß er ihr
bester und liebster Mieter sei. K. sah sich im Zimmer um, es
war wieder vollkommen in seinem alten Zustand, das
Frühstücksgeschirr, das früh auf dem Tischchen beim Fenster
gestanden hatte, war auch schon weggeräumt. Frauenhände
bringen doch im Stillen viel fertig, dachte er, er hätte das
Geschirr vielleicht auf der Stelle zerschlagen, aber gewiß
nicht hinaustragen können. Er sah Frau Grubach mit einer
gewissen Dankbarkeit an. ?Warum arbeiten Sie noch so spät,?
fragte er. Sie saßen nun beide am Tisch und K. vergrub von
Zeit zu Zeit eine Hand in die Strümpfe. ?Es gibt viel
Arbeit,? sagte sie, ?während des Tages gehöre ich den
Mietern; wenn ich meine Sachen in Ordnung bringen will,
bleiben mir nur die Abende.? ?Ich habe Ihnen heute wohl noch
eine außergewöhnliche Arbeit gemacht.? ?Wieso denn,? fragte
sie etwas eifriger werdend, die Arbeit ruhte in ihrem
Schooß. ?Ich meine die Männer, die heute früh hier waren.?
?Ach so,? sagte sie und kehrte wieder in ihre Ruhe zurück,
?das hat mir keine besondere Arbeit gemacht.? K. sah
schweigend zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vornahm.
?Sie scheint sich zu wundern, daß ich davon spreche,? dachte
er, ?sie scheint es nicht für richtig zu halten daß ich
davon spreche. Desto wichtiger ist es daß ich es tue. Nur
mit einer alten Frau kann ich davon sprechen.? ?Doch, Arbeit
hat es gewiß gemacht,? sagte er dann, ?aber es wird nicht
wieder vorkommen.? ?Nein, das kann nicht wieder vorkommen,?
sagte sie bekräftigend und lächelte K. fast wehmütig an.
?Meinen Sie das ernstlich?? fragte K. ?Ja,? sagte sie
leiser, ?aber vor allem dürfen Sie es nicht zu schwer
nehmen. Was geschieht nicht alles in der Welt! Da Sie so
vertraulich mit mir reden Herr K., kann ich Ihnen ja
eingestehn, daß ich ein wenig hinter der Tür gehorcht habe
und daß mir auch die beiden Wächter einiges erzählt haben.
Es handelt sich ja um Ihr Glück und das liegt mir wirklich
am Herzen, mehr als mir vielleicht zusteht, denn ich bin ja
bloß die Vermieterin. Nun, ich habe also einiges gehört,
aber ich kann nicht sagen, daß es etwas besonders Schlimmes
war. Nein. Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so wie ein
Dieb verhaftet wird. Wenn man wie ein Dieb verhaftet wird,
so ist es schlimm, aber diese Verhaftung ? . Es kommt mir
wie etwas Gelehrtes vor, entschuldigen Sie wenn ich etwas
Dummes sage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich
zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muß.?

?Es ist gar nichts Dummes, was Sie gesagt haben Frau
Grubach, wenigstens bin auch ich zum Teil Ihrer Meinung, nur
urteile ich über das ganze noch schärfer als Sie, und halte
es einfach nicht einmal für etwas Gelehrtes sondern
überhaupt für nichts. Ich wurde überrumpelt, das war es.
Wäre ich gleich nach dem Erwachen, ohne mich durch das
Ausbleiben der Anna beirren zu lassen, gleich aufgestanden
und ohne Rücksicht auf irgendjemand, der mir in den Weg
getreten wäre, zu Ihnen gegangen, hätte ich diesmal
ausnahmsweise etwa in der Küche gefrühstückt, hätte mir von
Ihnen die Kleidungsstücke aus meinem Zimmer bringen lassen,
kurz hätte ich vernünftig gehandelt, es wäre nichts weiter
geschehn, es wäre alles, was werden wollte, erstickt worden.
Man ist aber so wenig vorbereitet. In der Bank z. B. bin ich
vorbereitet, dort könnte mir etwas derartiges unmöglich
geschehn, ich habe dort einen eigenen Diener, das allgemeine
Telephon und das Bureautelephon stehn vor mir auf dem Tisch,
immerfort kommen Leute, Parteien und Beamte; außerdem aber
und vor allem bin ich dort immerfort im Zusammenhang der
Arbeit, daher geistesgegenwärtig, es würde mir geradezu ein
Vergnügen machen dort einer solchen Sache gegenübergestellt
zu werden. Nun es ist vorüber und ich wollte eigentlich auch
gar nicht mehr darüber sprechen, nur Ihr Urteil, das Urteil
einer vernünftigen Frau wollte ich hören und bin sehr froh,
daß wir darin übereinstimmen. Nun müssen Sie mir aber die
Hand reichen, eine solche Übereinstimmung muß durch
Handschlag bekräftigt werden.?

Ob sie mir die Hand reichen wird? Der Aufseher hat mir die
Hand nicht gereicht, dachte er und sah die Frau anders als
früher, prüfend an. Sie stand auf weil auch er aufgestanden
war, sie war ein wenig befangen, weil ihr nicht alles was K.
gesagt hatte verständlich gewesen war. Infolge dieser
Befangenheit sagte sie aber etwas, was sie gar nicht wollte
und was auch gar nicht am Platze war: ?Nehmen Sie es doch
nicht so schwer, Herr K.,? sagte sie, hatte Tränen in der
Stimme und vergaß natürlich auch an den Handschlag. ?Ich
wüßte nicht, daß ich es schwer nehme,? sagte K. plötzlich
ermüdet und das Wertlose aller Zustimmungen dieser Frau
einsehend.

Bei der Tür fragte er noch: ?Ist Fräulein Bürstner zuhause??
?Nein,? sagte Frau Grubach und lächelte bei dieser trockenen
Auskunft mit einer verspäteten vernünftigen Teilnahme. ?Sie
ist im Teater. Wollten Sie etwas von ihr? Soll ich ihr etwas
ausrichten?? ?Ach, ich wollte nur paar Worte mit ihr reden.?
?Ich weiß leider nicht, wann sie kommt; wenn sie im Teater
ist, kommt sie gewöhnlich spät.? ?Das ist ja ganz
gleichgültig,? sagte K. und drehte schon den gesenkten Kopf
der Tür zu, um wegzugehn, ?ich wollte mich nur bei ihr
entschuldigen, daß ich heute ihr Zimmer in Anspruch genommen
habe.? ?Das ist nicht nötig, Herr K., Sie sind zu
rücksichtsvoll, das Fräulein weiß ja von gar nichts, sie war
seit dem frühen Morgen noch nicht zuhause, es ist auch schon
alles in Ordnung gebracht, sehen Sie selbst.? Und sie
öffnete die Tür zu Fräulein Bürstners Zimmer. ?Danke, ich
glaube es,? sagte K., gieng dann aber doch zu der offenen
Tür. Der Mond schien still in das dunkle Zimmer. Soviel man
sehen konnte war wirklich alles an seinem Platz, auch die
Bluse hieng nicht mehr an der Fensterklinke. Auffallend hoch
schienen die Pölster im Bett, sie lagen zum Teil im
Mondlicht. ?Das Fräulein kommt oft spät nachhause,? sagte K.
und sah Frau Grubach an, als trage sie die Verantwortung
dafür. ?Wie eben junge Leute sind!? sagte Frau Grubach
entschuldigend. ?Gewiß, gewiß,? sagte K., ?es kann aber zu
weit gehn.? ?Das kann es,? sagte Frau Grubach, ?wie sehr
haben Sie recht Herr K. Vielleicht sogar in diesem Fall. Ich
will Fräulein Bürstner gewiß nicht verleumden, sie ist ein
gutes liebes Mädchen, freundlich, ordentlich, pünktlich,
arbeitsam, ich schätze das alles sehr, aber eines ist wahr,
sie sollte stolzer, zurückhaltender sein. Ich habe sie in
diesem Monat schon zweimal in entlegenen Straßen immer mit
einem andern Herrn gesehn. Es ist mir sehr peinlich, ich
erzähle es beim wahrhaftigen Gott nur Ihnen Herr K., aber es
wird sich nicht vermeiden lassen, daß ich auch mit dem
Fräulein selbst darüber spreche. Es ist übrigens nicht das
einzige, das sie mir verdächtig macht.? ?Sie sind auf ganz
falschem Weg,? sagte K., wütend und fast unfähig es zu
verbergen, ?übrigens haben Sie offenbar auch meine Bemerkung
über das Fräulein mißverstanden, so war es nicht gemeint.
Ich warne Sie sogar aufrichtig, dem Fräulein irgendetwas zu
sagen, Sie sind durchaus im Irrtum, ich kenne das Fräulein
sehr gut, es ist nichts davon wahr was Sie sagten. Übrigens
vielleicht gehe ich zu weit, ich will Sie nicht hindern,
sagen Sie ihr, was Sie wollen. Gute Nacht.? ?Herr K.,? sagte
Frau Grubach bittend und eilte K. bis zu seiner Tür nach,
die er schon geöffnet hatte, ?ich will ja noch gar nicht mit
dem Fräulein reden, natürlich will ich sie vorher noch
weiter beobachten, nur Ihnen habe ich anvertraut was ich
wußte. Schließlich muß es doch im Sinne jedes Mieters sein,
wenn man die Pension rein zu erhalten sucht und nichts
anderes ist mein Bestreben dabei.? ?Die Reinheit!? rief K.
noch durch die Spalte der Tür, ?wenn Sie die Pension rein
erhalten wollen, müssen Sie zuerst mir kündigen.? Dann
schlug er die Tür zu, ein leises Klopfen beachtete er nicht
mehr.

Dagegen beschloß er, da er gar keine Lust zum Schlafen
hatte, noch wachzubleiben und bei dieser Gelegenheit auch
festzustellen wann Fräulein Bürstner kommen würde.
Vielleicht wäre es dann auch möglich, so unpassend es sein
mochte, noch paar Worte mit ihr zu reden. Als er im Fenster
lag und die müden Augen drückte, dachte er einen Augenblick
sogar daran, Frau Grubach zu bestrafen und Fräulein Bürstner
zu überreden, gemeinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber
erschien ihm das entsetzlich übertrieben und er hatte sogar
den Verdacht gegen sich, daß er darauf ausgieng, die Wohnung
wegen der Vorfälle am Morgen zu wechseln. Nichts wäre
unsinniger und vor allem zweckloser und verächtlicher
gewesen.

Als er des Hinausschauens auf die leere Straße überdrüssig
geworden war, legte er sich auf das Kanapee, nachdem er die
Tür zum Vorzimmer ein wenig geöffnet hatte, um jeden der die
Wohnung betrat, gleich vom Kanapee aus sehn zu können. Etwa
bis elf Uhr lag er ruhig eine Cigarre rauchend auf dem
Kanapee. Von da ab hielt er es aber nicht mehr dort aus,
sondern gieng ein wenig ins Vorzimmer, als könne er dadurch
die Ankunft des Fräulein Bürstner beschleunigen. Er hatte
kein besonderes Verlangen nach ihr, er konnte sich nicht
einmal genau erinnern, wie sie aussah, aber nun wollte er
mit ihr reden und es reizte ihn, daß sie durch ihr spätes
Kommen auch noch in den Abschluß dieses Tages Unruhe und
Unordnung brachte. Sie war auch schuld daran, daß er heute
nicht zu abend gegessen und daß er den für heute
beabsichtigten Besuch bei Elsa unterlassen hatte. Beides
konnte er allerdings noch dadurch nachholen, daß er jetzt in
das Weinlokal gieng, in dem Elsa bedienstet war. Er wollte
es auch noch später nach der Unterredung mit Fräulein
Bürstner tun.

Es war halb zwölf vorüber, als jemand im Treppenhaus zu
hören war. K., der seinen Gedanken hingegeben im Vorzimmer,
so als wäre es sein eigenes Zimmer, laut auf und abgieng,
flüchtete hinter seine Tür. Es war Fräulein Bürstner, die
gekommen war. Fröstelnd zog sie, während sie die Tür
versperrte, einen seidenen Shawl um ihre schmalen Schultern
zusammen. Im nächsten Augenblick mußte sie in ihr Zimmer
gehn, in das K. gewiß um Mitternacht nicht eindringen
durfte; er mußte sie also jetzt ansprechen, hatte aber
unglücklicherweise versäumt, das elektrische Licht in seinem
Zimmer anzudrehn, so daß sein Vortreten aus dem dunklen
Zimmer den Anschein eines Überfalls hatte und wenigstens
sehr erschrecken mußte. In seiner Hilflosigkeit und da keine
Zeit zu verlieren war, flüsterte er durch den Türspalt:
?Fräulein Bürstner.? Es klang wie eine Bitte, nicht wie ein
Anruf. ?Ist jemand hier,? fragte Fräulein Bürstner und sah
sich mit großen Augen um. ?Ich bin es,? sagte K. und trat
vor. ?Ach Herr K.!? sagte Fräulein Bürstner lächelnd, ?Guten
Abend? und sie reichte ihm die Hand. ?Ich wollte ein paar
Worte mit Ihnen sprechen, wollen Sie mir das jetzt
erlauben?? ?Jetzt?? fragte Fräulein Bürstner, ?muß es jetzt
sein? Es ist ein wenig sonderbar, nicht?? ?Ich warte seit
neun Uhr auf Sie.? ?Nun ja, ich war im Teater, ich wußte
doch nichts von Ihnen.? ?Der Anlaß für das was ich Ihnen
sagen will hat sich erst heute ergeben.? ?So, nun ich habe
ja nichts grundsätzliches dagegen, außer daß ich zum
Hinfallen müde bin. Also kommen Sie auf paar Minuten in mein
Zimmer. Hier können wir uns auf keinen Fall unterhalten, wir
wecken ja alle und das wäre mir unseretwegen noch
unangenehmer als der Leute wegen. Warten Sie hier, bis ich
in meinem Zimmer angezündet habe, und drehn Sie dann hier
das Licht ab.? K. tat so, wartete dann aber noch, bis
Fräulein Bürstner ihn aus ihrem Zimmer nochmals leise
aufforderte zu kommen. ?Setzen Sie sich,? sagte sie und
zeigte auf die Ottomane, sie selbst blieb aufrecht am
Bettpfosten trotz der Müdigkeit, von der sie gesprochen
hatte; nicht einmal ihren kleinen, aber mit einer Überfülle
von Blumen geschmückten Hut legte sie ab. ?Was wollten Sie
also Ich bin wirklich neugierig.? Sie kreuzte leicht die
Beine. ?Sie werden vielleicht sagen,? begann K., ?daß die
Sache nicht so dringend war, um jetzt besprochen zu werden,
aber ?? ?Einleitungen überhöre ich immer,? sagte Fräulein
Bürstner. ?Das erleichtert meine Aufgabe,? sagte K. ?Ihr
Zimmer ist heute früh, gewissermaßen durch meine Schuld, ein
wenig in Unordnung gebracht worden, es geschah durch fremde
Leute gegen meinen Willen und doch wie gesagt durch meine
Schuld; dafür wollte ich um Entschuldigung bitten.? ?Mein
Zimmer?? fragte Fräulein Bürstner und sah statt des Zimmers,
K. prüfend an. ?Es ist so,? sagte K. und nun sahen sich
beide zum erstenmal in die Augen, ?die Art und Weise in der
es geschah, ist an sich keines Wortes wert.? ?Aber doch das
eigentlich Interessante,? sagte Fräulein Bürstner. ?Nein,?
sagte K. ?Nun,? sagte Fräulein Bürstner, ?ich will mich
nicht in Geheimnisse eindrängen, bestehen Sie darauf, daß es
uninteressant ist, so will ich auch nichts dagegen
einwenden. Die Entschuldigung um die Sie bitten gebe ich
Ihnen hiemit gern, besonders da ich keine Spur einer
Unordnung finden kann.? Sie machte, die flachen Hände tief
an die Hüften gelegt, einen Rundgang durch das Zimmer. Bei
der Matte mit den Photographien blieb sie stehn. ?Sehn Sie
doch,? rief sie, ?meine Photographien sind wirklich
durcheinandergeworfen. Das ist aber häßlich. Es ist also
jemand unberechtigter Weise in meinem Zimmer gewesen.? K.
nickte und verfluchte im stillen den Beamten Kaminer, der
seine öde sinnlose Lebhaftigkeit niemals zähmen konnte. ?Es
ist sonderbar,? sagte Fräulein Bürstner, ?daß ich gezwungen
bin, Ihnen etwas zu verbieten was Sie sich selbst verbieten
müßten, nämlich in meiner Abwesenheit mein Zimmer zu
betreten.? ?Ich erklärte Ihnen doch Fräulein,? sagte K. und
gieng auch zu den Photographien, ?daß nicht ich es war, der
sich an Ihren Photographien vergangen hat; aber da Sie mir
nicht glauben, so muß ich also eingestehn, daß die
Untersuchungskommission drei Bankbeamte mitgebracht hat, von
denen der eine, den ich bei nächster Gelegenheit aus der
Bank hinausbefördern werde, die Photographien wahrscheinlich
in die Hand genommen hat.? ?Ja es war eine
Untersuchungskommission hier,? fügte K. hinzu, da ihn das
Fräulein mit einem fragenden Blick ansah. ?Ihretwegen??
fragte das Fräulein. ?Ja,? antwortete K. ?Nein,? rief das
Fräulein und lachte. ?Doch,? sagte K., ?glauben Sie denn daß
ich schuldlos bin?? ?Nun schuldlos...,? sagte das Fräulein,
?ich will nicht gleich ein vielleicht folgenschweres Urteil
aussprechen, auch kenne ich Sie doch nicht, immerhin, es muß
doch schon ein schwerer Verbrecher sein, dem man gleich eine
Untersuchungskommission auf den Leib schickt. Da Sie aber
doch frei sind ? ich schließe wenigstens aus Ihrer Ruhe, daß
Sie nicht aus dem Gefängnis entlaufen sind ? so können Sie
doch kein solches Verbrechen begangen haben.? ?Ja,? sagte
K., ?aber die Untersuchungskommission kann doch eingesehen
haben, daß ich unschuldig bin oder doch nicht so schuldig
wie angenommen wurde.? ?Gewiß, das kann sein,? sagte
Fräulein Bürstner sehr aufmerksam. ?Sehn Sie,? sagte K.,
?Sie haben nicht viel Erfahrung in Gerichtssachen.? ?Nein
das habe ich nicht,? sagte Fräulein Bürstner, ?und habe es
auch schon oft bedauert, denn ich möchte alles wissen und
gerade Gerichtssachen interessieren mich ungemein. Das
Gericht hat eine eigentümliche Anziehungskraft, nicht Aber
ich werde in dieser Richtung meine Kenntnisse sicher
vervollständigen, denn ich trete nächsten Monat als
Kanzleikraft in ein Advokatenbureau ein.? ?Das ist sehr
gut,? sagte K., ?Sie werden mir dann in meinem Proceß ein
wenig helfen können.? ?Das könnte sein,? sagte Fräulein
Bürstner, ?warum denn nicht Ich verwende gern meine
Kenntnisse.? ?Ich meine es auch im Ernst,? sagte K., ?oder
zumindest in dem halben Ernst, in dem Sie es meinen. Um
einen Advokaten heranzuziehn, dazu ist die Sache doch zu
kleinlich, aber einen Ratgeber könnte ich gut brauchen.?
?Ja, aber wenn ich Ratgeber sein soll, müßte ich wissen, um
was es sich handelt,? sagte Fräulein Bürstner. ?Das ist eben
der Haken,? sagte K., ?das weiß ich selbst nicht.? ?Dann
haben Sie sich also einen Spaß aus mir gemacht,? sagte
Fräulein Bürstner übermäßig enttäuscht, ?es war höchst
unnötig sich diese späte Nachtzeit dazu auszusuchen.? Und
sie gieng von den Photographien weg, wo sie so lang
vereinigt gestanden waren. ?Aber nein Fräulein,? sagte K.,
?ich mache keinen Spaß. Daß Sie mir nicht glauben wollen!
Was ich weiß habe ich Ihnen schon gesagt. Sogar mehr als ich
weiß, denn es war gar keine Untersuchungskommission, ich
nenne es so weil ich keinen andern Namen dafür weiß. Es
wurde gar nichts untersucht, ich wurde nur verhaftet, aber
von einer Kommission.? Fräulein Bürstner saß auf der
Ottomane und lachte wieder: ?Wie war es denn?? fragte sie.
?Schrecklich,? sagte K. aber er dachte jetzt gar nicht
daran, sondern war ganz vom Anblick des Fräulein Bürstner
ergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stützte ? der
Elbogen ruhte auf dem Kissen der Ottomane ? während die
andere Hand langsam die Hüfte strich. ?Das ist zu
allgemein,? sagte Fräulein Bürstner. ?Was ist zu allgemein??
fragte K. Dann erinnerte er sich und fragte: ?Soll ich Ihnen
zeigen, wie es gewesen ist? Er wollte Bewegung machen und
doch nicht weggehn. ?Ich bin schon müde,? sagte Fräulein
Bürstner. ?Sie kamen so spät,? sagte K. ?Nun endet es damit,
daß ich Vorwürfe bekomme, es ist auch berechtigt, denn ich
hätte Sie nicht mehr hereinlassen sollen. Notwendig war es
ja auch nicht, wie sich gezeigt hat.? ?Es war notwendig, das
werden Sie erst jetzt sehn,? sagte K. ?Darf ich das
Nachttischchen von Ihrem Bett herrücken?? ?Was fällt Ihnen
ein?? sagte Fräulein Bürstner, ?das dürfen Sie natürlich
nicht!? ?Dann kann ich es Ihnen nicht zeigen,? sagte K.
aufgeregt, als füge man ihm dadurch einen unermeßlichen
Schaden zu. ?Ja wenn Sie es zur Darstellung brauchen, dann
rücken Sie das Tischchen nur ruhig fort,? sagte Fräulein
Bürstner und fügte nach einem Weilchen mit schwächerer
Stimme hinzu: ?Ich bin so müde, daß ich mehr erlaube, als
gut ist.? K. stellte das Tischchen in die Mitte des Zimmers
und setzte sich dahinter. ?Sie müssen sich die Verteilung
der Personen richtig vorstellen, es ist sehr interessant.
Ich bin der Aufseher, dort auf dem Koffer sitzen zwei
Wächter, bei den Photographien stehn drei junge Leute. An
der Fensterklinke hängt, was ich nur nebenbei erwähne, eine
weiße Bluse. Und jetzt fängt es an. Ja, ich vergesse mich,
die wichtigste Person, also ich stehe hier vor dem
Tischchen. Der Aufseher sitzt äußerst bequem, die Beine
übereinandergelegt, den Arm hier über die Lehne
hinunterhängend, ein Lümmel sondergleichen. Und jetzt fängt
es also wirklich an. Der Aufseher ruft als ob er mich wecken
müßte, er schreit geradezu, ich muß leider, wenn ich es
Ihnen begreiflich machen will, auch schreien, es ist
übrigens nur mein Name, den er so schreit.? Fräulein
Bürstner die lachend zuhörte legte den Zeigefinger an den
Mund, um K. am Schreien zu hindern, aber es war zu spät, K.
war zu sehr in der Rolle, er rief langsam ?Josef K.!?,
übrigens nicht so laut wie er gedroht hatte, aber doch so
daß sich der Ruf, nachdem er plötzlich ausgestoßen war, erst
allmählich im Zimmer zu verbreiten schien.

Da klopfte es an die Tür des Nebenzimmers einigemal, stark,
kurz und regelmäßig. Fräulein Bürstner erbleichte und legte
die Hand aufs Herz. K. erschrak deshalb besonders stark,
weil er noch ein Weilchen ganz unfähig gewesen war, an etwas
anderes zu denken, als an die Vorfälle des Morgens und an
das Mädchen, dem er sie vorführte. Kaum hatte er sich gefaßt
sprang er zu Fräulein Bürstner und nahm ihre Hand. ?Fürchten
Sie nichts,? flüsterte er, ?ich werde alles in Ordnung
bringen. Wer kann es aber sein? Hier nebenan ist doch nur
das Wohnzimmer, in dem niemand schläft.? ?Doch,? flüsterte
Fräulein Bürstner an K.?s Ohr, ?seit gestern schläft hier
ein Neffe von Frau Grubach, ein Hauptmann. Es ist gerade
kein anderes Zimmer frei. Auch ich habe daran vergessen. Daß
Sie so schreien mußten! Ich bin unglücklich darüber.? ?Dafür
ist gar kein Grund,? sagte K. und küßte, als sie jetzt auf
das Kissen zurücksank, ihre Stirn. ?Weg, weg,? sagte sie und
richtete sich eilig wieder auf, ?gehn Sie doch, gehn Sie
doch. Was wollen Sie, er horcht doch an der Tür, er hört
doch alles. Wie Sie mich quälen!? ?Ich gehe nicht früher,?
sagte K., ?bis Sie ein wenig beruhigt sind. Kommen Sie in
die andere Ecke des Zimmers, dort kann er uns nicht hören.?
Sie ließ sich dorthin führen. ?Sie überlegen nicht,? sagte
er, ?daß es sich zwar um eine Unannehmlichkeit für Sie
handelt, aber durchaus nicht um eine Gefahr. Sie wissen wie
mich Frau Grubach, die in dieser Sache doch entscheidet,
besonders da der Hauptmann ihr Neffe ist, geradezu verehrt
und alles was ich sage unbedingt glaubt. Sie ist auch im
übrigen von mir abhängig, denn sie hat eine größere Summe
von mir geliehn. Jeden Ihrer Vorschläge über eine Erklärung
für unser Beisammen nehme ich an, wenn er nur ein wenig
zweckentsprechend ist und verbürge mich Frau Grubach dazu zu
bringen, die Erklärung nicht nur vor der Öffentlichkeit,
sondern wirklich und aufrichtig zu glauben. Mich müssen Sie
dabei in keiner Weise schonen. Wollen Sie verbreitet haben,
daß ich Sie überfallen hat, so wird Frau Grubach in diesem
Sinne unterrichtet werden und wird es glauben, ohne das
Vertrauen zu mir zu verlieren, so sehr hängt sie an mir.?
Fräulein Bürstner sah still und ein wenig zusammengesunken
vor sich auf den Boden. ?Warum sollte Frau Grubach nicht
glauben, daß ich Sie überfallen habe,? fügte K. hinzu. Vor
sich sah er ihr Haar, geteiltes, niedrig gebauschtes, fest
zusammengehaltenes rötliches Haar. Er glaubte sie werde ihm
den Blick zuwenden, aber sie sagte in unveränderter Haltung:
?Verzeihen Sie, ich bin durch das plötzliche Klopfen so
erschreckt worden, nicht so sehr durch die Folgen, die die
Anwesenheit des Hauptmanns haben könnte. Es war so still
nach Ihrem Schrei und da klopfte es, deshalb bin ich so
erschrocken, ich saß auch in der Nähe der Tür, es klopfte
fast neben mir. Für Ihre Vorschläge danke ich, aber ich
nehme sie nicht an. Ich kann für alles, was in meinem Zimmer
geschieht die Verantwortung tragen undzwar gegenüber jedem.
Ich wundere mich, daß Sie nicht merken, was für eine
Beleidigung für mich in Ihren Vorschlägen liegt, neben den
guten Absichten natürlich, die ich gewiß anerkenne. Aber nun
gehn Sie, lassen Sie mich allein, ich habe es jetzt noch
nötiger als früher. Aus den paar Minuten, um die Sie gebeten
haben, ist nun eine halbe Stunde und mehr geworden.? K.
faßte sie bei der Hand und dann beim Handgelenk: ?Sie sind
mir aber nicht böse?? sagte er. Sie streifte seine Hand ab
und antwortete: ?Nein, nein, ich bin niemals und niemandem
böse.? Er faßte wieder nach ihrem Handgelenk, sie duldete es
jetzt und führte ihn so zur Tür. Er war fest entschlossen
wegzugehn. Aber vor der Tür, als hätte er nicht erwartet,
hier eine Tür zu finden, stockte er, diesen Augenblick
benützte Fräulein Bürstner sich loszumachen, die Tür zu
öffnen, ins Vorzimmer zu schlüpfen und von dort aus K. leise
zu sagen: ?Nun kommen Sie doch, bitte. Sehn Sie? ? sie
zeigte auf die Tür des Hauptmanns, unter der ein Lichtschein
hervorkam ? ?er hat angezündet und unterhält sich über uns.?
?Ich komme schon,? sagte K., lief vor, faßte sie, küßte sie
auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein
durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene
Quellwasser hinjagt. Schließlich küßte er sie auf den Hals,
wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen.
Ein Geräusch aus dem Zimmer des Hauptmanns ließ ihn
aufschauen. ?Jetzt werde ich gehn,? sagte er, er wollte
Fräulein Bürstner beim Taufnamen nennen, wußte ihn aber
nicht. Sie nickte müde, überließ ihm schon halb abgewendet
die Hand zum Küssen, als wisse sie nichts davon und gieng
gebückt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag K. in seinem Bett. Er
schlief sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er noch
ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war damit
zufrieden, wunderte sich aber, daß er nicht noch zufriedener
war; wegen des Hauptmanns machte er sich für Fräulein
Bürstner ernstliche Sorgen.

Erste Untersuchung

K. war telephonisch verständigt worden, daß am nächsten
Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Angelegenheit
stattfinden würde. Man machte ihn darauf aufmerksam, daß
diese Untersuchungen nun regelmäßig, wenn auch vielleicht
nicht jede Woche so doch häufiger einander folgen würden. Es
liege einerseits im allgemeinen Interesse, den Proceß rasch
zu Ende zu führen, anderseits aber müssen die Untersuchungen
in jeder Hinsicht gründlich sein und doch wegen der damit
verbundenen Anstrengung niemals allzulange dauern. Deshalb
habe man den Ausweg dieser rasch aufeinanderfolgenden aber
kurzen Untersuchungen gewählt. Die Bestimmung des Sonntags
als Untersuchungstag habe man deshalb vorgenommen, um K. in
seiner beruflichen Arbeit nicht zu stören. Man setze voraus,
daß er damit einverstanden sei, sollte er einen andern
Termin wünschen, so würde man ihm so gut es gienge
entgegenkommen. Die Untersuchungen wären beispielsweise auch
in der Nacht möglich, aber da sei wohl K. nicht genug
frisch. Jedenfalls werde man es, solange K. nichts einwende,
beim Sonntag belassen. Es sei selbstverständlich, daß er
bestimmt erscheinen müsse, darauf müsse man ihn wohl nicht
erst aufmerksam machen. Es wurde ihm die Nummer des Hauses
genannt, in dem er sich einfinden solle, es war ein Haus in
einer entlegenen Vorstadtstraße, in der K. noch niemals
gewesen war.

K. hängte, als er diese Meldung erhalten hatte, ohne zu
antworten, den Hörer an; er war gleich entschlossen, Sonntag
zu gehn, es war gewiß notwendig, der Proceß kam in Gang und
er mußte sich dem entgegenstellen, diese erste Untersuchung
sollte auch die letzte sein. Er stand noch nachdenklich beim
Apparat, da hörte er hinter sich die Stimme des
Direktor-Stellvertreters, der telephonieren wollte, dem aber
K. den Weg verstellte. ?Schlechte Nachrichten? fragte der
Direktor-Stellvertreter leichthin, nicht um etwas zu
erfahren, sondern um K. vom Apparat wegzubringen. ?Nein,
nein,? sagte K., trat beiseite, gieng aber nicht weg. Der
Direktor-Stellvertreter nahm den Hörer und sagte, während er
auf die telephonische Verbindung wartete, über das Hörrohr
hinweg: ?Eine Frage, Herr K.? Möchten Sie mir Sonntag früh
das Vergnügen machen, eine Partie auf meinem Segelboot
mitzumachen? Es wird eine größere Gesellschaft sein, gewiß
auch Ihre Bekannten darunter. Unter anderem Staatsanwalt
Hasterer. Wollen Sie kommen? Kommen Sie doch!? K. versuchte
darauf achtzugeben, was der Direktor-Stellvertreter sagte.
Es war nicht unwichtig für ihn, denn diese Einladung des
Direktor-Stellvertreters, mit dem er sich niemals sehr gut
vertragen hatte, bedeutete einen Versöhnungsversuch von
dessen Seite und zeigte, wie wichtig K. in der Bank geworden
war und wie wertvoll seine Freundschaft oder wenigstens
seine Unparteilichkeit dem zweithöchsten Beamten der Bank
erschien. Diese Einladung war eine Demütigung des
Direktor-Stellvertreters, mochte sie auch nur in Erwartung
der telephonischen Verbindung über das Hörrohr hinweg gesagt
sein. Aber K. mußte eine zweite Demütigung folgen lassen, er
sagte: ?Vielen Dank! Aber ich habe leider Sonntag keine
Zeit, ich habe schon eine Verpflichtung.? ?Schade,? sagte
der Direktor-Stellvertreter und wandte sich dem
telephonischen Gespräch zu, das gerade hergestellt worden
war. Es war kein kurzes Gespräch, aber K. blieb in seiner
Zerstreutheit die ganze Zeit über neben dem Apparat stehn.
Erst als der Direktor-Stellvertreter abläutete, erschrak er
und sagte, um sein unnützes Dastehn nur ein wenig zu
entschuldigen: ?Ich bin jetzt antelephoniert worden, ich
möchte irgendwo hinkommen, aber man hat vergessen, mir zu
sagen zu welcher Stunde.? ?Fragen Sie doch noch einmal
nach,? sagte der Direktor-Stellvertreter. ?Es ist nicht so
wichtig,? sagte K., trotzdem dadurch seine frühere schon an
sich mangelhafte Entschuldigung noch weiter zerfiel. Der
Direktor-Stellvertreter sprach noch im Weggehn über andere
Dinge, K. zwang sich auch zu antworten, dachte aber
hauptsächlich daran, daß es am besten sein werde, Sonntag um
neun Uhr vormittag hinzukommen, da zu dieser Stunde an
Werketagen alle Gerichte zu arbeiten anfangen.

Sonntag war trübes Wetter, K. war sehr ermüdet, da er wegen
einer Stammtischfeierlichkeit bis spät in die Nacht im
Gasthaus geblieben war, er hätte fast verschlafen. Eilig,
ohne Zeit zu haben, zu überlegen und die verschiedenen
Pläne, die er während der Woche ausgedacht hatte,
zusammenzustellen, kleidete er sich an und lief, ohne zu
frühstücken in die ihm bezeichnete Vorstadt. Eigentümlicher
Weise traf er, trotzdem er wenig Zeit hatte umherzublicken,
die drei an seiner Angelegenheit beteiligten Beamten,
Rabensteiner, Kullych und Kaminer. Die ersternzwei fuhren in
einer Elektrischen quer über K.?s Weg, Kaminer aber saß auf
der Terasse eines Kafeehauses und beugte sich gerade als K.
vorüberkam, neugierig über die Brüstung. Alle sahen ihm wohl
nach und wunderten sich, wie ihr Vorgesetzter lief; es war
irgendein Trotz, der K. davon abgehalten hatte zu fahren, er
hatte Abscheu vor jeder, selbst der geringsten fremden Hilfe
in dieser seiner Sache, auch wollte er niemanden in Anspruch
nehmen und dadurch selbst nur im allerentferntesten
einweihen, schließlich hatte er aber auch nicht die
geringste Lust sich durch allzugroße Pünktlichkeit vor der
Untersuchungskommission zu erniedrigen. Allerdings lief er
jetzt, um nur möglichst um neun Uhr einzutreffen, trotzdem
er nicht einmal für eine bestimmte Stunde bestellt war.

Er hatte gedacht das Haus schon von der Ferne an irgendeinem
Zeichen, das er sich selbst nicht genau vorgestellt hatte,
oder an einer besondern Bewegung vor dem Eingang schon von
weitem zu erkennen. Aber die Juliusstraße, in der es sein
sollte und an deren Beginn K. einen Augenblick lang stehen
blieb, enthielt auf beiden Seiten fast ganz einförmige
Häuser, hohe graue von armen Leuten bewohnte Miethäuser.
Jetzt am Sonntagmorgen waren die meisten Fenster besetzt,
Männer in Hemdärmeln lehnten dort und rauchten oder hielten
kleine Kinder vorsichtig und zärtlich an den Fensterrand.
Andere Fenster waren hoch mit Bettzeug angefüllt, über dem
flüchtig der zerraufte Kopf einer Frau erschien. Man rief
einander über die Gasse zu, ein solcher Zuruf bewirkte
gerade über K. ein großes Gelächter. Regelmäßig verteilt
befanden sich in der langen Straße kleine unter dem
Straßenniveau liegende, durch paar Treppen erreichbare Läden
mit verschiedenen Lebensmitteln. Dort gingen Frauen aus und
ein oder standen auf den Stufen und plauderten. Ein
Obsthändler, der seine Waren zu den Fenstern hinauf empfahl,
hätte ebenso unaufmerksam wie K. mit seinem Karren diesen
fast niedergeworfen. Eben begann ein in bessern
Stadtvierteln ausgedientes Grammophon mörderisch zu spielen.

K. gieng tiefer in die Gasse hinein, langsam, als hätte er
nun schon Zeit oder als sähe ihn der Untersuchungsrichter
aus irgendeinem Fenster und wisse also daß sich K.
eingefunden habe. Es war kurz nach neun. Das Haus lag
ziemlich weit, es war fast ungewöhnlich ausgedehnt,
besonders die Toreinfahrt war hoch und weit. Sie war
offenbar für Lastfuhren bestimmt, die zu den verschiedenen
Warenmagazinen gehörten, die, jetzt versperrt, den großen
Hof umgaben und Aufschriften von Firmen trugen, von denen K.
einige aus dem Bankgeschäft kannte. Gegen seine sonstige
Gewohnheit sich mit allen diesen Äußerlichkeiten genauer
befassend, blieb er auch ein wenig am Eingang des Hofes
stehn. In seiner Nähe auf einer Kiste saß ein bloßfüßiger
Mann und las eine Zeitung. Auf einem Handkarren schaukelten
zwei Jungen. Vor einer Pumpe stand ein schwaches junges
Mädchen in einer Nachtjoppe und blickte, während das Wasser
in ihre Kanne strömte, auf K. hin. In einer Ecke des Hofes
wurde zwischen zwei Fenstern ein Strick gespannt, auf dem
die zum Trocknen bestimmte Wäsche schon hieng. Ein Mann
stand unten und leitete die Arbeit durch ein paar Zurufe.

K. wandte sich der Treppe zu, um zum Untersuchungszimmer zu
kommen, stand dann aber wieder still, denn außer dieser
Treppe sah er im Hof noch drei verschiedene Treppenaufgänge
und überdies schien ein kleiner Durchgang am Ende des Hofes
noch in einen zweiten Hof zu führen. Er ärgerte sich daß man
ihm die Lage des Zimmers nicht näher bezeichnet hatte, es
war doch eine sonderbare Nachlässigkeit oder
Gleichgültigkeit, mit der man ihn behandelte, er
beabsichtigte, das sehr laut und deutlich festzustellen.
Schließlich stieg er doch die erste Treppe hinauf und
spielte in Gedanken mit einer Erinnerung an den Ausspruch
des Wächters Willem, daß das Gericht von der Schuld
angezogen werde, woraus eigentlich folgte, daß das
Untersuchungszimmer an der Treppe liegen mußte, die K.
zufällig wählte.

Er störte im Hinaufgehn viele Kinder, die auf der Treppe
spielten und ihn, wenn er durch ihre Reihe schritt, böse
ansahn. ?Wenn ich nächstens wieder hergehen sollte,? sagte
er sich, ?muß ich entweder Zuckerwerk mitnehmen, um sie zu
gewinnen oder den Stock um sie zu prügeln.? Knapp vor dem
ersten Stockwerk mußte er sogar ein Weilchen warten, bis
eine Spielkugel ihren Weg vollendet hatte, zwei kleine
Jungen mit den verzwickten Gesichtern erwachsener Strolche
hielten ihn indessen an den Beinkleidern; hätte er sie
abschütteln wollen, hätte er ihnen wehtun müssen und er
fürchtete ihr Geschrei.

Im ersten Stockwerk begann die eigentliche Suche. Da er doch
nicht nach der Untersuchungskommission fragen konnte, erfand
er einen Tischler Lanz ? der Name fiel ihm ein weil der
Hauptmann, der Neffe der Frau Grubach, so hieß ? und wollte
nun in allen Wohnungen nachfragen, ob hier ein Tischler Lanz
wohne, um so die Möglichkeit zu bekommen, in die Zimmer
hineinzusehn. Es zeigte sich aber, daß das meistens ohne
weiters möglich war, denn fast alle Türen standen offen und
die Kinder liefen ein und aus. Es waren in der Regel kleine
einfenstrige Zimmer, in denen auch gekocht wurde. Manche
Frauen hielten Säuglinge im Arm und arbeiteten mit der
freien Hand auf dem Herd. Halbwüchsige scheinbar nur mit
Schürzen bekleidete Mädchen liefen am fleißigsten hin und
her. In allen Zimmern standen die Betten noch in Benützung,
es lagen dort Kranke oder noch Schlafende oder Leute die
sich dort in Kleidern streckten. An den Wohnungen, deren
Türen geschlossen waren, klopfte K. an und fragte, ob hier
ein Tischler Lanz wohne. Meistens öffnete eine Frau, hörte
die Frage an und wandte sich ins Zimmer zu jemanden der sich
aus dem Bett erhob. ?Der Herr frägt ob ein Tischler Lanz
hier wohnt.? ?Tischler Lanz?? fragte der aus dem Bett. ?Ja,?
sagte K., trotzdem sich hier die Untersuchungskommission
zweifellos nicht befand und daher seine Aufgabe beendet war.
Viele glaubten es liege K. sehr viel daran den Tischler Lanz
zu finden, dachten lange nach, nannten einen Tischler, der
aber nicht Lanz hieß, oder einen Namen, der mit Lanz eine
ganz entfernte Ähnlichkeit hatte, oder sie fragten bei
Nachbarn oder begleiteten K. zu einer weit entfernten Tür,
wo ihrer Meinung nach ein derartiger Mann möglicherweise in
Aftermiete wohne oder wo jemand sei der bessere Auskunft als
sie selbst geben könne. Schließlich mußte K. kaum mehr
selbst fragen, sondern wurde auf diese Weise durch die
Stockwerke gezogen. Er bedauerte seinen Plan, der ihm zuerst
so praktisch erschienen war. Vor dem fünften Stockwerk
entschloß er sich die Suche aufzugeben, verabschiedete sich
von einem freundlichen jungen Arbeiter, der ihn weiter
hinaufführen wollte, und gieng hinunter. Dann aber ärgerte
ihn wieder das Nutzlose dieser ganzen Unternehmung, er gieng
nochmals zurück und klopfte an die erste Tür des fünften
Stockwerks. Das erste was er in dem kleinen Zimmer sah, war
eine große Wanduhr, die schon zehn Uhr zeigte. ?Wohnt ein
Tischler Lanz hier?? fragte er. ?Bitte,? sagte eine junge
Frau mit schwarzen leuchtenden Augen, die gerade in einem
Kübel Kinderwäsche wusch, und zeigte mit der nassen Hand auf
die offene Tür des Nebenzimmers.

K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedränge der
verschiedensten Leute ? niemand kümmerte sich um den
Eintretenden ? füllte ein mittelgroßes zweifenstriges
Zimmer, das knapp an der Decke von einer Galerie umgeben
war, die gleichfalls vollständig besetzt war und wo die
Leute nur gebückt stehen konnten und mit Kopf und Rücken an
die Decke stießen. K., dem die Luft zu dumpf war, trat
wieder hinaus und sagte zu der jungen Frau, die ihn
wahrscheinlich falsch verstanden hatte: ?Ich habe nach einem
Tischler, einem gewissen Lanz gefragt?? ?Ja,? sagte die
Frau, ?gehn Sie bitte hinein.? K. hätte ihr vielleicht nicht
gefolgt, wenn die Frau nicht auf ihn zugegangen wäre, die
Türklinke ergriffen und gesagt hätte: ?Nach Ihnen muß ich
schließen, es darf niemand mehr hinein.? ?Sehr vernünftig,?
sagte K., ?es ist aber schon jetzt zu voll.? Dann gieng er
aber doch wieder hinein.

Zwischen zwei Männern hindurch, die sich unmittelbar bei der
Tür unterhielten ? der eine machte mit beiden weit
vorgestreckten Händen die Bewegung des Geldaufzählens, der
andere sah ihm scharf in die Augen ? faßte eine Hand nach K.
Es war ein kleiner rotbäckiger Junge. ?Kommen Sie, kommen
Sie,? sagte er. K. ließ sich von ihm führen, es zeigte sich,
daß in dem durcheinanderwimmelnden Gedränge doch ein
schmaler Weg frei war, der möglicherweise zwei Parteien
schied; dafür sprach auch daß K. in den ersten Reihen rechts
und links kaum ein ihm zugewendetes Gesicht sah, sondern nur
die Rücken von Leuten, welche ihre Reden und Bewegungen nur
an Leute ihrer Partei richteten. Die meisten waren schwarz
angezogen, in alten lange und lose hinunterhängenden
Feiertagsröcken. Nur diese Kleidung beirrte K., sonst hätte
er das ganze als eine politische Bezirksversammlung
angesehn.

Am andern Ende des Saales, zu dem K. geführt wurde, stand
auf einem sehr niedrigen gleichfalls überfüllten Podium ein
kleiner Tisch der Quere nach aufgestellt und hinter ihm,
nahe am Rand des Podiums, saß ein kleiner dicker
schnaufender Mann, der sich gerade mit einem hinter ihm
Stehenden ? dieser hatte den Elbogen auf die Sessellehne
gestützt und die Beine gekreuzt ? unter großem Gelächter
unterhielt. Manchmal warf er den Arm in die Luft, als
karikiere er jemanden. Der Junge, der K. führte, hatte Mühe
seine Meldung vorzubringen. Zweimal hatte er schon auf den
Fußspitzen stehend etwas auszurichten versucht, ohne von dem
Mann oben beachtet worden zu sein. Erst als einer der Leute
oben auf dem Podium auf den Jungen aufmerksam machte, wandte
sich der Mann ihm zu und hörte heruntergebeugt seinen leisen
Bericht an. Dann zog er seine Uhr und sah schnell nach K.
hin. ?Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten
erscheinen sollen,? sagte er. K. wollte etwas antworten,
aber er hatte keine Zeit, denn kaum hatte der Mann
ausgesprochen, erhob sich in der rechten Saalhälfte ein
allgemeines Murren. ?Sie hätten vor einer Stunde und fünf
Minuten erscheinen sollen,? wiederholte nun der Mann mit
erhobener Stimme und sah nun auch schnell in den Saal
hinunter. Sofort wurde auch das Murren stärker und verlor
sich, da der Mann nichts mehr sagte, nur allmählich. Es war
jetzt im Saal viel stiller als bei K.?s Eintritt. Nur die
Leute auf der Gallerie hörten nicht auf, ihre Bemerkungen zu
machen. Sie schienen soweit man oben in dem Halbdunkel,
Dunst und Staub etwas unterscheiden konnte schlechter
angezogen zu sein, als die unten. Manche hatten Pölster
mitgebracht, die sie zwischen den Kopf und die Zimmerdecke
gelegt hatten, um sich nicht wundzudrücken.

K. hatte sich entschlossen mehr zu beobachten als zu reden,
infolgedessen verzichtete er auf die Verteidigung wegen
seines angeblichen Zuspätkommens und sagte bloß: ?Mag ich zu
spät gekommen sein, jetzt bin ich hier.? Ein
Beifallklatschen wieder aus der rechten Saalhälfte folgte.
?Leicht zu gewinnende Leute,? dachte K. und war nur gestört
durch die Stille in der linken Saalhälfte, die gerade hinter
ihm lag und aus der sich nur ganz vereinzeltes
Händeklatschen erhoben hatte. Er dachte nach, was er sagen
könnte, um alle auf einmal oder wenn das nicht möglich sein
sollte, wenigstens zeitweilig auch die andern zu gewinnen.

?Ja,? sagte der Mann, ?aber ich bin nicht mehr verpflichtet,
Sie jetzt zu verhören? ? wieder das Murren, diesmal aber
mißverständlich, denn der Mann fuhr, indem er den Leuten mit
der Hand abwinkte, fort ? ?ich will es jedoch ausnahmsweise
heute noch tun. Eine solche Verspätung darf sich aber nicht
mehr wiederholen. Und nun treten Sie vor!? Irgendjemand
sprang vom Podium herunter, so daß für K. ein Platz
freiwurde, auf den er hinaufstieg. Er stand eng an den Tisch
gedrückt, das Gedränge hinter ihm war so groß, daß er ihm
Widerstand leisten mußte, wollte er nicht den Tisch des
Untersuchungsrichters und vielleicht auch diesen selbst vom
Podium hinunterstoßen.

Der Untersuchungsrichter kümmerte sich aber nicht darum,
sondern saß genug bequem auf seinem Sessel und griff,
nachdem er dem Mann hinter ihm ein abschließendes Wort
gesagt hatte, nach einem kleinen Anmerkungsbuch, dem
einzigen Gegenstand auf seinem Tisch. Es war schulheftartig,
alt, durch vieles Blättern ganz aus der Form gebracht.
?Also,? sagte der Untersuchungsrichter, blätterte in dem
Heft und wendete sich im Tone einer Feststellung an K.: ?Sie
sind Zimmermaler?? ?Nein,? sagte K., ?sondern erster
Prokurist einer großen Bank.? Dieser Antwort folgte bei der
rechten Partei unten ein Gelächter, das so herzlich war, daß
K. mitlachen mußte. Die Leute stützten sich mit den Händen
auf ihre Knie und schüttelten sich wie unter schweren
Hustenanfällen. Es lachten sogar einzelne auf der Gallerie.
Der ganz böse gewordene Untersuchungsrichter, der
wahrscheinlich gegen die Leute unten machtlos war, suchte
sich an der Gallerie zu entschädigen, sprang auf, drohte der
Gallerie und seine sonst wenig auffallenden Augenbrauen
drängten sich buschig schwarz und groß über seinen Augen.

Die linke Saalhälfte war aber noch immer still, die Leute
standen dort in Reihen, hatten ihre Gesichter dem Podium
zugewendet und hörten den Worten die oben gewechselt wurden
ebenso ruhig zu wie dem Lärm der andern Partei, sie duldeten
sogar, daß einzelne aus ihren Reihen mit der andern Partei
hie und da gemeinsam vorgiengen. Die Leute der linken
Partei, die übrigens weniger zahlreich war, mochten im
Grunde ebenso unbedeutend sein wie die der rechten Partei,
aber die Ruhe ihres Verhaltens ließ sie bedeutungsvoller
erscheinen. Als K. jetzt zu reden begann, war er überzeugt,
in ihrem Sinne zu sprechen.

?Ihre Frage Herr Untersuchungsrichter ob ich Zimmermaler bin
? vielmehr Sie haben gar nicht gefragt, sondern es mir auf
den Kopf zugesagt ? ist bezeichnend für die ganze Art des
Verfahrens, das gegen mich geführt wird. Sie können
einwenden, daß es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben
sehr Recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es
als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also für den
Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermaßen. Man kann
sich nicht anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es
überhaupt beachten will. Ich sage nicht, daß es ein
lüderliches Verfahren ist, aber ich möchte Ihnen diese
Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.?

K. unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er
gesagt hatte, war scharf, schärfer als er es beabsichtigt
hatte, aber doch richtig. Es hätte Beifall hier oder dort
verdient, es war jedoch alles still, man wartete offenbar
gespannt auf das Folgende, es bereitete sich vielleicht in
der Stille ein Ausbruch vor, der allem ein Ende machen
würde. Störend war es, daß sich jetzt die Tür am Saalende
öffnete, die junge Wäscherin, die ihre Arbeit wahrscheinlich
beendet hatte, eintrat und trotz aller Vorsicht die sie
aufwendete, einige Blicke auf sich zog. Nur der
Untersuchungsrichter machte K. unmittelbare Freude, denn er
schien von den Worten sofort getroffen zu werden. Er hatte
bisher stehend zugehört, denn er war von K.?s Ansprache
überrascht worden, während er sich für die Gallerie
aufgerichtet hatte. Jetzt in der Pause setzte er sich
allmählich als sollte es nicht bemerkt werden.
Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigen nahm er wieder
das Heftchen vor.

?Es hilft nichts,? fuhr K. fort, ?auch Ihr Heftchen Herr
Untersuchungsrichter bestätigt was ich sage.? Zufrieden
damit, nur seine ruhigen Worte in der fremden Versammlung zu
hören, wagte es K. sogar, kurzerhand das Heft dem
Untersuchungsrichter wegzunehmen und es mit den
Fingerspitzen, als scheue er sich davor, an einem mittleren
Blatte hochzuheben, so daß beiderseits die engbeschriebenen
fleckigen, gelbrandigen Blätter hinunterhiengen. ?Das sind
die Akten des Untersuchungsrichters,? sagte er und ließ das
Heft auf den Tisch hinunterfallen. ?Lesen Sie darin ruhig
weiter Herr Untersuchungsrichter, vor diesem Schuldbuch
fürchte ich mich wahrhaftig nicht, trotzdem es mir
unzugänglich ist, denn ich kann es nur mit zwei
Fingerspitzen anfassen.? Es konnte nur ein Zeichen tiefer
Demütigung sein oder es mußte zumindest so aufgefaßt werden,
daß der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf
den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in Ordnung zu
bringen suchte und es wieder vornahm, um darin zu lesen.

Die Gesichter der Leute in der ersten Reihe waren so
gespannt auf K. gerichtet, daß er ein Weilchen lang zu ihnen
hinuntersah. Es waren durchwegs ältere Männer, einige waren
weißbärtig. Waren vielleicht sie die Entscheidenden, die die
ganze Versammlung beeinflussen konnten, welche auch durch
die Demütigung des Untersuchungsrichters sich nicht aus der
Regungslosigkeit bringen ließ, in welche sie seit K.?s Rede
versunken war.

?Was mir geschehen ist,? fuhr K. fort etwas leiser als
früher und suchte immer wieder die Gesichter der ersten
Reihe ab, was seiner Rede einen etwas fahrigen Ausdruck gab,
?was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und
als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer
nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens wie es gegen
viele geübt wird. Für diese stehe ich hier ein, nicht für
mich.?

Er hatte unwillkürlich seine Stimme gehoben. Irgendwo
klatschte jemand mit erhobenen Händen und rief: ?Bravo!
Warum denn nicht? Bravo! Und wieder Bravo!? Die in der
ersten Reihe griffen hie und da in ihre Bärte, keiner kehrte
sich wegen des Ausrufs um. Auch K. maß ihm keine Bedeutung
bei, war aber doch aufgemuntert; er hielt es jetzt gar nicht
mehr für nötig, daß alle Beifall klatschten, es genügte wenn
die Allgemeinheit über die Sache nachzudenken begann und nur
manchmal einer durch Überredung gewonnen wurde.

?Ich will nicht Rednererfolg,? sagte K. aus dieser
Überlegung heraus, ?er dürfte mir auch nicht erreichbar
sein. Der Herr Untersuchungsrichter spricht wahrscheinlich
viel besser, es gehört ja zu seinem Beruf. Was ich will, ist
nur die öffentliche Besprechung eines öffentlichen
Mißstandes. Hören Sie: Ich bin vor etwa zehn Tagen verhaftet
worden, über die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich,
aber das gehört jetzt nicht hierher. Ich wurde früh im Bett
überfallen, vielleicht hatte man ? es ist nach dem was der
Untersuchungsrichter sagte nicht ausgeschlossen ? den Befehl
irgendeinen Zimmermaler der ebenso unschuldig ist, wie ich
zu verhaften, aber man wählte mich. Das Nebenzimmer war von
zwei groben Wächtern besetzt. Wenn ich ein gefährlicher
Räuber wäre, hätte man nicht bessere Vorsorge treffen
können. Diese Wächter waren überdies demoralisiertes
Gesindel, sie schwätzten mir die Ohren voll, sie wollten
sich bestechen lassen, sie wollten mir unter Vorspiegelungen
Wäsche und Kleider herauslocken, sie wollten Geld, um mir
angeblich ein Frühstück zu bringen, nachdem sie mein eigenes
Frühstück vor meinen Augen schamlos aufgegessen hatten.
Nicht genug daran. Ich wurde in ein drittes Zimmer vor den
Aufseher geführt. Es war das Zimmer einer Dame die ich sehr
schätze und ich mußte zusehn, wie dieses Zimmer meinetwegen
aber ohne meine Schuld durch die Anwesenheit der Wächter und
des Aufsehers gewissermaßen verunreinigt wurde. Es war nicht
leicht ruhig zu bleiben. Es gelang mir aber und ich fragte
den Aufseher vollständig ruhig ? wenn er hier wäre, müßte er
es bestätigen ? warum ich verhaftet sei. Was antwortete nun
dieser Aufseher den ich jetzt noch vor mir sehe, wie er auf
dem Sessel der erwähnten Dame als eine Darstellung des
stumpfsinnigsten Hochmuts sitzt? Meine Herren, er antwortete
im Grunde nichts, vielleicht wußte er wirklich nichts, er
hatte mich verhaftet und war damit zufrieden. Er hat sogar
noch ein übriges getan und in das Zimmer jener Dame drei
niedrige Angestellte meiner Bank gebracht, die sich damit
beschäftigten, Photographien, Eigentum der Dame, zu betasten
und in Unordnung zu bringen. Die Anwesenheit dieser
Angestellten hatte natürlich noch einen andern Zweck, sie
sollten, ebenso wie meine Vermieterin und ihr Dienstmädchen
die Nachricht von meiner Verhaftung verbreiten, mein
öffentliches Ansehen schädigen und insbesondere in der Bank
meine Stellung erschüttern. Nun ist nichts davon auch nicht
im geringsten gelungen, selbst meine Vermieterin, eine ganz
einfache Person ? ich will ihren Namen hier in ehrendem
Sinne nennen, sie heißt Frau Grubach ? selbst Frau Grubach
war verständig genug einzusehn, daß eine solche Verhaftung
nicht mehr bedeutet, als ein Anschlag, den nicht genügend
beaufsichtigte Jungen auf der Gasse ausführen. Ich
wiederhole, mir hat das Ganze nur Unannehmlichkeiten und
vorübergehenden Ärger bereitet, hätte es aber nicht auch
schlimmere Folgen haben können??

Als K. sich hier unterbrach und nach dem stillen
Untersuchungsrichter hinsah, glaubte er zu bemerken, daß
dieser gerade mit einem Blick jemandem in der Menge ein
Zeichen gab. K. lächelte und sagte: ?Eben gibt hier neben
mir der Herr Untersuchungsrichter jemandem von Ihnen ein
geheimes Zeichen. Es sind also Leute unter Ihnen, die von
hier oben dirigiert werden. Ich weiß nicht, ob das Zeichen
jetzt Zischen oder Beifall bewirken sollte und verzichte
dadurch, daß ich die Sache vorzeitig verrate, ganz bewußt
darauf, die Bedeutung des Zeichens zu erfahren. Es ist mir
vollständig gleichgültig und ich ermächtige den Herrn
Untersuchungsrichter öffentlich, seine bezahlten
Angestellten dort unten statt mit geheimen Zeichen, laut mit
Worten zu befehligen, indem er etwa einmal sagt: ?Jetzt
zischt? und das nächste Mal: ?Jetzt klatscht?.?

In Verlegenheit oder Ungeduld rückte der
Untersuchungsrichter auf seinem Sessel hin und her. Der Mann
hinter ihm, mit dem er sich schon früher unterhalten hatte,
beugte sich wieder zu ihm, sei es um ihm im allgemeinen Mut
zuzusprechen oder um ihm einen besondern Rat zu geben. Unten
unterhielten sich die Leute leise, aber lebhaft. Die zwei
Parteien, die früher so entgegengesetzte Meinungen gehabt zu
haben schienen, vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit
dem Finger auf K., andere auf den Untersuchungsrichter. Der
nebelige Dunst im Zimmer war äußerst lästig, er verhinderte
sogar eine genauere Beobachtung der Fernerstehenden.
Besonders für die Galleriebesucher mußte er störend sein,
sie waren gezwungen, allerdings unter scheuen Seitenblicken
nach dem Untersuchungsrichter, leise Fragen an die
Versammlungsteilnehmer zu stellen, um sich näher zu
unterrichten. Die Antworten wurden im Schutz der
vorgehaltenen Hände ebenso leise gegeben.

?Ich bin gleich zuende,? sagte K. und schlug, da keine
Glocke vorhanden war mit der Faust auf den Tisch, im
Schrecken darüber fuhren die Köpfe des Untersuchungsrichters
und seines Ratgebers augenblicklich auseinander: ?Mir steht
die ganze Sache fern, ich beurteile sie daher ruhig und Sie
können, vorausgesetzt daß Ihnen an diesem angeblichen
Gericht etwas gelegen ist, großen Vorteil davon haben, wenn
Sie mir zuhören. Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen,
was ich vorbringe, bitte ich Sie für späterhin zu
verschieben, denn ich habe keine Zeit und werde bald
weggehn.?

Sofort war es still, so sehr beherrschte schon K. die
Versammlung. Man schrie nicht mehr durcheinander wie am
Anfang, man klatschte nicht einmal mehr Beifall, aber man
schien schon überzeugt oder auf dem nächsten Wege dazu.

?Es ist kein Zweifel,? sagte K. sehr leise, denn ihn freute
das angespannte Aufhorchen der ganzen Versammlung, in dieser
Stille entstand ein Sausen, das aufreizender war als der
verzückteste Beifall, ?es ist kein Zweifel, daß hinter allen
Äußerungen dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der
Verhaftung und der heutigen Untersuchung eine große
Organisation sich befindet. Eine Organisation, die nicht nur
bestechliche Wächter, läppische Aufseher und
Untersuchungsrichter, die günstigsten Falles bescheiden
sind, beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine
Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält mit dem
zahllosen unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern,
Gendarmen und andern Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern,
ich scheue vor dem Wort nicht zurück. Und der Sinn dieser
großen Organisation, meine Herren? Er besteht darin, daß
unschuldige Personen verhaftet und gegen sie ein sinnloses
und meistens wie in meinem Fall ergebnisloses Verfahren
eingeleitet wird. Wie ließe sich bei dieser Sinnlosigkeit
des Ganzen, die schlimmste Korruption der Beamtenschaft
vermeiden? Das ist unmöglich, das brächte auch der höchste
Richter nicht einmal für sich selbst zustande. Darum suchen
die Wächter den Verhafteten die Kleider vom Leib zu stehlen,
darum brechen Aufseher in fremde Wohnungen ein, darum sollen
Unschuldige statt verhört lieber vor ganzen Versammlungen
entwürdigt werden. Die Wächter haben mir von Depots erzählt,
in die man das Eigentum der Verhafteten bringt, ich wollte
einmal diese Depotsplätze sehn, in denen das mühsam
erarbeitete Vermögen der Verhafteten fault soweit es nicht
von diebischen Depotbeamten gestohlen ist.?

K. wurde durch ein Kreischen vom Saalende unterbrochen, er
beschattete die Augen um hinsehn zu können, denn das trübe
Tageslicht machte den Dunst weißlich und blendete. Es
handelte sich um die Waschfrau, die K. gleich bei ihrem
Eintritt als eine wesentliche Störung erkannt hatte. Ob sie
jetzt schuldig war oder nicht konnte man nicht erkennen. K.
sah nur, daß ein Mann sie in einen Winkel bei der Tür
gezogen hatte und dort an sich drückte. Aber nicht sie
kreischte sondern der Mann, er hatte den Mund breit gezogen
und blickte zur Decke. Ein kleiner Kreis hatte sich um beide
gebildet, die Galleriebesucher in der Nähe schienen darüber
begeistert, daß der Ernst, den K. in die Versammlung
eingeführt hatte, auf diese Weise unterbrochen wurde. K.
wollte unter dem ersten Eindruck gleich hinlaufen, auch
dachte er allen würde daran gelegen sein, dort Ordnung zu
schaffen und zumindest das Paar aus dem Saal zu weisen, aber
die ersten Reihen vor ihm blieben ganz fest, keiner rührte
sich und keiner ließ K. durch. Im Gegenteil man hinderte
ihn, alte Männer hielten den Arm vor und irgendeine Hand ?
er hatte nicht Zeit sich umzudrehn ? faßte ihn hinten am
Kragen, K. dachte nicht eigentlich mehr an das Paar, ihm
war, als werde seine Freiheit eingeschränkt, als mache man
mit der Verhaftung ernst und er sprang rücksichtslos vom
Podium hinunter. Nun stand er Aug? in Aug? dem Gedränge
gegenüber. Hatte er die Leute nicht richtig beurteilt? Hatte
er seiner Rede zuviel Wirkung zugetraut? Hatte man sich
verstellt, solange er gesprochen hatte und hatte man jetzt,
da er zu den Schlußfolgerungen kam, die Verstellung satt?
Was für Gesichter rings um ihn! Kleine schwarze Äuglein
huschten hin und her, die Wangen hiengen herab, wie bei
Versoffenen, die langen Bärte waren steif und schütter und
griff man in sie, so war es als bilde man bloß Krallen,
nicht als griffe man in Bärte. Unter den Bärten aber ? und
das war die eigentliche Entdeckung, die K. machte ?
schimmerten am Rockkragen Abzeichen in verschiedener Größe
und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen, soweit man sehen
konnte. Alle gehörten zu einander, die scheinbaren Parteien
rechts und links, und als er sich plötzlich umdrehte, sah er
die gleichen Abzeichen am Kragen des Untersuchungsrichters,
der, die Hände im Schooß, ruhig hinuntersah. ?So!? rief K.
und warf die Arme in die Höhe, die plötzliche Erkenntnis
wollte Raum, ? ?Ihr seid ja alle Beamte wie ich sehe, Ihr
seid ja die korrupte Bande, gegen die ich sprach, Ihr habt
Euch hier gedrängt, als Zuhörer und Schnüffler, habt
scheinbare Parteien gebildet und eine hat applaudiert um
mich zu prüfen, Ihr wolltet lernen, wie man Unschuldige
verführen soll. Nun Ihr seid nicht nutzlos hier gewesen,
hoffe ich, entweder habt Ihr Euch darüber unterhalten, daß
jemand die Verteidigung der Unschuld von Euch erwartet hat
oder aber ? laß mich oder ich schlage,? rief K. einem
zitternden Greis zu, der sich besonders nahe an ihn
geschoben hatte ? ?oder aber Ihr habt wirklich etwas
gelernt. Und damit wünsche ich Euch Glück zu Euerem
Gewerbe.? Er nahm schnell seinen Hut, der am Rand des
Tisches lag, und drängte sich unter allgemeiner Stille,
jedenfalls der Stille vollkommenster Überraschung, zum
Ausgang. Der Untersuchungsrichter schien aber noch schneller
als K. gewesen zu sein, denn er erwartete ihn bei der Tür.
?Einen Augenblick,? sagte er, K. blieb stehn, sah aber nicht
auf den Untersuchungsrichter sondern auf die Tür, deren
Klinke er schon ergriffen hatte. ?Ich wollte Sie nur darauf
aufmerksam machen,? sagte der Untersuchungsrichter, ?daß Sie
sich heute ? es dürfte Ihnen noch nicht zu Bewußtsein
gekommen sein ? des Vorteils beraubt haben, den ein Verhör
für den Verhafteten in jedem Falle bedeutet.? K. lachte die
Tür an. ?Ihr Lumpen,? rief er, ?ich schenke Euch alle
Verhöre,? öffnete die Tür und eilte die Treppe hinunter.
Hinter ihm erhob sich der Lärm der wieder lebendig
gewordenen Versammlung, welche die Vorfälle wahrscheinlich
nach Art von Studierenden zu besprechen begann.

Im leeren Sitzungssaal / Der Student / Die Kanzleien

K. wartete während der nächsten Woche von Tag zu Tag auf
eine neuerliche Verständigung, er konnte nicht glauben, daß
man seinen Verzicht auf Verhöre wörtlich genommen hatte und
als die erwartete Verständigung bis Samstag abend wirklich
nicht kam, nahm er an, er sei stillschweigend in das gleiche
Haus für die gleiche Zeit wieder vorgeladen. Er begab sich
daher Sonntags wieder hin, gieng diesmal geradewegs über
Treppen und Gänge, einige Leute, die sich seiner erinnerten,
grüßten ihn an ihren Türen, aber er mußte niemanden mehr
fragen und kam bald zu der richtigen Tür. Auf sein Klopfen
wurde ihm gleich aufgemacht und ohne sich weiter nach der
bekannten Frau umzusehn, die bei der Tür stehen blieb,
wollte er gleich ins Nebenzimmer. ?Heute ist keine Sitzung,?
sagte die Frau. ?Warum sollte keine Sitzung sein?? fragte er
und wollte es nicht glauben. Aber die Frau überzeugte ihn,
indem sie die Tür des Nebenzimmers öffnete. Es war wirklich
leer und sah in seiner Leere noch kläglicher aus, als am
letzten Sonntag. Auf dem Tisch, der unverändert auf dem
Podium stand, lagen einige Bücher. ?Kann ich mir die Bücher
anschauen,? fragte K., nicht aus besonderer Neugierde,
sondern nur um nicht vollständig nutzlos hiergewesen zu
sein. ?Nein,? sagte die Frau und schloß wieder die Tür, ?das
ist nicht erlaubt. Die Bücher gehören dem
Untersuchungsrichter.? ?Ach so,? sagte K. und nickte, ?die
Bücher sind wohl Gesetzbücher und es gehört zu der Art
dieses Gerichtswesens, daß man nicht nur unschuldig, sondern
auch unwissend verurteilt wird.? ?Es wird so sein,? sagte
die Frau, die ihn nicht genau verstanden hatte. ?Nun, dann
gehe ich wieder,? sagte K. ?Soll ich dem
Untersuchungsrichter etwas melden?? fragte die Frau. ?Sie
kennen ihn?? fragte K. ?Natürlich,? sagte die Frau, ?mein
Mann ist ja Gerichtsdiener.? Erst jetzt merkte K. daß das
Zimmer, in dem letzthin nur ein Waschbottich gestanden war,
jetzt ein völlig eingerichtetes Wohnzimmer bildete. Die Frau
bemerkte sein Staunen und sagte: ?Ja, wir haben hier freie
Wohnung, müssen aber an Sitzungstagen das Zimmer ausräumen.
Die Stellung meines Mannes hat manche Nachteile.? ?Ich
staune nicht so sehr über das Zimmer,? sagte K. und blickte
sie böse an, ?als vielmehr darüber, daß Sie verheiratet
sind.? ?Spielen Sie vielleicht auf den Vorfall in der
letzten Sitzung an, durch den ich Ihre Rede störte,? fragte
die Frau. ?Natürlich,? sagte K., ?heute ist es ja schon
vorüber und fast vergessen, aber damals hat es mich geradezu
wütend gemacht. Und nun sagen Sie selbst, daß Sie eine
verheiratete Frau sind.? ?Es war nicht zu Ihrem Nachteil,
daß Ihre Rede abgebrochen wurde. Man hat nachher noch sehr
ungünstig über sie geurteilt.? ?Mag sein,? sagte K.
ablenkend, ?aber Sie entschuldigt das nicht.? ?Ich bin vor
allen entschuldigt, die mich kennen,? sagte die Frau, ?der
welcher mich damals umarmt hat, verfolgt mich schon seit
langem. Ich mag im allgemeinen nicht verlockend sein, für
ihn bin ich es aber. Es gibt hiefür keinen Schutz, auch mein
Mann hat sich schon damit abgefunden; will er seine Stellung
behalten muß er es dulden, denn jener Mann ist Student und
wird voraussichtlich zu größerer Macht kommen. Er ist
immerfort hinter mir her, gerade ehe Sie kamen, ist er
fortgegangen.? ?Es paßt zu allem andern,? sagte K., ?es
überrascht mich nicht.? ?Sie wollen hier wohl einiges
verbessern?? fragte die Frau langsam und prüfend, als sage
sie etwas was sowohl für sie als für K. gefährlich war. ?Ich
habe das schon aus Ihrer Rede geschlossen, die mir
persönlich sehr gut gefallen hat. Ich habe allerdings nur
einen Teil gehört, den Anfang habe ich versäumt und während
des Schlusses lag ich mit dem Studenten auf dem Boden.? ?Es
ist ja so widerlich hier,? sagte sie nach einer Pause und
faßte K.?s Hand. ?Glauben Sie, daß es Ihnen gelingen wird,
eine Besserung zu erreichen?? K. lächelte und drehte seine
Hand ein wenig in ihren weichen Händen. ?Eigentlich,? sagte
er, ?bin ich nicht dazu angestellt, Besserungen hier zu
erreichen, wie Sie sich ausdrücken, und wenn Sie es z. B.
dem Untersuchungsrichter sagen würden, würden Sie ausgelacht
oder bestraft werden. Tatsächlich hätte ich mich auch aus
freiem Willen in diese Dinge gewiß nicht eingemischt und
meinen Schlaf hätte die Verbesserungsbedürftigkeit dieses
Gerichtswesens niemals gestört. Aber ich bin, dadurch daß
ich angeblich verhaftet wurde ? ich bin nämlich verhaftet ?
gezwungen worden, hier einzugreifen, undzwar um
meinetwillen. Wenn ich aber dabei auch Ihnen irgendwie
nützlich sein kann, werde ich es natürlich sehr gerne tun.
Nicht etwa nur aus Nächstenliebe, sondern außerdem deshalb,
weil auch Sie mir helfen können.? ?Wie könnte ich denn das,?
fragte die Frau. ?Indem Sie mir z. B. jetzt die Bücher dort
auf dem Tisch zeigen.? ?Aber gewiß,? rief die Frau und zog
ihn eiligst hinter sich her. Es waren alte abgegriffene
Bücher, ein Einbanddeckel war in der Mitte fast zerbrochen,
die Stücke hiengen nur durch Fasern zusammen. ?Wie schmutzig
hier alles ist,? sagte K. kopfschüttelnd und die Frau
wischte mit ihrer Schürze, ehe K. nach den Büchern greifen
konnte wenigstens oberflächlich den Staub weg. K. schlug das
oberste Buch auf, es erschien ein unanständiges Bild. Ein
Mann und eine Frau saßen nackt auf einem Kanapee, die
gemeine Absicht des Zeichners war deutlich zu erkennen, aber
seine Ungeschicklichkeit war so groß gewesen, daß
schließlich doch nur ein Mann und eine Frau zu sehen waren,
die allzu körperlich aus dem Bilde hervorragten, übermäßig
aufrecht dasaßen und infolge falscher Perspektive nur mühsam
sich einander zuwendeten. K. blätterte nicht weiter sondern
schlug nur noch das Titelblatt des zweiten Buches auf, es
war ein Roman mit dem Titel: ?Die Plagen, welche Grete von
ihrem Manne Hans zu erleiden hatte.? ?Das sind die
Gesetzbücher, die hier studiert werden,? sagte K. ?Von
solchen Menschen soll ich gerichtet werden.? ?Ich werde
Ihnen helfen,? sagte die Frau. ?Wollen Sie?? ?Könnten Sie
denn das wirklich ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, Sie
sagten doch vorhin, Ihr Mann sei sehr abhängig von
Vorgesetzten.? ?Trotzdem will ich Ihnen helfen,? sagte die
Frau. ?Kommen Sie, wir müssen es besprechen. Über meine
Gefahr reden Sie nicht mehr, ich fürchte die Gefahr nur
dort, wo ich sie fürchten will. Kommen Sie.? Sie zeigte auf
das Podium und bat ihn sich mit ihr auf die Stufe zu setzen.
?Sie haben schöne dunkle Augen,? sagte sie, nachdem sie sich
gesetzt hatten und sah K. von unten ins Gesicht, ?man sagt
mir ich hätte auch schöne Augen, aber Ihre sind viel
schöner. Sie fielen mir übrigens gleich damals auf, als Sie
zum erstenmal hier eintraten. Sie waren auch der Grund,
warum ich dann später hierher ins Versammlungszimmer gieng,
was ich sonst niemals tue und was mir sogar gewissermaßen
verboten ist.? ?Das ist also alles,? dachte K., ?sie bietet
sich mir an, sie ist verdorben wie alle hier ringsherum, sie
hat die Gerichtsbeamten satt, was ja begreiflich ist, und
begrüßt deshalb jeden beliebigen Fremden mit einem
Kompliment wegen seiner Augen.? Und K. stand stillschweigend
auf, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen und
dadurch der Frau sein Verhalten erklärt. ?Ich glaube nicht,
daß Sie mir helfen könnten,? sagte er, ?um mir wirklich zu
helfen, müßte man Beziehungen zu hohen Beamten haben. Sie
aber kennen gewiß nur die niedrigen Angestellten, die sich
hier in Mengen herumtreiben. Diese kennen Sie gewiß sehr gut
und könnten bei ihnen auch manches durchsetzen, das
bezweifle ich nicht, aber das Größte, was man bei ihnen
durchsetzen könnte, wäre für den endgiltigen Ausgang des
Processes gänzlich belanglos. Sie aber hätten sich dadurch
doch einige Freunde verscherzt. Das will ich nicht. Führen
Sie Ihr bisheriges Verhältnis zu diesen Leuten weiter, es
scheint mir nämlich daß es Ihnen unentbehrlich ist. Ich sage
das nicht ohne Bedauern, denn, um Ihr Kompliment doch auch
irgendwie zu erwidern, auch Sie gefallen mir gut, besonders
wenn Sie mich wie jetzt so traurig ansehn, wozu übrigens für
Sie gar kein Grund ist. Sie gehören zu der Gesellschaft, die
ich bekämpfen muß, befinden sich aber in ihr sehr wohl, Sie
lieben sogar den Studenten und wenn Sie ihn nicht lieben, so
ziehen Sie ihn doch wenigstens Ihrem Manne vor. Das konnte
man aus Ihren Worten leicht erkennen.? ?Nein,? rief sie,
blieb sitzen und griff nur nach K.?s Hand, die er ihr nicht
rasch genug entzog, ?Sie dürfen jetzt nicht weggehn, Sie
dürfen nicht mit einem falschen Urteil über mich weggehn.
Brächten Sie es wirklich zustande, jetzt wegzugehn? Bin ich
wirklich so wertlos, daß Sie mir nicht einmal den Gefallen
tun wollen noch ein kleines Weilchen hierzubleiben?? ?Sie
mißverstehen mich,? sagte K. und setzte sich, ?wenn Ihnen
wirklich daran liegt, daß ich hier bleibe, bleibe ich gern,
ich habe ja Zeit, ich kam doch in der Erwartung her, daß
heute eine Verhandlung sein werde. Mit dem, was ich früher
sagte, wollte ich Sie nur bitten, in meinem Proceß nichts
für mich zu unternehmen. Aber auch das muß Sie nicht
kränken, wenn Sie bedenken, daß mir am Ausgang des Processes
gar nichts liegt und daß ich über eine Verurteilung nur
lachen werde. Vorausgesetzt daß es überhaupt zu einem
wirklichen Abschluß des Processes kommt, was ich sehr
bezweifle. Ich glaube vielmehr, daß das Verfahren infolge
Faulheit oder Vergeßlichkeit oder vielleicht sogar infolge
Angst der Beamtenschaft schon abgebrochen ist oder in der
nächsten Zeit abgebrochen werden wird. Möglich ist
allerdings auch, daß man in Hoffnung auf irgendeine größere
Bestechung den Proceß scheinbar weiterführen wird, ganz
vergeblich, wie ich heute schon sagen kann, denn ich
besteche niemanden. Es wäre immerhin eine Gefälligkeit, die
Sie mir leisten könnten, wenn Sie dem Untersuchungsrichter
oder irgendjemandem sonst, der wichtige Nachrichten gern
verbreitet, mitteilen würden, daß ich niemals und durch
keine Kunststücke, an denen die Herren wohl reich sind, zu
einer Bestechung zu bewegen sein werde. Es wäre ganz
aussichtslos, das können Sie ihnen offen sagen. Übrigens
wird man es vielleicht selbst schon bemerkt haben und selbst
wenn dies nicht sein sollte, liegt mir gar nicht soviel
daran, daß man es jetzt schon erfährt. Es würde ja dadurch
den Herren nur Arbeit erspart werden, allerdings auch mir
einige Unannehmlichkeiten, die ich aber gern auf mich nehme,
wenn ich weiß, daß jede gleichzeitig ein Hieb für die andern
ist. Und daß es so wird, dafür will ich sorgen. Kennen Sie
eigentlich den Untersuchungsrichter? ?Natürlich,? sagte die
Frau, ?an den dachte ich sogar zuerst, als ich Ihnen Hilfe
anbot. Ich wußte nicht daß er nur ein niedriger Beamter ist,
aber da Sie es sagen, wird es wahrscheinlich richtig sein.
Trotzdem glaube ich daß der Bericht, den er nach oben
liefert, immerhin einigen Einfluß hat. Und er schreibt
soviel Berichte. Sie sagen, daß die Beamten faul sind, alle
gewiß nicht, besonders dieser Untersuchungsrichter nicht, er
schreibt sehr viel. Letzten Sonntag z. B. dauerte die
Sitzung bis gegen Abend. Alle Leute giengen weg, der
Untersuchungsrichter aber blieb im Saal, ich mußte ihm eine
Lampe bringen, ich hatte nur eine kleine Küchenlampe, aber
er war mit ihr zufrieden und fieng gleich zu schreiben an.
Inzwischen war auch mein Mann gekommen, der an jenem Sonntag
gerade Urlaub hatte, wir holten die Möbel, richteten wieder
unser Zimmer ein, es kamen dann noch Nachbarn ein, wir
unterhielten uns noch bei einer Kerze, kurz wir vergaßen an
den Untersuchungsrichter und giengen schlafen. Plötzlich in
der Nacht, es muß schon tief in der Nacht gewesen sein,
wache ich auf, neben dem Bett steht der Untersuchungsrichter
und blendet die Lampe mit der Hand ab, so daß auf meinen
Mann kein Licht fällt, es war unnötige Vorsicht, mein Mann
hat einen solchen Schlaf daß ihn auch das Licht nicht
geweckt hätte. Ich war so erschrocken, daß ich fast
geschrien hätte, aber der Untersuchungsrichter war sehr
freundlich, ermahnte mich zur Vorsicht, flüsterte mir zu,
daß er bis jetzt geschrieben habe, daß er mir jetzt die
Lampe zurückbringe und daß er niemals den Anblick vergessen
werde, wie er mich schlafend gefunden habe. Mit dem allen
wollte ich Ihnen nur sagen, daß der Untersuchungsrichter
tatsächlich viel Berichte schreibt, insbesondere über Sie:
denn Ihre Einvernahme war gewiß einer der Hauptgegenstände
der sonntägigen Sitzung. Solche lange Berichte können aber
doch nicht ganz bedeutungslos sein. Außerdem aber können Sie
doch auch aus dem Vorfall sehn, daß sich der
Untersuchungsrichter um mich bewirbt und daß ich gerade
jetzt in der ersten Zeit, er muß mich überhaupt erst jetzt
bemerkt haben, großen Einfluß auf ihn haben kann. Daß ihm
viel an mir liegt, dafür habe ich jetzt auch noch andere
Beweise. Er hat mir gestern durch den Studenten, zu dem er
viel Vertrauen hat und der sein Mitarbeiter ist, seidene
Strümpfe zum Geschenk geschickt, angeblich dafür, daß ich
das Sitzungszimmer aufräume, aber das ist nur ein Vorwand,
denn diese Arbeit ist doch meine Pflicht und für sie wird
mein Mann bezahlt. Es sind schöne Strümpfe, sehen Sie? ? sie
streckte die Beine, zog die Röcke bis zum Knie hinauf und
sah auch selbst die Strümpfe an ? ?es sind schöne Strümpfe
aber doch eigentlich zu fein und für mich nicht geeignet.?

Plötzlich unterbrach sie sich, legte ihre Hand auf K.?s
Hand, als wolle sie ihn beruhigen und flüsterte: ?Still,
Bertold sieht uns zu!? K. hob langsam den Blick. In der Tür
des Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er war klein,
hatte nicht ganz gerade Beine, und suchte sich durch einen
kurzen schüttern rötlichen Vollbart, in dem er die Finger
fortwährend herumführte, Würde zu geben. K. sah ihn
neugierig an, es war ja der erste Student der unbekannten
Rechtswissenschaft, dem er gewissermaßen menschlich
begegnete, ein Mann, der wahrscheinlich auch einmal zu
höhern Beamtenstellen gelangen würde. Der Student dagegen
kümmerte sich um K. scheinbar gar nicht, er winkte nur mit
einem Finger, den er für einen Augenblick aus seinem Barte
zog, der Frau und gieng zum Fenster, die Frau beugte sich zu
K. und flüsterte: ?Seien Sie mir nicht böse, ich bitte Sie
vielemals, denken Sie auch nicht schlecht von mir, ich muß
jetzt zu ihm gehn, zu diesem scheußlichen Menschen, sehn Sie
nur seine krummen Beine an. Aber ich komme gleich zurück und
dann geh ich mit Ihnen, wenn Sie mich mitnehmen, ich gehe
wohin Sie wollen, Sie können mit mir tun, was Sie wollen,
ich werde glücklich sein, wenn ich von hier für möglichst
lange Zeit fort bin, am liebsten allerdings für immer.? Sie
streichelte noch K.?s Hand, sprang auf und lief zum Fenster.
Unwillkürlich haschte noch K. nach ihrer Hand ins Leere. Die
Frau verlockte ihn wirklich, er fand trotz alles Nachdenkens
keinen haltbaren Grund dafür, warum er der Verlockung nicht
nachgeben sollte. Den flüchtigen Einwand, daß ihn die Frau
für das Gericht einfange, wehrte er ohne Mühe ab. Auf welche
Weise konnte sie ihn einfangen? Blieb er nicht immer so
frei, daß er das ganze Gericht, wenigstens soweit es ihn
betraf, sofort zerschlagen konnte? Konnte er nicht dieses
geringe Vertrauen zu sich haben? Und ihr Anerbieten einer
Hilfe klang aufrichtig und war vielleicht nicht wertlos. Und
es gab vielleicht keine bessere Rache an dem
Untersuchungsrichter und seinem Anhang, als daß er ihnen
diese Frau entzog und an sich nahm. Es könnte sich dann
einmal der Fall ereignen, daß der Untersuchungsrichter nach
mühevoller Arbeit an Lügenberichten über K. in später Nacht
das Bett der Frau leer fand. Und leer deshalb, weil sie K.
gehörte, weil diese Frau am Fenster, dieser üppige gelenkige
warme Körper im dunklen Kleid aus grobem schweren Stoff
durchaus nur K. gehörte.

Nachdem er auf diese Weise die Bedenken gegen die Frau
beseitigt hatte, wurde ihm das leise Zwiegespräch am Fenster
zu lang, er klopfte mit den Knöcheln auf das Podium und dann
auch mit der Faust. Der Student sah kurz über die Schulter
der Frau hinweg nach K. hin, ließ sich aber nicht stören, ja
drückte sich sogar enger an die Frau und umfaßte sie. Sie
senkte tief den Kopf, als höre sie ihm aufmerksam zu, er
küßte sie, als sie sich bückte, laut auf den Hals, ohne sich
im Reden wesentlich zu unterbrechen. K. sah darin die
Tyrannei bestätigt, die der Student nach den Klagen der Frau
über sie ausübte, stand auf und gieng im Zimmer auf und ab.
Er überlegte unter Seitenblicken nach dem Studenten wie er
ihn möglichst schnell wegschaffen könnte und es war ihm
daher nicht unwillkommen, als der Student, offenbar gestört
durch K.?s Herumgehn, das schon zeitweilig zu einem Trampeln
ausgeartet war, bemerkte: ?Wenn Sie ungeduldig sind, können
Sie weggehn. Sie hätten auch schon früher weggehn können, es
hätte Sie niemand vermißt. Ja, Sie hätten sogar weggehn
sollen undzwar schon bei meinem Eintritt undzwar
schleunigst.? Es mochte in dieser Bemerkung alle mögliche
Wut zum Ausbruch kommen, jedenfalls lag darin aber auch der
Hochmut des künftigen Gerichtsbeamten der zu einem
mißliebigen Angeklagten sprach. K. blieb ganz nahe bei ihm
stehn und sagte lächelnd: ?Ich bin ungeduldig das ist
richtig, aber diese Ungeduld wird am leichtesten dadurch zu
beseitigen sein, daß Sie uns verlassen. Wenn Sie aber
vielleicht hergekommen sind, um zu studieren ? ich hörte daß
Sie Student sind ? so will ich Ihnen gerne Platz machen und
mit der Frau weggehn. Sie werden übrigens noch viel
studieren müssen, ehe Sie Richter werden. Ich kenne zwar Ihr
Gerichtswesen noch nicht sehr genau, nehme aber an, daß es
mit groben Reden allein, die Sie allerdings schon
unverschämt gut zu führen wissen, noch lange nicht getan
ist.? ?Man hätte ihn nicht so frei herumlaufen lassen
sollen,? sagte der Student, als wolle er der Frau eine
Erklärung für K.?s beleidigende Rede geben, ?es war ein
Mißgriff. Ich habe es dem Untersuchungsrichter gesagt. Man
hätte ihn zwischen den Verhören zumindest in seinem Zimmer
halten sollen. Der Untersuchungsrichter ist manchmal
unbegreiflich.? ?Unnütze Reden,? sagte K. und streckte die
Hand nach der Frau aus. ?Kommen Sie.? ?Ach so,? sagte der
Student, ?nein, nein, die bekommen Sie nicht,? und mit einer
Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, hob er sie auf
einen Arm, und lief mit gebeugtem Rücken, zärtlich zu ihr
aufsehend zur Tür. Eine gewisse Angst vor K. war hiebei
nicht zu verkennen, trotzdem wagte er es K. noch zu reizen,
indem er mit der freien Hand den Arm der Frau streichelte
und drückte. K. lief paar Schritte neben ihm her, bereit ihn
zu fassen und wenn es sein mußte zu würgen, da sagte die
Frau: ?Es hilft nichts, der Untersuchungsrichter läßt mich
holen, ich darf nicht mit Ihnen gehn, dieses kleine
Scheusal,? sie fuhr hiebei dem Studenten mit der Hand übers
Gesicht,? dieses kleine Scheusal läßt mich nicht.? ?Und Sie
wollen nicht befreit werden,? schrie K. und legte die Hand
auf die Schulter des Studenten, der mit den Zähnen nach ihr
schnappte. ?Nein,? rief die Frau und wehrte K. mit beiden
Händen ab, ?nein, nein nur das nicht, woran denken Sie denn!
Das wäre mein Verderben. Lassen Sie ihn doch, o bitte,
lassen Sie ihn doch. Er führt ja nur den Befehl des
Untersuchungsrichters aus und trägt mich zu ihm.? ?Dann mag
er laufen und Sie will ich nie mehr sehn,? sagte K. wütend
vor Enttäuschung und gab dem Studenten einen Stoß in den
Rücken, daß er kurz stolperte, um gleich darauf, vor
Vergnügen darüber, daß er nicht gefallen war, mit seiner
Last desto höher zu springen. K. gieng ihnen langsam nach,
er sah ein, daß dies die erste zweifellose Niederlage war,
die er von diesen Leuten erfahren hatte. Es war natürlich
gar kein Grund, sich deshalb zu ängstigen, er erhielt die
Niederlage nur deshalb, weil er den Kampf aufsuchte. Wenn er
zuhause bliebe und sein gewohntes Leben führen würde, war er
jedem dieser Leute tausendfach überlegen und konnte jeden
mit einem Fußtritt von seinem Wege räumen. Und er stellte
sich die allerlächerlichste Szene vor, die es z. B. geben
würde, wenn dieser klägliche Student, dieses aufgeblasene
Kind, dieser krumme Bartträger vor Elsas Bett knien und mit
gefalteten Händen um Gnade bitten würde. K. gefiel diese
Vorstellung so, daß er beschloß, wenn sich nur irgendeine
Gelegenheit dafür ergeben sollte, den Studenten einmal zu
Elsa mitzunehmen.

Aus Neugierde eilte K. noch zur Tür, er wollte sehn, wohin
die Frau getragen wurde, der Student würde sie doch nicht
etwa über die Straßen auf dem Arm tragen. Es zeigte sich,
daß der Weg viel kürzer war. Gleich gegenüber, der
Wohnungstür führte eine schmale hölzerne Treppe
wahrscheinlich zum Dachboden, sie machte eine Wendung, so
daß man ihr Ende nicht sah. Über diese Treppe trug der
Student die Frau hinauf, schon sehr langsam und stöhnend,
denn er war durch das bisherige Laufen geschwächt. Die Frau
grüßte mit der Hand zu K. hinunter, und suchte durch Auf-
und Abziehn der Schultern zu zeigen, daß sie an der
Entführung unschuldig sei, viel Bedauern lag aber in dieser
Bewegung nicht. K. sah sie ausdruckslos, wie eine Fremde an,
er wollte weder verraten, daß er enttäuscht war, noch auch
daß er die Enttäuschung leicht überwinden könne.

Die zwei waren schon verschwunden, K. aber stand noch immer
in der Tür. Er mußte annehmen, daß ihn die Frau nicht nur
betrogen, sondern mit der Angabe daß sie zum
Untersuchungsrichter getragen werde, auch belogen habe. Der
Untersuchungsrichter würde doch nicht auf dem Dachboden
sitzen und warten. Die Holztreppe erklärte nichts, solange
man sie auch ansah. Da bemerkte K. einen kleinen Zettel
neben dem Aufgang, gieng hinüber und las in einer
kindlichen, ungeübten Schrift: ?Aufgang zu den
Gerichtskanzleien.? Hier auf dem Dachboden dieses Miethauses
waren also die Gerichtskanzleien. Das war keine Einrichtung,
die viel Achtung einzuflößen imstande war und es war für
einen Angeklagten beruhigend, sich vorzustellen, wie wenig
Geldmittel diesem Gericht zur Verfügung standen, wenn es
seine Kanzleien dort unterbrachte, wo die Mietparteien, die
schon selbst zu den Ärmsten gehörten, ihren unnützen Kram
hinwarfen. Allerdings war es nicht ausgeschlossen, daß man
Geld genug hatte, daß aber die Beamtenschaft sich darüber
warf, ehe es für Gerichtszwecke verwendet wurde. Das war
nach den bisherigen Erfahrungen K.?s sogar sehr
wahrscheinlich, nur war dann eine solche Verlotterung des
Gerichtes für einen Angeklagten zwar entwürdigend, aber im
Grunde noch beruhigender, als es die Armut des Gerichtes
gewesen wäre. Nun war es K. auch begreiflich, daß man sich
beim ersten Verhör schämte, den Angeklagten auf den
Dachboden vorzuladen und es vorzog, ihn in seiner Wohnung zu
belästigen. In welcher Stellung befand sich doch K.
gegenüber dem Richter, der auf dem Dachboden saß, während er
selbst in der Bank ein großes Zimmer mit einem Vorzimmer
hatte und durch eine riesige Fensterscheibe auf den belebten
Stadtplatz hinuntersehen konnte. Allerdings hatte er keine
Nebeneinkünfte aus Bestechungen oder Unterschlagungen und
konnte sich auch vom Diener keine Frau auf dem Arm ins
Bureau tragen lassen. Darauf wollte K. aber, wenigstens in
diesem Leben, gerne verzichten.

K. stand noch vor dem Anschlagzettel, als ein Mann die
Treppe heraufkam, durch die offene Tür ins Wohnzimmer sah,
aus dem man auch in das Sitzungszimmer sehen konnte, und
schließlich K. fragte, ob er hier nicht vor kurzem eine Frau
gesehn habe. ?Sie sind der Gerichtsdiener, nicht?? fragte K.
?Ja,? sagte der Mann, ?ach so, Sie sind der Angeklagte K.,
jetzt erkenne ich Sie auch, seien Sie willkommen.? Und er
reichte K., der es gar nicht erwartet hatte, die Hand.
?Heute ist aber keine Sitzung angezeigt,? sagte dann der
Gerichtsdiener, als K. schwieg. ?Ich weiß,? sagte K. und
betrachtete den Civilrock des Gerichtsdieners, der als
einziges amtliches Abzeichen neben einigen gewöhnlichen
Knöpfen auch zwei vergoldete Knöpfe aufwies, die von einem
alten Offiziersmantel abgetrennt zu sein schienen. ?Ich habe
vor einem Weilchen mit Ihrer Frau gesprochen. Sie ist nicht
mehr hier. Der Student hat sie zum Untersuchungsrichter
getragen.? ?Sehen Sie,? sagte der Gerichtsdiener, ?immer
trägt man sie mir weg. Heute ist doch Sonntag und ich bin zu
keiner Arbeit verpflichtet, aber nur, um mich vi hier zu
entfernen, schickt man mich mit einer jedenfalls unnützen
Meldung weg. Undzwar schickt man mich nicht weit weg, so daß
ich die Hoffnung habe, wenn ich mich sehr beeile, vielleicht
noch rechtzeitig zurückzukommen. Ich laufe also, so sehr ich
kann, schreie dem Amt, zu dem ich geschickt wurde, meine
Meldung durch den Türspalt so atemlos zu, daß man sie kaum
verstanden haben wird, laufe wieder zurück, aber der Student
hat sich noch mehr beeilt als ich, er hatte allerdings auch
einen kürzern Weg, er mußte nur die Bodentreppe
hinunterlaufen. Wäre ich nicht so abhängig, ich hätte den
Studenten schon längst hier an der Wand zerdrückt. Hier
neben dem Anschlagzettel. Davon träume ich immer. Hier ein
wenig über dem Fußboden ist er festgedrückt, die Arme
gestreckt, die Finger gespreizt, die krummen Beine zum Kreis
gedreht und ringsherum Blutspritzer. Bisher war es aber nur
Traum.? ?Eine andere Hilfe gibt es nicht? fragte K.
lächelnd. ?Ich wüßte keine,? sagte der Gerichtsdiener. ?Und
jetzt wird es ja noch ärger, bisher hat er sie nur zu sich
getragen, jetzt trägt er sie, was ich allerdings längst
erwartet habe, auch zum Untersuchungsrichter.? ?Hat denn
Ihre Frau gar keine Schuld dabei,? fragte K., er mußte sich
bei dieser Frage bezwingen, so sehr fühlte auch er jetzt die
Eifersucht. ?Aber gewiß,? sagte der Gerichtsdiener, ?sie hat
sogar die größte Schuld. Sie hat sich ja an ihn gehängt. Was
ihn betrifft, er läuft allen Weibern nach. In diesem Hause
allein, ist er schon aus fünf Wohnungen in die er sich
eingeschlichen hat, herausgeworfen worden. Meine Frau ist
allerdings die schönste im ganzen Haus und gerade ich darf
mich nicht wehren.? ?Wenn es sich so verhält, dann gibt es
allerdings keine Hilfe,? sagte K. ?Warum denn nicht,? fragte
der Gerichtsdiener. ?Man müßte den Studenten, der ein
Feigling ist, einmal wenn er meine Frau anrühren will so
durchprügeln, daß er es niemals mehr wagt. Aber ich darf es
nicht und andere machen mir den Gefallen nicht, denn alle
fürchten seine Macht. Nur ein Mann, wie Sie, könnte es tun.?
?Wieso denn ich?? fragte K. erstaunt. ?Sie sind doch
angeklagt,? sagte der Gerichtsdiener. ?Ja,? sagte K., ?aber
desto mehr müßte ich doch fürchten, daß er wenn auch
vielleicht nicht Einfluß auf den Ausgang des Processes, so
doch wahrscheinlich auf die Voruntersuchung hat.? ?Ja,
gewiß,? sagte der Gerichtsdiener, als sei die Ansicht K.?s
genau so richtig wie seine eigene. ?Es werden aber bei uns
in der Regel keine aussichtslosen Processe geführt.? ?Ich
bin nicht Ihrer Meinung,? sagte K., ?das soll mich aber
nicht hindern, gelegentlich den Studenten in Behandlung zu
nehmen.? ?Ich wäre Ihnen sehr dankbar,? sagte der
Gerichtsdiener etwas förmlich, er schien eigentlich doch
nicht an die Erfüllbarkeit seines höchsten Wunsches zu
glauben. ?Es würden vielleicht,? fuhr K. fort, ?auch noch
andere Ihrer Beamten und vielleicht sogar alle das Gleiche
verdienen.? ?Ja, ja,? sagte der Gerichtsdiener als handle es
sich um etwas Selbstverständliches. Dann sah er K. mit einem
zutraulichen Blick an, wie er es bisher trotz aller
Freundlichkeit nicht getan hatte, und fügte hinzu: ?Man
rebelliert eben immer.? Aber das Gespräch schien ihm doch
ein wenig unbehaglich geworden zu sein, denn er brach es ab,
indem er sagte: ?Jetzt muß ich mich in der Kanzlei melden.
Wollen Sie mitkommen?? ?Ich habe dort nichts zu tun,? sagte
K. ?Sie könnten die Kanzleien ansehn. Es wird sich niemand
um Sie kümmern.? ?Ist es denn sehenswert?? fragte K.
zögernd, hatte aber große Lust mitzugehn. ?Nun,? sagte der
Gerichtsdiener, ?ich dachte es würde Sie interessieren.?
?Gut,? sagte K. schließlich, ?ich gehe mit,? und er lief
schneller als der Gerichtsdiener die Treppe hinauf.

Beim Eintritt wäre er fast hingefallen, denn hinter der Tür
war noch eine Stufe. ?Auf das Publikum nimmt man nicht viel
Rücksicht,? sagte er. ?Man nimmt überhaupt keine Rücksicht,?
sagte der Gerichtsdiener, ?sehn Sie nur hier das
Wartezimmer.? Es war ein langer Gang, von dem aus roh
gezimmerte Türen zu den einzelnen Abteilungen des Dachbodens
führten. Trotzdem kein unmittelbarer Lichtzutritt bestand,
war es doch nicht vollständig dunkel, denn manche
Abteilungen hatten gegen den Gang zu statt einheitlicher
Bretterwände, bloße allerdings bis zur Decke reichende
Holzgitter, durch die einiges Licht drang und durch die man
auch einzelne Beamte sehen konnte, wie sie an Tischen
schrieben oder geradezu am Gitter standen und durch die
Lücken die Leute auf dem Gang beobachteten. Es waren,
wahrscheinlich weil Sonntag war, nur wenig Leute auf dem
Gang. Sie machten einen sehr bescheidenen Eindruck. In fast
regelmäßigen Entfernungen von einander saßen sie auf den
zwei Reihen langer Holzbänke, die zu beiden Seiten des
Ganges angebracht waren. Alle waren vernachlässigt
angezogen, trotzdem die meisten nach dem Gesichtsausdruck,
der Haltung, der Barttracht und vielen kaum
sicherzustellenden kleinen Einzelheiten den höheren Klassen
angehörten. Da keine Kleiderhaken vorhanden waren, hatten
sie die Hüte, wahrscheinlich einer dem Beispiel des andern
folgend, unter die Bank gestellt. Als die, welche zunächst
der Tür saßen, K. und den Gerichtsdiener erblickten, erhoben
sie sich zum Gruß; da das die folgenden sahen, glaubten sie
auch grüßen zu müssen, so daß alle beim Vorbeigehn der zwei
sich erhoben. Sie standen niemals vollständig aufrecht, der
Rücken war geneigt, die Knie geknickt, sie standen wie
Straßenbettler. K. wartete auf den ein wenig hinter ihm
gehenden Gerichtsdiener und sagte: ?Wie gedemütigt die sein
müssen.? ?Ja,? sagte der Gerichtsdiener, ?es sind
Angeklagte, alle die Sie hier sehn, sind Angeklagte.?
?Wirklich?? sagte K. ?Dann sind es ja meine Kollegen.? Und
er wandte sich an den nächsten, einen großen schlanken schon
fast grauhaarigen Mann. ?Worauf warten Sie hier?? fragte K.
höflich. Die unerwartete Ansprache aber machte den Mann
verwirrt, was umso peinlicher aussah, da es sich offenbar um
einen welterfahrenen Menschen handelte, der anderswo gewiß
sich zu beherrschen verstand und die Überlegenheit, die er
sich über viele erworben hatte, nicht leicht aufgab. Hier
aber wußte er auf eine so einfache Frage nicht zu antworten
und sah auf die andern hin, als seien sie verpflichtet ihm
zu helfen und als könne niemand von ihm eine Antwort
verlangen, wenn diese Hilfe ausbliebe. Da trat der
Gerichtsdiener hinzu und sagte, um den Mann zu beruhigen und
aufzumuntern: ?Der Herr hier fragt ja nur, auf was Sie
warten. Antworten Sie doch.? Die ihm wahrscheinlich bekannte
Stimme des Gerichtsdieners wirkte besser: ?Ich warte ??
begann er und stockte. Offenbar hatte er diesen Anfang
gewählt, um ganz genau auf die Fragestellung zu antworten,
fand aber jetzt die Fortsetzung nicht. Einige der Wartenden
hatten sich genähert und umstanden die Gruppe, der
Gerichtsdiener sagte zu ihnen: ?Weg, weg, macht den Gang
frei.? Sie wichen ein wenig zurück, aber nicht bis zu ihren
frühern Sitzen. Inzwischen hatte sich der Gefragte gesammelt
und antwortete sogar mit einem kleinen Lächeln: ?Ich habe
vor einem Monat einige Beweisanträge in meiner Sache gemacht
und warte auf die Erledigung.? ?Sie scheinen sich ja viele
Mühe zu geben,? sagte K. ?Ja,? sagte der Mann, ?es ist ja
meine Sache.? ?Jeder denkt nicht so wie Sie,? sagte K., ?ich
z. B. bin auch angeklagt, habe aber, so wahr ich selig
werden will, weder einen Beweisantrag gestellt noch auch
sonst irgendetwas derartiges unternommen. Halten Sie denn
das für nötig? ?Ich weiß nicht genau,? sagte der Mann wieder
in vollständiger Unsicherheit; er glaubte offenbar K. mache
mit ihm einen Scherz, deshalb hätte er wahrscheinlich am
liebsten, aus Furcht irgendeinen neuen Fehler zu machen,
seine frühere Antwort ganz wiederholt, vor K.?s ungeduldigem
Blick aber sagte er nur: ?was mich betrifft, ich habe
Beweisanträge gestellt.? ?Sie glauben wohl nicht daß ich
angeklagt bin,? fragte K. ?Oh bitte gewiß,? sagte der Mann,
und trat ein wenig zur Seite, aber in der Antwort war nicht
Glaube, sondern nur Angst. ?Sie glauben mir also nicht?
fragte K. und faßte ihn, unbewußt durch das demütige Wesen
des Mannes dazu aufgefordert, beim Arm, als wolle er ihn zum
Glauben zwingen. Aber er wollte ihm nicht Schmerz bereiten,
hatte ihn auch nur ganz leicht angegriffen, trotzdem aber
schrie der Mann auf, als habe K. ihn nicht mit zwei Fingern,
sondern mit einer glühenden Zange erfaßt. Dieses lächerliche
Schreien machte ihn K. endgültig überdrüssig; glaubte man
ihm nicht daß er angeklagt war, so war es desto besser;
vielleicht hielt er ihn sogar für einen Richter. Und er
faßte ihn nun zum Abschied wirklich fester, stieß ihn auf
die Bank zurück und gieng weiter. ?Die meisten Angeklagten
sind so empfindlich,? sagte der Gerichtsdiener. Hinter ihnen
sammelten sich jetzt fast alle Wartenden um den Mann, der
schon zu schreien aufgehört hatte, und schienen ihn über den
Zwischenfall genau auszufragen. K. entgegen kam jetzt ein
Wächter, der hauptsächlich an einem Säbel kenntlich war,
dessen Scheide, wenigstens der Farbe nach, aus Aluminium
bestand. K. staunte darüber und griff sogar mit der Hand
hin. Der Wächter, der wegen des Schreiens gekommen war,
fragte nach dem Vorgefallenen. Der Gerichtsdiener suchte ihn
mit einigen Worten zu beruhigen, aber der Wächter erklärte
doch noch selbst nachsehn zu müssen, salutierte und gieng
weiter mit sehr eiligen aber sehr kurzen, wahrscheinlich
durch Gicht abgemessenen Schritten.

K. kümmerte sich nicht lange um ihn und die Gesellschaft auf
dem Gang, besonders da er etwa in der Hälfte des Ganges die
Möglichkeit sah, rechts durch eine türlose Öffnung
einzubiegen. Er verständigte sich mit dem Gerichtsdiener
darüber, ob das der richtige Weg sei, der Gerichtsdiener
nickte und K. bog nun wirklich dort ein. Es war ihm lästig,
daß er immer einen oder zwei Schritte vor dem Gerichtsdiener
gehen mußte, es konnte wenigstens an diesem Ort den Anschein
haben, als ob er verhaftet vorgeführt werde. Er wartete also
öfters auf den Gerichtsdiener, aber dieser blieb gleich
wieder zurück. Schließlich sagte K. um seinem Unbehagen ein
Ende zu machen: ?Nun habe ich gesehn wie es hier aussieht,
ich will jetzt weggehn.? ?Sie haben noch nicht alles
gesehn,? sagte der Gerichtsdiener vollständig unverfänglich.
?Ich will nicht alles sehn,? sagte K., der sich übrigens
wirklich müde fühlte, ?ich will gehn, wie kommt man zum
Ausgang?? ?Sie haben sich doch nicht schon verirrt,? fragte
der Gerichtsdiener erstaunt, ?Sie gehn hier bis zur Ecke und
dann rechts den Gang hinunter geradeaus zur Tür.? ?Kommen
Sie mit,? sagte K. ?Zeigen Sie mir den Weg, ich werde ihn
verfehlen, es sind hier so viele Wege.? ?Es ist der einzige
Weg,? sagte der Gerichtsdiener nun schon vorwurfsvoll, ?ich
kann nicht wieder mit Ihnen zurückgehn, ich muß doch meine
Meldung vorbringen und habe schon viel Zeit durch Sie
versäumt.? ?Kommen Sie mit,? wiederholte K. jetzt schärfer,
als habe er endlich den Gerichtsdiener auf einer Unwahrheit
ertappt. ?Schreien Sie doch nicht so,? flüsterte der
Gerichtsdiener, ?es sind ja hier überall Bureaux. Wenn Sie
nicht allein zurückgehn wollen, so gehn Sie noch ein
Stückchen mit mir oder warten Sie hier bis ich meine Meldung
erledigt habe, dann will ich ja gern mit Ihnen wieder
zurückgehn.? ?Nein, nein,? sagte K., ?ich werde nicht warten
und Sie müssen jetzt mit mir gehn.? K. hatte sich noch gar
nicht in dem Raum umgesehen in dem er sich befand, erst als
jetzt eine der vielen Holztüren, die ringsherum standen sich
öffnete blickte er hin. Ein Mädchen, das wohl durch K.?s
lautes Sprechen herbeigerufen war, trat ein und fragte: ?Was
wünscht der Herr?? Hinter ihr in der Ferne sah man im
Halbdunkel noch einen Mann sich nähern. K. blickte den
Gerichtsdiener an. Dieser hatte doch gesagt, daß sich
niemand um K. kümmern werde und nun kamen schon zwei, es
brauchte nur wenig und die Beamtenschaft wurde auf ihn
aufmerksam, würde eine Erklärung seiner Anwesenheit haben
wollen. Die einzig verständliche und annehmbare war die, daß
er Angeklagter war und das Datum des nächsten Verhöres
erfahren wollte, gerade diese Erklärung aber wollte er nicht
geben, besonders da sie auch nicht wahrheitsgemäß war, denn
er war nur aus Neugierde gekommen oder, was als Erklärung
noch unmöglicher war, aus dem Verlangen festzustellen, daß
das Innere dieses Gerichtswesens ebenso widerlich war wie
sein Äußeres. Und es schien ja, daß er mit dieser Annahme
recht hatte, er wollte nicht weiter eindringen, er war
beengt genug von dem, was er bisher gesehen hatte, er war
gerade jetzt nicht in der Verfassung einem höhern Beamten
gegenüberzutreten, wie er hinter jeder Tür auftauchen
konnte, er wollte weggehn, undzwar mit dem Gerichtsdiener
oder allein wenn es sein mußte.

Aber sein stummes Dastehn mußte auffallend sein und wirklich
sahen ihn das Mädchen und der Gerichtsdiener derartig an,
als ob in der nächsten Minute irgendeine große Verwandlung
mit ihm geschehen müsse, die sie zu beobachten nicht
versäumen wollten. Und in der Türöffnung stand der Mann, den
K. früher in der Ferne bemerkt hatte, er hielt sich am
Deckbalken der niedrigen Tür fest und schaukelte ein wenig
auf den Fußspitzen, wie ein ungeduldiger Zuschauer. Das
Mädchen aber erkannte doch zuerst, daß das Benehmen K.?s in
einem leichten Unwohlsein seinen Grund hatte, sie brachte
einen Sessel und fragte: ?Wollen Sie sich nicht setzen?? K.
setzte sich sofort und stützte, um noch bessern Halt zu
bekommen, die Elbogen auf die Lehnen. ?Sie haben ein wenig
Schwindel, nicht?? fragte sie ihn. Er hatte nun ihr Gesicht
nahe vor sich, es hatte den strengen Ausdruck, wie ihn
manche Frauen gerade in ihrer schönsten Jugend haben.
?Machen Sie sich darüber keine Gedanken,? sagte sie, ?das
ist hier nichts Außergewöhnliches, fast jeder bekommt einen
solchen Anfall, wenn er zum ersten Mal herkommt. Sie sind
zum ersten Mal hier? Nun ja, das ist also nichts
Außergewöhnliches. Die Sonne brennt hier auf das Dachgerüst
und das heiße Holz macht die Luft so dumpf und schwer. Der
Ort ist deshalb für Bureauräumlichkeiten nicht sehr
geeignet, so große Vorteile er allerdings sonst bietet. Aber
was die Luft betrifft, so ist sie an Tagen großen
Parteienverkehrs, und das ist fast jeder Tag, kaum mehr
atembar. Wenn Sie dann noch bedenken, daß hier auch vielfach
Wäsche zum Trocknen ausgehängt wird ? man kann es den
Mietern nicht gänzlich untersagen, ? so werden Sie sich
nicht mehr wundern, daß Ihnen ein wenig übel wurde. Aber man
gewöhnt sich schließlich an die Luft sehr gut. Wenn Sie zum
zweiten oder drittenmal herkommen, werden Sie das Drückende
hier kaum mehr spüren. Fühlen Sie sich schon besser?? K.
antwortete nicht, es war ihm zu peinlich, durch diese
plötzliche Schwäche den Leuten hier ausgeliefert zu sein,
überdies war ihm, da er jetzt die Ursachen seiner Übelkeit
erfahren hatte nicht besser, sondern noch ein wenig
schlechter. Das Mädchen merkte es gleich, nahm, um K. eine
Erfrischung zu bereiten, eine Hakenstange die an der Wand
lehnte und stieß damit eine kleine Luke auf, die gerade über
K. angebracht war und ins Freie führte. Aber es fiel soviel
Ruß herein, daß das Mädchen die Luke gleich wieder zuziehn
und mit ihrem Taschentuch die Hände K.?s vom Ruß reinigen
mußte, denn K. war zu müde, um das selbst zu besorgen. Er
wäre gern hier ruhig sitzen geblieben, bis er sich zum
Weggehn genügend gekräftigt hatte, das mußte aber umso
früher geschehn je weniger man sich um ihn kümmern würde.
Nun sagte aber überdies das Mädchen: ?Hier können Sie nicht
bleiben, hier stören wir den Verkehr? ? K. fragte mit den
Blicken, welchen Verkehr er denn hier störe ? ?ich werde
Sie, wenn Sie wollen, ins Krankenzimmer führen.? ?Helfen Sie
mir bitte,? sagte sie zu dem Mann in der Tür, der auch
gleich näher kam. Aber K. wollte nicht ins Krankenzimmer,
gerade das wollte er ja vermeiden, weiter geführt zu werden,
je weiter er kam, desto ärger mußte es werden. ?Ich kann
schon gehn,? sagte er deshalb und stand, durch das bequeme
Sitzen verwöhnt, zitternd auf. Dann aber konnte er sich
nicht aufrechthalten. ?Es geht doch nicht,? sagte er
kopfschüttelnd und setzte sich seufzend wieder nieder. Er
erinnerte sich an den Gerichtsdiener, der ihn trotz allem
leicht herausführen könnte, aber der schien schon längst weg
zu sein, K. sah zwischen dem Mädchen und dem Mann, die vor
ihm standen, hindurch, konnte aber den Gerichtsdiener nicht
finden.

?Ich glaube,? sagte der Mann, der übrigens elegant gekleidet
war und besonders durch eine graue Weste auffiel, die in
zwei langen scharf geschnittenen Spitzen endigte, ?das
Unwohlsein des Herrn geht auf die Atmosphäre hier zurück, es
wird daher am besten und auch ihm am liebsten sein wenn wir
ihn nicht erst ins Krankenzimmer sondern überhaupt aus den
Kanzleien hinausführen.? ?Das ist es,? rief K. und fuhr vor
lauter Freude fast noch in die Rede des Mannes hinein, ?mir
wird gewiß sofort besser werden, ich bin auch gar nicht so
schwach, nur ein wenig Unterstützung unter den Achseln
brauche ich, ich werde Ihnen nicht viel Mühe machen, es ist
ja auch kein langer Weg, führen Sie mich nur zur Tür, ich
setze mich dann noch ein wenig auf die Stufen und werde
gleich erholt sein, ich leide nämlich gar nicht unter
solchen Anfällen, es kommt mir selbst überraschend. Ich bin
doch auch Beamter und an Bureauluft gewöhnt, aber hier
scheint es doch zu arg, Sie sagen es selbst. Wollen Sie also
die Freundlichkeit haben, mich ein wenig zu führen, ich habe
nämlich Schwindel und es wird mir schlecht, wenn ich allein
aufstehe.? Und er hob die Schultern, um es den beiden zu
erleichtern ihm unter die Arme zu greifen.

Aber der Mann folgte der Aufforderung nicht, sondern hielt
die Hände ruhig in den Hosentaschen und lachte laut. ?Sehen
Sie,? sagte er zu dem Mädchen, ?ich habe also doch das
Richtige getroffen. Dem Herrn ist nur hier nicht wohl, nicht
im allgemeinen.? Das Mädchen lächelte auch, schlug aber dem
Mann leicht mit den Fingerspitzen auf den Arm, als hätte er
sich mit K. einen zu starken Spaß erlaubt. ?Aber was denken
Sie denn,? sagte der Mann noch immer lachend, ?ich will ja
den Herrn wirklich hinausführen.? ?Dann ist es gut,? sagte
das Mädchen indem sie ihren zierlichen Kopf für einen
Augenblick neigte. ?Messen Sie dem Lachen nicht zuviel
Bedeutung zu,? sagte das Mädchen zu K., der wieder traurig
geworden vor sich hinstarrte und keine Erklärung zu brauchen
schien, ?dieser Herr ? ich darf Sie doch vorstellen?? (der
Herr gab mit einer Handbewegung die Erlaubnis) ?? dieser
Herr also ist der Auskunftgeber. Er gibt den wartenden
Parteien alle Auskünfte, die sie brauchen, und da unser
Gerichtswesen in der Bevölkerung nicht sehr bekannt ist,
werden viele Auskünfte verlangt. Er weiß auf alle Fragen
eine Antwort, Sie können ihn, wenn Sie einmal Lust dazu
haben, daraufhin erproben. Das ist aber nicht sein einziger
Vorzug, sein zweiter Vorzug ist die elegante Kleidung. Wir
d. h. die Beamtenschaft meinte einmal, man müsse den
Auskunftgeber, der immerfort undzwar als erster mit Parteien
verhandle, des würdigen ersten Eindrucks halber, auch
elegant anziehn. Wir andern sind, wie Sie gleich an mir sehn
können, leider sehr schlecht und altmodisch angezogen; es
hat auch nicht viel Sinn für die Kleidung etwas zu
verwenden, da wir fast unaufhörlich in den Kanzleien sind,
wir schlafen ja auch hier. Aber wie gesagt für den
Auskunftgeber hielten wir einmal schöne Kleidung für nötig.
Da sie aber von unserer Verwaltung, die in dieser Hinsicht
etwas sonderbar ist, nicht erhältlich war, machten wir eine
Sammlung ? auch Parteien steuerten bei ? und wir kauften ihm
dieses schöne Kleid und noch andere. Alles wäre jetzt
vorbereitet einen guten Eindruck zu machen, aber durch sein
Lachen verdirbt er es wieder und erschreckt die Leute.? ?So
ist es,? sagte der Herr spöttisch, ?aber ich verstehe nicht,
Fräulein, warum Sie dem Herrn alle unsere Intimitäten
erzählen, oder besser aufdrängen, denn er will sie ja gar
nicht erfahren. Sehen Sie nur, wie er, offenbar mit seinen
eigenen Angelegenheiten beschäftigt, dasitzt.? K. hatte
nicht einmal Lust zu widersprechen, die Absicht des Mädchens
mochte eine gute sein, sie war vielleicht darauf gerichtet
ihn zu zerstreuen oder ihm die Möglichkeit zu geben sich zu
sammeln, aber das Mittel war verfehlt. ?Ich mußte ihm Ihr
Lachen erklären,? sagte das Mädchen. ?Es war ja
beleidigend.? ?Ich glaube, er würde noch ärgere
Beleidigungen verzeihen, wenn ich ihn schließlich
hinausführe.? K. sagte nichts, sah nicht einmal auf, er
duldete es, daß die zwei über ihn wie über eine Sache
verhandelten, es war ihm sogar am liebsten. Aber plötzlich
fühlte er die Hand des Auskunftgebers an einem Arm und die
Hand des Mädchens am andern. ?Also auf, Sie schwacher Mann,?
sagte der Auskunftgeber. ?Ich danke Ihnen beiden vielmals,?
sagte K. freudig überrascht, erhob sich langsam und führte
selbst die fremden Hände an die Stellen, an denen er die
Stütze am meisten brauchte. ?Es sieht so aus,? sagte das
Mädchen leise in K.?s Ohr, während sie sich dem Gang
näherten, ?als ob mir besonders viel daran gelegen wäre, den
Auskunftgeber in ein gutes Licht zu stellen, aber man mag es
glauben, ich will doch die Wahrheit sagen. Er hat kein
hartes Herz. Er ist nicht verpflichtet, kranke Parteien
hinauszuführen und tut es doch, wie Sie sehn. Vielleicht ist
niemand von uns hartherzig, wir wollten vielleicht alle gern
helfen, aber als Gerichtsbeamte bekommen wir leicht den
Anschein als ob wir hartherzig wären und niemandem helfen
wollten. Ich leide geradezu darunter.? ?Wollen Sie sich
nicht hier ein wenig setzen,? fragte der Auskunftgeber, sie
waren schon im Gang und gerade vor dem Angeklagten, den K.
früher angesprochen hatte. K. schämte sich fast vor ihm,
früher war er so aufrecht vor ihm gestanden, jetzt mußten
ihn zwei stützen, seinen Hut balancierte der Auskunftgeber
auf den gespreizten Fingern, die Frisur war zerstört, die
Haare hiengen ihm in die schweißbedeckte Stirn. Aber der
Angeklagte schien nichts davon zu bemerken, demütig stand er
vor dem Auskunftgeber, der über ihn hinwegsah, und suchte
nur seine Anwesenheit zu entschuldigen. ?Ich weiß,? sagte
er, ?daß die Erledigung meiner Anträge heute noch nicht
gegeben werden kann. Ich bin aber doch gekommen, ich dachte
ich könnte doch hier warten, es ist Sonntag, ich habe ja
Zeit und hier störe ich nicht.? ?Sie müssen das nicht so
sehr entschuldigen,? sagte der Auskunftgeber, ?Ihre
Sorgsamkeit ist ja ganz lobenswert, Sie nehmen hier zwar
unnötiger Weise den Platz weg, aber ich will Sie trotzdem
solange es mir nicht lästig wird, durchaus nicht hindern,
den Gang Ihrer Angelegenheit genau zu verfolgen. Wenn man
Leute gesehn hat, die ihre Pflicht schändlich
vernachlässigen, lernt man es mit Leuten wie Sie sind Geduld
zu haben. Setzen Sie sich.? ?Wie er mit den Parteien zu
reden versteht,? flüsterte das Mädchen. K. nickte, fuhr aber
gleich auf, als ihn der Auskunftgeber wieder fragte: ?Wollen
Sie sich nicht hier niedersetzen.? ?Nein,? sagte K., ?ich
will mich nicht ausruhn.? Er hatte das mit möglichster
Bestimmtheit gesagt, in Wirklichkeit hätte es ihm aber sehr
wohlgetan sich niederzusetzen; er war wie seekrank. Er
glaubte auf einem Schiff zu sein, das sich in schwerem
Seegang befand. Es war ihm als stürze das Wasser gegen die
Holzwände, als komme aus der Tiefe des Ganges ein Brausen
her, wie von überschlagendem Wasser, als schaukle der Gang
in der Quere und als würden die wartenden Parteien zu beiden
Seiten gesenkt und gehoben. Desto unbegreiflicher war die
Ruhe des Mädchens und des Mannes, die ihn führten. Er war
ihnen ausgeliefert, ließen sie ihn los, so mußte er
hinfallen wie ein Brett. Aus ihren kleinen Augen giengen
scharfe Blicke hin und her; ihre gleichmäßigen Schritte
fühlte K. ohne sie mitzumachen, denn er wurde fast von
Schritt zu Schritt getragen. Endlich merkte er, daß sie zu
ihm sprachen, aber er verstand sie nicht, er hörte nur den
Lärm der alles erfüllte und durch den hindurch ein
unveränderlicher hoher Ton wie von einer Sirene zu klingen
schien. ?Lauter,? flüsterte er mit gesenktem Kopf und
schämte sich, denn er wußte, daß sie laut genug, wenn auch
für ihn unverständlich gesprochen hatten. Da kam endlich,
als wäre die Wand vor ihm durchrissen ein frischer Luftzug
ihm entgegen und er hörte neben sich sagen: ?Zuerst will er
weg, dann aber kann man ihm hundertmal sagen, daß hier der
Ausgang ist und er rührt sich nicht.? K. merkte, daß er vor
der Ausgangstür stand, die das Mädchen geöffnet hatte. Ihm
war als wären alle seine Kräfte mit einem Mal zurückgekehrt,
um einen Vorgeschmack der Freiheit zu gewinnen, trat er
gleich auf eine Treppenstufe und verabschiedete sich von
dort aus von seinen Begleitern, die sich zu ihm
herabbeugten. ?Vielen Dank,? wiederholte er, drückte beiden
wiederholt die Hände und ließ erst ab, als er zu sehen
glaubte, daß sie, an die Kanzleiluft gewöhnt, die
verhältnismäßig frische Luft, die von der Treppe kam,
schlecht ertrugen. Sie konnten kaum antworten und das
Mädchen wäre vielleicht abgestürzt, wenn nicht K. äußerst
schnell die Tür geschlossen hätte. K. stand dann noch einen
Augenblick still, strich sich mit Hilfe eines
Taschenspiegels das Haar zurecht, hob seinen Hut auf, der
auf dem nächsten Treppenabsatz lag ? der Auskunftgeber hatte
ihn wohl hingeworfen ? und lief dann die Treppe hinunter so
frisch und in so langen Sprüngen, daß er vor diesem
Umschwung fast Angst bekam. Solche Überraschungen hatte ihm
sein sonst ganz gefestigter Gesundheitszustand noch nie
bereitet. Wollte etwa sein Körper revolutionieren und ihm
einen neuen Proceß bereiten, da er den alten so mühelos
ertrug? Er lehnte den Gedanken nicht ganz ab, bei nächster
Gelegenheit zu einem Arzt zu gehn, jedenfalls aber wollte er
? darin konnte er sich selbst beraten ? alle zukünftigen
Sonntagvormittage besser als diesen verwenden.

Der Prügler

Als K. an einem der nächsten Abende den Korridor passierte,
der sein Bureau von der Haupttreppe trennte ? er gieng
diesmal fast als der letzte nachhause, nur in der Expedition
arbeiteten noch zwei Diener im kleinen Lichtfeld einer
Glühlampe ? hörte er hinter einer Tür, hinter der er immer
nur eine Rumpelkammer vermutet hatte, ohne sie jemals selbst
gesehen zu haben, Seufzer ausstoßen. Er blieb erstaunt stehn
und horchte noch einmal auf um festzustellen ob er sich
nicht irrte, ? es wurde ein Weilchen still, dann waren es
aber doch wieder Seufzer. ? Zuerst wollte er einen der
Diener holen, man konnte vielleicht einen Zeugen brauchen,
dann aber faßte ihn eine derart unbezähmbare Neugierde, daß
er die Tür förmlich aufriß. Es war, wie er richtig vermutet
hatte, eine Rumpelkammer. Unbrauchbare alte Drucksorten,
umgeworfene leere irdene Tintenflaschen lagen hinter der
Schwelle. In der Kammer selbst aber standen drei Männer,
gebückt in dem niedrigen Raum. Eine auf einem Regal
festgemachte Kerze gab ihnen Licht. ?Was treibt Ihr hier??
fragte K. sich vor Aufregung überstürzend, aber nicht laut.
Der eine Mann, der die andern offenbar beherrschte und
zuerst den Blick auf sich lenkte, stak in einer Art dunklern
Lederkleidung, die den Hals bis tief zur Brust und die
ganzen Arme nackt ließ. Er antwortete nicht. Aber die zwei
andern riefen: ?Herr! Wir sollen geprügelt werden, weil Du
Dich beim Untersuchungsrichter über uns beklagt hast.? Und
nun erst erkannte K., daß es wirklich die Wächter Franz und
Willem waren, und daß der Dritte eine Rute in der Hand
hielt, um sie zu prügeln. ?Nun,? sagte K. und starrte sie
an, ?ich habe mich nicht beklagt, ich habe nur gesagt, wie
es sich in meiner Wohnung zugetragen hat. Und einwandfrei
habt Ihr Euch ja nicht benommen.? ?Herr,? sagte Willem
während Franz sich hinter ihm vor dem Dritten offenbar zu
sichern suchte, ?wenn Ihr wüßtet wie schlecht wir gezahlt
sind, Ihr würdet besser über uns urteilen. Ich habe eine
Familie zu ernähren und Franz hier wollte heiraten, man
sucht sich zu bereichern, wie es geht, durch bloße Arbeit
gelingt es nicht, selbst durch die angestrengteste, Euere
feine Wäsche hat mich verlockt, es ist natürlich den
Wächtern verboten, so zu handeln, es war unrecht, aber
Tradition ist es, daß die Wäsche den Wächtern gehört, es ist
immer so gewesen, glaubt es mir; es ist ja auch
verständlich, was bedeuten denn noch solche Dinge für den,
welcher so unglücklich ist verhaftet zu werden. Bringt er es
dann allerdings öffentlich zur Sprache, dann muß die Strafe
erfolgen.? ?Was Ihr jetzt sagt, wußte ich nicht, ich habe
auch keineswegs Euere Bestrafung verlangt, mir ging es um
ein Princip.? ?Franz,? wandte sich Willem zum andern
Wächter, ?sagte ich Dir nicht, daß der Herr unsere
Bestrafung nicht verlangt hat. Jetzt hörst Du, daß er nicht
einmal gewußt hat, daß wir bestraft werden müssen.? ?Laß
Dich nicht durch solche Reden rühren,? sagte der Dritte zu
K., ?die Strafe ist ebenso gerecht als unvermeidlich.? ?Höre
nicht auf ihn,? sagte Willem und unterbrach sich nur um die
Hand, über die er einen Rutenhieb bekommen hatte schnell an
den Mund zu führen, ?wir werden nur gestraft, weil Du uns
angezeigt hast. Sonst wäre uns nichts geschehn, selbst wenn
man erfahren hätte, was wir getan haben. Kann man das
Gerechtigkeit nennen? Wir zwei, insbesondere aber ich,
hatten uns als Wächter durch lange Zeit sehr bewährt ? Du
selbst mußt eingestehn, daß wir vom Gesichtspunkt der
Behörde gesehn, gut gewacht haben ? wir hatten Aussicht
vorwärtszukommen und wären gewiß bald auch Prügler geworden,
wie dieser, der eben das Glück hatte, von niemandem
angezeigt worden zu sein, denn eine solche Anzeige kommt
wirklich nur sehr selten vor. Und jetzt Herr ist alles
verloren, unsere Laufbahn beendet, wir werden noch viel
untergeordnetere Arbeiten leisten müssen, als der Wachdienst
ist und überdies bekommen wir jetzt diese schrecklich
schmerzhaften Prügel.? ?Kann denn die Rute solche Schmerzen
machen,? fragte K. und prüfte die Rute, die der Prügler vor
ihm schwang. ?Wir werden uns ja ganz nackt ausziehn müssen,?
sagte Willem. ?Ach so,? sagte K. und sah den Prügler genauer
an, er war braun gebrannt wie ein Matrose und hatte ein
wildes frisches Gesicht. ?Gibt es keine Möglichkeit den
zwein die Prügel zu ersparen,? fragte er ihn. ?Nein,? sagte
der Prügler und schüttelte lächelnd den Kopf. ?Zieht Euch
aus,? befahl er den Wächtern. Und zu K. sagte er: ?Du mußt
ihnen nicht alles glauben. Sie sind durch die Angst vor den
Prügeln schon ein wenig schwachsinnig geworden. Was dieser
hier z. B.? ? er zeigte auf Willem ? ?über seine mögliche
Laufbahn erzählt hat, ist geradezu lächerlich. Sieh an, wie
fett er ist,? die ersten Rutenstreiche werden überhaupt im
Fett verloren gehn. ? Weißt Du wodurch er so fett geworden
ist? Er hat die Gewohnheit allen Verhafteten das Frühstück
aufzuessen. Hat er nicht auch Dein Frühstück aufgegessen?
Nun ich sagte es ja. Aber ein Mann mit einem solchen Bauch
kann nie und nimmermehr Prügler werden, das ist ganz
ausgeschlossen.? ?Es gibt auch solche Prügler,? behauptete
Willem der gerade seinen Hosengürtel löste. ?Nein!? sagte
der Prügler und strich ihm mit der Rute derartig über den
Hals, daß er zusammenzuckte, ?Du sollst nicht zuhören,
sondern Dich ausziehn.? ?Ich würde Dich gut belohnen, wenn
Du sie laufen läßt,? sagte K. und zog ohne den Prügler
nochmals anzusehn ? solche Geschäfte werden beiderseits mit
niedergeschlagenen Augen am besten abgewickelt ? seine
Brieftasche hervor. ?Du willst wohl dann auch mich
anzeigen,? sagte der Prügler, ?und auch noch mir Prügel
verschaffen. Nein, nein!? ?Sei doch vernünftig,? sagte K.,
?wenn ich gewollt hätte, daß diese zwei bestraft werden,
würde ich sie doch jetzt nicht loskaufen wollen. Ich könnte
einfach die Tür hier zuschlagen, nichts weiter sehn und
hören wollen und nachhausegehn. Nun tue ich das aber nicht,
vielmehr liegt mir ernstlich daran sie zu befreien; hätte
ich geahnt, daß sie bestraft werden sollen oder auch nur
bestraft werden können hätte ich ihre Namen nie genannt. Ich
halte sie nämlich gar nicht für schuldig, schuldig ist die
Organisation, schuldig sind die hohen Beamten.? ?So ist es,?
riefen die Wächter und bekamen sofort einen Hieb über ihren
schon entkleideten Rücken. ?Hättest Du hier unter Deiner
Rute einen hohen Richter,? sagte K. und drückte während er
sprach die Rute, die sich schon wieder erheben wollte,
nieder, ?ich würde Dich wahrhaftig nicht hindern
loszuschlagen, im Gegenteil ich würde Dir noch Geld geben,
damit Du Dich für die gute Sache kräftigst.? ?Was Du sagst,
klingt ja glaubwürdig,? sagte der Prügler, ?aber ich lasse
mich nicht bestechen. Ich bin zum Prügeln angestellt, also
prügle ich.? Der Wächter Franz, der vielleicht in Erwartung
eines guten Ausganges des Eingreifens von K. bisher ziemlich
zurückhaltend gewesen war, trat jetzt nur noch mit den Hosen
bekleidet zur Tür, hing sich niederknieend an K.?s Arm und
flüsterte: ?Wenn Du für uns beide Schonung nicht durchsetzen
kannst, so versuche wenigstens mich zu befreien. Willem ist
älter als ich, in jeder Hinsicht weniger empfindlich, auch
hat er schon einmal vor paar Jahren eine leichte
Prügelstrafe bekommen, ich aber bin noch nicht entehrt und
bin doch zu meiner Handlungsweise nur durch Willem gebracht
worden, der in Gutem und Schlechtem mein Lehrer ist. Unten
vor der Bank wartet meine arme Braut auf den Ausgang, ich
schäme mich ja so erbärmlich.? Er trocknete mit K.?s Rock
sein von Tränen ganz überlaufenes Gesicht. ?Ich warte nicht
mehr,? sagte der Prügler, faßte die Rute mit beiden Händen
und hieb auf Franz ein, während Willem in einem Winkel
kauerte und heimlich zusah, ohne eine Kopfwendung zu wagen.
Da erhob sich der Schrei, den Franz ausstieß, ungeteilt und
unveränderlich, er schien nicht von einem Menschen, sondern
von einem gemarterten Instrument zu stammen, der ganze
Korridor tönte von ihm, das ganze Haus mußte es hören,
?schrei nicht,? rief K., er konnte sich nicht zurückhalten
und während er gespannt in die Richtung sah, aus der die
Diener kommen mußten, stieß er in Franz, nicht stark aber
doch stark genug, daß der Besinnungslose niederfiel und im
Krampf mit den Händen den Boden absuchte; den Schlägen
entgieng er aber nicht, die Rute fand ihn auch auf der Erde,
während er sich unter ihr wälzte, schwang sich ihre Spitze
regelmäßig auf und ab. Und schon erschien in der Ferne ein
Diener und ein paar Schritte hinter ihm ein zweiter. K.
hatte schnell die Tür zugeworfen, war zu einem nahen
Hoffenster getreten und öffnete es. Das Schreien hatte
vollständig aufgehört. Um die Diener nicht herankommen zu
lassen, rief er: ?Ich bin es.? ?Guten Abend, Herr
Prokurist,? rief es zurück. ?Ist etwas geschehn?? ?Nein
nein,? antwortete K., ?es schreit nur ein Hund auf dem Hof.?
Als die Diener sich doch nicht rührten, fügte er hinzu: ?Sie
können bei Ihrer Arbeit bleiben.? Um sich in kein Gespräch
mit den Dienern einlassen zu müssen, beugte er sich aus dem
Fenster. Als er nach einem Weilchen wieder in den Korridor
sah, waren sie schon weg. K. aber blieb nun beim Fenster, in
die Rumpelkammer wagte er nicht zu gehn und nachhause gehn
wollte er auch nicht. Es war ein kleiner viereckiger Hof, in
den er hinunter sah, ringsherum waren Bureauräume
untergebracht, alle Fenster waren jetzt schon dunkel, nur
die obersten fiengen einen Widerschein des Mondes auf. K.
suchte angestrengt mit den Blicken in das Dunkel eines
Hofwinkels einzudringen, in dem einige Handkarren
ineinandergefahren waren. Es quälte ihn, daß es ihm nicht
gelungen war, das Prügeln zu verhindern, aber es war nicht
seine Schuld, daß es nicht gelungen war, hätte Franz nicht
geschrien ? gewiß es mußte sehr wehgetan haben, aber in
einem entscheidenden Augenblick muß man sich beherrschen ?
hätte er nicht geschrien, so hätte K., wenigstens sehr
wahrscheinlich, noch ein Mittel gefunden, den Prügler zu
überreden. Wenn die ganze unterste Beamtenschaft Gesindel
war, warum hätte gerade der Prügler, der das unmenschlichste
Amt hatte, eine Ausnahme machen sollen, K. hatte auch gut
beobachtet, wie ihm beim Anblick der Banknote die Augen
geleuchtet hatten, er hatte mit dem Prügeln offenbar nur
deshalb Ernst gemacht, um die Bestechungssumme noch ein
wenig zu erhöhn. Und K. hätte nicht gespart, es lag ihm
wirklich daran die Wächter zu befreien; wenn er nun schon
angefangen hatte die Verderbnis dieses Gerichtswesens zu
bekämpfen, so war es selbstverständlich, daß er auch von
dieser Seite eingriff. Aber in dem Augenblick, wo Franz zu
schreien angefangen hatte, war natürlich alles zuende. K.
konnte nicht zulassen, daß die Diener und vielleicht noch
alle möglichen Leute kämen und ihn in Unterhandlungen mit
der Gesellschaft in der Rumpelkammer überraschten. Diese
Aufopferung konnte wirklich niemand von K. verlangen. Wenn
er das zu tun beabsichtigt hätte, so wäre es ja fast
einfacher gewesen, K. hätte sich selbst ausgezogen und dem
Prügler als Ersatz für die Wächter angeboten. Übrigens hätte
der Prügler diese Vertretung gewiß nicht angenommen, da er
dadurch, ohne einen Vorteil zu gewinnen, dennoch seine
Pflicht schwer verletzt hätte und wahrscheinlich doppelt
verletzt hätte, denn K. mußte wohl, solange er im Verfahren
stand, für alle Angestellten des Gerichtes unverletzlich
sein. Allerdings konnten hier auch besondere Bestimmungen
gelten. Jedenfalls hatte K. nichts anderes tun können, als
die Tür zuschlagen, trotzdem dadurch auch jetzt noch für K.
durchaus nicht jede Gefahr beseitigt blieb. Daß er noch
zuletzt Franz einen Stoß gegeben hatte, war bedauerlich und
nur durch seine Aufregung zu entschuldigen.

In der Ferne hörte er die Schritte der Diener; um ihnen
nicht auffällig zu werden, schloß er das Fenster und gieng
in der Richtung zur Haupttreppe. Bei der Tür zur
Rumpelkammer blieb er ein wenig stehn und horchte. Es war
ganz still. Der Mann konnte die Wächter totgeprügelt haben,
sie waren ja ganz in seine Macht gegeben. K. hatte schon die
Hand nach der Klinke ausgestreckt, zog sie dann aber wieder
zurück. Helfen konnte er niemandem mehr und die Diener
mußten gleich kommen; er gelobte sich aber, die Sache noch
zur Sprache zu bringen und die wirklich Schuldigen, die
hohen Beamten, von denen sich ihm noch keiner zu zeigen
gewagt hatte, soweit es in seinen Kräften war, gebührend zu
bestrafen. Als er die Freitreppe der Bank hinuntergieng,
beobachtete er sorgfaltig alle Passanten, aber selbst in der
weitern Umgebung war kein Mädchen zu sehn, das auf jemanden
gewartet hätte. Die Bemerkung Franzens, daß seine Braut auf
ihn warte, erwies sich als eine allerdings verzeihliche
Lüge, die nur den Zweck gehabt hatte größeres Mitleid zu
erwecken.

Auch noch am nächsten Tage kamen K. die Wächter nicht aus
dem Sinn; er war bei der Arbeit zerstreut und mußte, um sie
zu bewältigen, noch ein wenig länger im Bureau bleiben als
am Tag vorher. Als er auf dem Nachhauseweg wieder an der
Rumpelkammer vorüberkam, öffnete er sie wie aus Gewohnheit.
Vor dem, was er statt des erwarteten Dunkels erblickte,
wußte er sich nicht zu fassen. Alles war unverändert, so wie
er es am Abend vorher beim Öffnen der Tür gefunden hatte.
Die Drucksorten und Tintenflaschen gleich hinter der
Schwelle, der Prügler mit der Rute, die noch vollständig
angezogenen Wächter, die Kerze auf dem Regal und die Wächter
begannen zu klagen und riefen: ?Herr!? Sofort warf K. die
Tür zu und schlug noch mit den Fäusten gegen sie, als sei
sie dann fester verschlossen. Fast weinend lief er zu den
Dienern, die ruhig an der Kopiermaschine arbeiteten und
erstaunt in ihrer Arbeit innehielten. ?Räumt doch endlich
die Rumpelkammer aus,? rief er. ?Wir versinken ja im
Schmutz.? Die Diener waren bereit es am nächsten Tag zu tun,
K. nickte, jetzt spät am Abend konnte er sie nicht mehr zu
der Arbeit zwingen, wie er es eigentlich beabsichtigt hatte.
Er setzte sich ein wenig, um die Diener ein Weilchen lang in
der Nähe zu behalten, warf einige Kopien durcheinander,
wodurch er den Anschein zu erwecken glaubte, daß er sie
überprüfe und gieng dann, da er einsah, daß die Diener nicht
wagen würden, gleichzeitig mit ihm wegzugehn, müde und
gedankenlos nachhause.

Der Onkel / Leni

Eines Nachmittags ? K. war gerade vor dem Postabschluß sehr
beschäftigt ? drängte sich zwischen zwei Dienern, die
Schriftstücke hereintrugen K.?s Onkel Karl, ein kleiner
Grundbesitzer vom Lande, ins Zimmer. K. erschrak bei dem
Anblick weniger, als er schon vor längerer Zeit bei der
Vorstellung vom Kommen des Onkels erschrocken war. Der Onkel
mußte kommen, das stand bei K. schon etwa einen Monat lang
fest. Schon damals hatte er ihn zu sehen geglaubt, wie er
ein wenig gebückt, den eingedrückten Panamahut in der Linken
die Rechte schon von weitem ihm entgegenstreckte und sie mit
rücksichtsloser Eile über den Schreibtisch hin reichte,
alles umstoßend, was ihm im Wege war. Der Onkel befand sich
immer in Eile, denn er war von dem unglücklichen Gedanken
verfolgt, bei seinem immer nur eintägigen Aufenthalt in der
Hauptstadt müsse er alles erledigen können, was er sich
vorgenommen hatte und dürfe überdies auch kein gelegentlich
sich darbietendes Gespräch oder Geschäft oder Vergnügen sich
entgehen lassen. Dabei mußte ihm K., der ihm als seinem
gewesenen Vormund besonders verpflichtet war, in allem
möglichen behilflich sein und ihn außerdem bei sich
übernachten lassen. ?Das Gespenst vom Lande? pflegte er ihn
zu nennen.

Gleich nach der Begrüßung ? sich in das Fauteuil zu setzen,
wozu ihn K. einlud, hatte er keine Zeit ? bat er K. um ein
kurzes Gespräch unter vier Augen. ?Es ist notwendig,? sagte
er, mühselig schluckend, ?zu meiner Beruhigung ist es
notwendig.? K. schickte sofort die Diener aus dem Zimmer mit
der Weisung niemand einzulassen. ?Was habe ich gehört,
Josef?? rief der Onkel, als sie allein waren, setzte sich
auf den Tisch und stopfte unter sich ohne hinzusehn
verschiedene Papiere, um besser zu sitzen. K. schwieg, er
wußte was kommen würde, aber, plötzlich von der
anstrengenden Arbeit entspannt, wie er war, gab er sich
zunächst einer angenehmen Mattigkeit hin und sah durch das
Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite, von der von
seinem Sitz aus nur ein kleiner dreieckiger Ausschnitt zu
sehen war, ein Stück leerer Häusermauer zwischen zwei
Geschäftsauslagen. ?Du schaust aus dem Fenster,? rief der
Onkel mit erhobenen Armen, ?um Himmelswillen Josef antworte
mir doch. Ist es wahr, kann es denn wahr sein?? ?Lieber
Onkel,? sagte K. und riß sich von seiner Zerstreutheit los,
?ich weiß ja gar nicht, was Du von mir willst.? ?Josef,?
sagte der Onkel warnend, ?die Wahrheit hast Du immer gesagt
soviel ich weiß. Soll ich Deine letzten Worte als schlimmes
Zeichen auffassen.? ?Ich ahne ja, was Du willst,? sagte K.
folgsam, ?Du hast wahrscheinlich von meinem Proceß gehört.?
?So ist es,? antwortete der Onkel, langsam nickend, ?ich
habe von Deinem Proceß gehört.? ?Von wem denn?? fragte K.
?Erna hat es mir geschrieben,? sagte der Onkel, ?sie hat ja
keinen Verkehr mit Dir, Du kümmerst Dich leider nicht viel
um sie, trotzdem hat sie es erfahren. Heute habe ich den
Brief bekommen und bin natürlich sofort hergefahren. Aus
keinem andern Grund, aber es scheint ein genügender Grund zu
sein. Ich kann Dir die Briefstelle die Dich betrifft
vorlesen.? Er zog den Brief aus der Brieftasche. ?Hier ist
es. Sie schreibt: ?Josef habe ich schon lange nicht gesehn,
vorige Woche war ich einmal in der Bank, aber Josef war so
beschäftigt, daß ich nicht vorgelassen wurde; ich habe fast
eine Stunde gewartet, mußte dann aber nachhause, weil ich
Klavierstunde hatte. Ich hätte gern mit ihm gesprochen,
vielleicht wird sich nächstens eine Gelegenheit finden. Zu
meinem Namenstag hat er mir eine große Schachtel Chokolade
geschickt, es war sehr lieb und aufmerksam. Ich hatte
vergessen, es Euch damals zu schreiben, erst jetzt da Ihr
mich fragt, erinnere ich mich daran. Chokolade müßt Ihr
wissen verschwindet nämlich in der Pension sofort, kaum ist
man zum Bewußtsein dessen gekommen, daß man mit Chokolade
beschenkt worden ist, ist sie auch schon weg. Aber was Josef
betrifft, wollte ich Euch noch etwas sagen: Wie erwähnt,
wurde ich in der Bank nicht zu ihm vorgelassen, weil er
gerade mit einem Herrn verhandelte. Nachdem ich eine
Zeitlang ruhig gewartet hatte, fragte ich einen Diener, ob
die Verhandlung noch lange dauern werde. Er sagte das dürfte
wohl sein, denn es handle sich wahrscheinlich um den Proceß,
der gegen den Herrn Prokuristen geführt werde. Ich fragte,
was denn das für ein Proceß sei, ob er sich nicht irre, er
aber sagte, er irre sich nicht, es sei ein Proceß undzwar
ein schwerer Proceß, mehr aber wisse er nicht. Er selbst
möchte dem Herrn Prokuristen gerne helfen, denn dieser sei
ein sehr guter und gerechter Herr, aber er wisse nicht wie
er es anfangen sollte und er möchte nur wünschen, daß sich
einflußreiche Herren seiner annehmen würden. Dies werde auch
sicher geschehn und es werde schließlich ein gutes Ende
nehmen, vorläufig aber stehe es, wie er aus der Laune des
Herrn Prokuristen entnehmen könne, gar nicht gut. Ich legte
diesen Reden natürlich nicht viel Bedeutung bei, suchte auch
den einfältigen Diener zu beruhigen, verbot ihm andern
gegenüber davon zu sprechen und halte das Ganze für ein
Geschwätz. Trotzdem wäre es vielleicht gut, wenn Du,
liebster Vater, bei Deinem nächsten Besuch der Sache
nachgehn wolltest, es wird Dir leicht sein, Genaueres zu
erfahren und wenn es wirklich nötig sein sollte, durch Deine
großen einflußreichen Bekanntschaften einzugreifen. Sollte
es aber nicht nötig sein, was ja das Wahrscheinlichste ist,
so wird es wenigstens Deiner Tochter bald Gelegenheit geben
Dich zu umarmen, was sie freuen würde.? Ein gutes Kind,?
sagte der Onkel als er die Vorlesung beendet hatte und
wischte einige Tränen aus den Augen fort. K. nickte, er
hatte infolge der verschiedenen Störungen der letzten Zeit
vollständig an Erna vergessen, sogar an ihren Geburtstag
hatte er vergessen und die Geschichte von der Chokolade war
offenbar nur zu dem Zweck erfunden, um ihn vor Onkel und
Tante in Schutz zu nehmen. Es war sehr rührend und mit den
Teaterkarten, die er ihr von jetzt ab regelmäßig schicken
wollte, gewiß nicht genügend belohnt, aber zu Besuchen in
der Pension und zu Unterhaltungen mit einer kleinen
siebzehnjährigen Gymnasiastin fühlte er sich jetzt nicht
geeignet. ?Und was sagst Du jetzt?? fragte der Onkel, der
durch den Brief an alle Eile und Aufregung vergessen hatte
und ihn noch einmal zu lesen schien. ?Ja, Onkel,? sagte K.,
?es ist wahr.? ?Wahr?? rief der Onkel. ?Was ist wahr? Wie
kann es denn wahr sein? Was für ein Proceß? Doch nicht ein
Strafproceß?? ?Ein Strafproceß,? antwortete K. ?Und Du sitzt
ruhig hier und hast einen Strafproceß auf dem Halse?? rief
der Onkel, der immer lauter wurde. ?Je ruhiger ich bin,
desto besser ist es für den Ausgang,? sagte K. müde.
?Fürchte nichts.? ?Das kann mich nicht beruhigen,? rief der
Onkel, ?Josef, lieber Josef, denke an Dich, an Deine
Verwandten, an unsern guten Namen. Du warst bisher unsere
Ehre, Du darfst nicht unsere Schande werden. Deine Haltung,?
er sah K. mit schief geneigtem Kopfe an, ?gefällt mir nicht,
so verhält sich kein unschuldig Angeklagter, der noch bei
Kräften ist. Sag mir nur schnell, um was es sich handelt,
damit ich Dir helfen kann. Es handelt sich natürlich um die
Bank?? ?Nein,? sagte K. und stand auf, ?Du sprichst aber zu
laut, lieber Onkel, der Diener steht wahrscheinlich an der
Tür und horcht. Das ist mir unangenehm. Wir wollen lieber
weggehn. Ich werde Dir dann alle Fragen so gut es geht
beantworten. Ich weiß sehr gut, daß ich der Familie
Rechenschaft schuldig bin.? ?Richtig,? schrie der Onkel,
?sehr richtig, beeile Dich nur, Josef, beeile Dich.? ?Ich
muß nur noch einige Aufträge geben,? sagte K. und berief
telephonisch seinen Vertreter zu sich, der in wenigen
Augenblicken eintrat. Der Onkel in seiner Aufregung zeigte
ihm mit der Hand, daß K. ihn habe rufen lassen, woran auch
sonst kein Zweifel gewesen wäre. K., der vor dem
Schreibtisch stand, erklärte dem jungen Mann, der kühl aber
aufmerksam zuhörte, mit leiser Stimme unter Zuhilfenahme
verschiedener Schriftstücke, was in seiner Abwesenheit heute
noch erledigt werden müsse. Der Onkel störte, indem er
zuerst mit großen Augen und nervösem Lippenbeißen
dabeistand, ohne allerdings zuzuhören, aber der Anschein
dessen war schon störend genug. Dann aber gieng er im Zimmer
auf und ab und blieb hie und da vor dem Fenster oder vor
einem Bild stehn, wobei er immer in verschiedene Ausrufe
ausbrach, wie: ?Mir ist es vollständig unbegreiflich? oder
?Jetzt sagt mir nur was soll denn daraus werden?. Der junge
Mann tat, als bemerke er nichts davon, hörte ruhig K.?s
Aufträge bis zu Ende an, notierte sich auch einiges und
gieng, nachdem er sich vor K. wie auch vor dem Onkel
verneigt hatte, der ihm aber gerade den Rücken zukehrte, aus
dem Fenster sah und mit ausgestreckten Händen die Vorhänge
zusammenknüllte. Die Tür hatte sich noch kaum geschlossen,
als der Onkel ausrief: ?Endlich ist der Hampelmann
weggegangen, jetzt können doch auch wir gehn. Endlich!? Es
gab leider kein Mittel, den Onkel zu bewegen, in der
Vorhalle, wo einige Beamte und Diener herumstanden und die
gerade auch der Direktor-Stellvertreter kreuzte, die Fragen
wegen des Processes zu unterlassen. ?Also, Josef,? begann
der Onkel, während er die Verbeugungen der Umstehenden durch
leichtes Salutieren beantwortete, ?jetzt sag? mir offen, was
es für ein Proceß ist.? K. machte einige nichtssagende
Bemerkungen, lachte auch ein wenig und erst auf der Treppe
erklärte er dem Onkel, daß er vor den Leuten nicht habe
offen reden wollen. ?Richtig,? sagte der Onkel, ?aber jetzt
rede.? Mit geneigtem Kopf, eine Zigarre in kurzen, eiligen
Zügen rauchend hörte er zu. ?Vor allem, Onkel,? sagte K.,
?handelt es sich gar nicht um einen Proceß vor dem
gewöhnlichen Gericht.? ?Das ist schlimm,? sagte der Onkel.
?Wie?? sagte K. und sah den Onkel an. ?Daß das schlimm ist,
meine ich,? wiederholte der Onkel. Sie standen auf der
Freitreppe, die zur Straße führte; da der Portier zu horchen
schien, zog K. den Onkel hinunter; der lebhafte
Straßenverkehr nahm sie auf. Der Onkel der sich in K.
eingehängt hatte, fragte nicht mehr so dringend nach dem
Proceß, sie giengen sogar eine Zeitlang schweigend weiter.
?Wie ist es aber geschehn?? fragte endlich der Onkel so
plötzlich stehen bleibend, daß die hinter ihm gehenden Leute
erschreckt auswichen. ?Solche Dinge kommen doch nicht
plötzlich, sie bereiten sich seit langem vor, es müssen
Anzeichen dessen gewesen sein, warum hast Du mir nicht
geschrieben. Du weißt daß ich für Dich alles tue, ich bin ja
gewissermaßen noch Dein Vormund und war bis heute stolz
darauf. Ich werde Dir natürlich auch jetzt noch helfen, nur
ist es jetzt, wenn der Proceß schon im Gange ist, sehr
schwer. Am besten wäre es jedenfalls, wenn Du Dir jetzt
einen kleinen Urlaub nimmst und zu uns aufs Land kommst. Du
bist auch ein wenig abgemagert, jetzt merke ich es. Auf dem
Land wirst Du Dich kräftigen, das wird gut sein, es stehen
Dir ja gewiß Anstrengungen bevor. Außerdem aber wirst Du
dadurch dem Gericht gewissermaßen entzogen sein. Hier haben
sie alle möglichen Machtmittel, die sie notwendiger Weise,
automatischer Weise auch Dir gegenüber anwenden; auf das
Land müßten sie aber erst Organe delegieren oder nur
brieflich telegraphisch telephonisch auf Dich einzuwirken
suchen. Das schwächt natürlich die Wirkung ab, befreit Dich
zwar nicht, aber läßt Dich aufatmen.? ?Sie könnten mir ja
verbieten, wegzufahren,? sagte K. den die Rede des Onkels
ein wenig in ihren Gedankengang gezogen hatte. ?Ich glaube
nicht daß sie das tun werden,? sagte der Onkel nachdenklich,
?so groß ist der Verlust an Macht nicht, den sie durch Deine
Abreise erleiden.? ?Ich dachte,? sagte K. und faßte den
Onkel unterm Arm, um ihn am Stehenbleiben hindern zu können,
?daß Du dem Ganzen noch weniger Bedeutung beimessen würdest
als ich und jetzt nimmst Du es selbst so schwer.? ?Josef,?
rief der Onkel und wollte sich ihm entwinden um stehn
bleiben zu können aber K. ließ ihn nicht, ?Du bist
verwandelt, Du hattest doch immer ein so richtiges
Auffassungsvermögen und gerade jetzt verläßt es Dicht Willst
Du denn den Proceß verlieren? Weißt Du was das bedeutet? Das
bedeutet, daß Du einfach gestrichen wirst. Und daß die ganze
Verwandtschaft mitgerissen oder wenigstens bis auf den Boden
gedemütigt wird. Josef, nimm Dich doch zusammen. Deine
Gleichgültigkeit bringt mich um den Verstand. Wenn man Dich
ansieht möchte man fast dem Sprichwort glauben: ?Einen
solchen Proceß haben, heißt ihn schon verloren haben?.?
?Lieber Onkel,? sagte K., ?die Aufregung ist so unnütz, sie
ist es auf Deiner Seite und wäre es auch auf meiner. Mit
Aufregung gewinnt man die Processe nicht, laß auch meine
praktischen Erfahrungen ein wenig gelten, so wie ich Deine,
selbst wenn sie mich überraschen, immer und auch jetzt sehr
achte. Da Du sagst, daß auch die Familie durch den Proceß in
Mitleidenschaft gezogen würde,? was ich für meinen Teil
durchaus nicht begreifen kann, das ist aber Nebensache ? so
will ich Dir gerne in allem folgen. Nur den Landaufenthalt
halte ich selbst in Deinem Sinn nicht für vorteilhaft, denn
das würde Flucht und Schuldbewußtsein bedeuten. Überdies bin
ich hier zwar mehr verfolgt, kann aber auch selbst die Sache
mehr betreiben.? ?Richtig,? sagte der Onkel in einem Ton als
kämen sie jetzt endlich einander näher, ?ich machte den
Vorschlag nur, weil ich wenn Du hier bliebst die Sache von
Deiner Gleichgültigkeit gefährdet sah und es für besser
hielt, wenn ich statt Deiner für Dich arbeitete. Willst Du
es aber mit aller Kraft selbst betreiben, so ist es
natürlich weit besser.? ?Darin wären wir also einig,? sagte
K. ?Und hast Du jetzt einen Vorschlag dafür, was ich
zunächst machen soll?? ?Ich muß mir natürlich die Sache noch
überlegen,? sagte der Onkel, ?Du mußt bedenken, daß ich
jetzt schon zwanzig Jahre fast ununterbrochen auf dem Land
bin, dabei läßt der Spürsinn in diesen Richtungen nach.
Verschiedene wichtige Verbindungen mit Persönlichkeiten, die
sich hier vielleicht besser auskennen, haben sich von selbst
gelockert. Ich bin auf dem Land ein wenig verlassen, das
weißt Du ja. Selbst merkt man es eigentlich erst bei solchen
Gelegenheiten. Zum Teil kam mir Deine Sache auch unerwartet,
wenn ich auch merkwürdiger Weise nach Ernas Brief schon
etwas derartiges ahnte und es heute bei Deinem Anblick fast
mit Bestimmtheit wußte. Aber das ist gleichgültig, das
Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren.? Schon
während seiner Rede hatte er auf den Fußspitzen stehend
einem Automobil gewinkt und zog jetzt während er
gleichzeitig dem Wagenlenker eine Adresse zurief K. hinter
sich in den Wagen. ?Wir fahren jetzt zum Advokaten Huld,?
sagte er, ?er war mein Schulkollege. Du kennst den Namen
gewiß auch Nicht? Das ist aber merkwürdig. Er hat doch als
Verteidiger und Armenadvokat einen bedeutenden Ruf. Ich aber
habe besonders zu ihm als Menschen großes Vertrauen.? ?Mir
ist alles recht, was Du unternimmst,? sagte K., trotzdem ihm
die eilige und dringliche Art mit der der Onkel die
Angelegenheit behandelte, Unbehagen verursachte. Es war
nicht sehr erfreulich, als Angeklagter zu einem
Armenadvokaten zu fahren. ?Ich wußte nicht,? sagte er, ?daß
man in einer solchen Sache auch einen Advokaten zuziehn
könne.? ?Aber natürlich,? sagte der Onkel, ?das ist ja
selbstverständlich. Warum denn nicht Und nun erzähle mir,
damit ich über die Sache genau unterrichtet bin, alles was
bisher geschehen ist.? K. begann sofort zu erzählen, ohne
irgendetwas zu verschweigen, seine vollständige Offenheit
war der einzige Protest, den er sich gegen des Onkels
Ansicht, der Proceß sei eine große Schande, erlauben konnte.
Fräulein Bürstners Namen erwähnte er nur einmal und
flüchtig, aber das beeinträchtigte nicht die Offenheit, denn
Fräulein Bürstner stand mit dem Proceß in keiner Verbindung.
Während er erzählte, sah er aus dem Fenster und beobachtete,
wie sie sich gerade jener Vorstadt näherten, in der die
Gerichtskanzleien waren, er machte den Onkel darauf
aufmerksam, der aber das Zusammentreffen nicht besonders
auffallend fand. Der Wagen hielt vor einem dunklen Haus. Der
Onkel läutete gleich im Parterre bei der ersten Tür; während
sie warteten, fletschte er lächelnd seine großen Zähne und
flüsterte: ?Acht Uhr, eine ungewöhnliche Zeit für
Parteienbesuche. Huld nimmt es mir aber nicht übel.? Im
Guckfenster der Tür erschienen zwei große schwarze Augen,
sahen ein Weilchen die zwei Gäste an und verschwanden; die
Tür öffnete sich aber nicht. Der Onkel und K. bestätigten
einander gegenseitig die Tatsache, die zwei Augen gesehen zu
haben. ?Ein neues Stubenmädchen, das sich vor Fremden
fürchtet,? sagte der Onkel und klopfte nochmals. Wieder
erschienen die Augen, man konnte sie jetzt fast für traurig
halten, vielleicht war das aber auch nur eine Täuschung,
hervorgerufen durch die offene Gasflamme, die nahe über den
Köpfen stark zischend brannte, aber wenig Licht gab. ?Öffnen
Sie,? rief der Onkel und hieb mit der Faust gegen die Tür,
?es sind Freunde des Herrn Advokaten.? ?Der Herr Advokat ist
krank,? flüsterte es hinter ihnen. In einer Tür am andern
Ende des kleinen Ganges stand ein Herr im Schlafrock und
machte mit äußerst leiser Stimme diese Mitteilung. Der
Onkel, der schon wegen des langen Wartens wütend war, wandte
sich mit einem Ruck um, rief: ?Krank? Sie sagen, er ist
krank?? und gieng fast drohend, als sei der Herr die
Krankheit, auf ihn zu. ?Man hat schon geöffnet,? sagte der
Herr, zeigte auf die Tür des Advokaten, raffte seinen
Schlafrock zusammen und verschwand. Die Tür war wirklich
geöffnet worden, ein junges Mädchen ? K. erkannte die
dunklen ein wenig hervorgewälzten Augen wieder ? stand in
langer weißer Schürze im Vorzimmer und hielt eine Kerze in
der Hand. ?Nächstens öffnen Sie früher,? sagte der Onkel
statt einer Begrüßung, während das Mädchen einen kleinen
Knix machte. ?Komm, Josef,? sagte er dann zu K., der sich
langsam an dem Mädchen vorüberschob. ?Der Herr Advokat ist
krank,? sagte das Mädchen, da der Onkel ohne sich
aufzuhalten auf eine Tür zueilte. K. staunte das Mädchen
noch an, während es sich schon umgedreht hatte, um die
Wohnungstüre wieder zu versperren, es hatte ein puppenförmig
gerundetes Gesicht, nicht nur die bleichen Wangen und das
Kinn verliefen rund, auch die Schläfen und die Stirnränder.
?Josef,? rief der Onkel wieder und das Mädchen fragte er:
?Es ist das Herzleiden?? ?Ich glaube wohl,? sagte das
Mädchen, es hatte Zeit gefunden mit der Kerze voranzugehn
und die Zimmertür zu öffnen. In einem Winkel des Zimmers,
wohin das Kerzenlicht noch nicht drang, erhob sich im Bett
ein Gesicht mit langem Bart. ?Leni, wer kommt denn,? fragte
der Advokat, der durch die Kerze geblendet die Gäste noch
nicht erkannte. ?Albert, Dein alter Freund ist es,? sagte
der Onkel. ?Ach Albert,? sagte der Advokat und ließ sich auf
die Kissen zurückfallen, als bedürfe es diesem Besuch
gegenüber keiner Verstellung. ?Steht es wirklich so
schlecht?? fragte der Onkel und setzte sich auf den
Bettrand. ?Ich glaube es nicht. Es ist ein Anfall Deines
Herzleidens und wird vorübergehn wie die frühern.?
?Möglich,? sagte der Advokat leise, ?es ist aber ärger als
es jemals gewesen ist. Ich atme schwer, schlafe gar nicht
und verliere täglich an Kraft.? So,? sagte der Onkel und
drückte den Panamahut mit seiner großen Hand fest aufs Knie.
?Das sind schlechte Nachrichten. Hast Du übrigens die
richtige Pflege? Es ist auch so traurig hier, so dunkel. Es
ist schon lange her, seitdem ich zum letztenmal hier war,
damals schien es mir freundlicher. Auch Dein kleines
Fräulein hier scheint nicht sehr lustig oder sie verstellt
sich.? Das Mädchen stand noch immer mit der Kerze nahe bei
der Tür, soweit ihr unbestimmter Blick erkennen ließ sah sie
eher K. an als den Onkel, selbst als dieser jetzt von ihr
sprach. K. lehnte an einem Sessel, den er in die Nähe des
Mädchens geschoben hatte. ?Wenn man so krank ist, wie ich,?
sagte der Advokat, ?muß man Ruhe haben. Mir ist es nicht
traurig.? Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: ?Und Leni
pflegt mich gut, sie ist brav.? Den Onkel konnte das aber
nicht überzeugen, er war sichtlich gegen die Pflegerin
voreingenommen und wenn er jetzt auch dem Kranken nichts
entgegnete so verfolgte er doch die Pflegerin mit strengen
Blicken, als sie jetzt zum Bett hingieng, die Kerze auf das
Nachttischchen stellte, sich über den Kranken hinbeugte und
beim Ordnen der Kissen mit ihm flüsterte. Er vergaß fast die
Rücksicht auf den Kranken, stand auf, gieng hinter der
Pflegerin hin und her und K. hätte es nicht gewundert, wenn
er sie hinten an den Röcken erfaßt und vom Bett fortgezogen
hätte. K. selbst sah allem ruhig zu, die Krankheit des
Advokaten war ihm sogar nicht ganz unwillkommen, dem Eifer,
den der Onkel für seine Sache entwickelt hatte, hatte er
sich nicht entgegenstellen können, die Ablenkung, die dieser
Eifer jetzt ohne sein Zutun erfuhr, nahm er gerne hin. Da
sagte der Onkel, vielleicht nur in der Absicht die Pflegerin
zu beleidigen: ?Fräulein bitte, lassen Sie uns ein Weilchen
allein, ich habe mit meinem Freund eine persönliche
Angelegenheit zu besprechen.? Die Pflegerin, die noch weit
über den Kranken hingebeugt war und gerade das Leintuch an
der Wand glättete, wendete nur den Kopf und sagte sehr
ruhig, was einen auffallenden Unterschied zu dem von Wut
stockenden und dann wieder überfließenden Reden des Onkels
bildete: ?Sie sehen, der Herr ist so krank, er kann keine
Angelegenheiten besprechen.? Sie hatte die Worte des Onkels
wahrscheinlich nur aus Bequemlichkeit wiederholt, immerhin
konnte es selbst von einem Unbeteiligten als spöttisch
aufgefaßt werden, der Onkel aber fuhr natürlich wie ein
Gestochener auf. ?Du Verdammte,? sagte er im ersten Gurgeln
der Aufregung noch ziemlich unverständlich, K. erschrak
trotzdem er etwas Ähnliches erwartet hatte, und lief auf den
Onkel zu mit der bestimmten Absicht ihm mit beiden Händen
den Mund zu schließen. Glücklicherweise erhob sich aber
hinter dem Mädchen der Kranke, der Onkel machte ein
finsteres Gesicht, als schlucke er etwas Abscheuliches
hinunter, und sagte dann ruhiger: ?Wir haben natürlich auch
noch den Verstand nicht verloren; wäre das was ich verlange
nicht möglich, würde ich es nicht verlangen. Bitte gehn Sie
jetzt.? Die Pflegerin stand aufgerichtet am Bett, dem Onkel
voll zugewendet, mit der einen Hand streichelte sie, wie K.
zu bemerken glaubte die Hand des Advokaten. ?Du kannst vor
Leni alles sagen,? sagte der Kranke zweifellos im Ton einer
dringenden Bitte. ?Es betrifft nicht mich,? sagte der Onkel,
?es ist nicht mein Geheimnis.? Und er drehte sich um, als
gedenke er in keine Verhandlungen mehr einzugehn, gebe aber
noch eine kleine Bedenkzeit. ?Wen betrifft es denn?? fragte
der Advokat mit erlöschender Stimme und legte sich wieder
zurück. ?Meinen Neffen,? sagte der Onkel, ?ich habe ihn auch
mitgebracht.? Und er stellte vor: ?Prokurist Josef K.? ?Oh,?
sagte der Kranke viel lebhafter und streckte K. die Hand
entgegen, ?verzeihen Sie, ich habe Sie gar nicht bemerkt.?
?Geh, Leni,? sagte er dann zu der Pflegerin, die sich auch
gar nicht mehr wehrte, und reichte ihr die Hand, als gelte
es einen Abschied für lange Zeit. ?Du bist also,? sagte er
endlich zum Onkel, der auch versöhnt nähergetreten war,
?nicht gekommen, mir einen Krankenbesuch zu machen, sondern
Du kommst in Geschäften.? Es war als hätte die Vorstellung
eines Krankenbesuches den Advokaten bisher gelähmt, so
gekräftigt sah er jetzt aus, blieb ständig auf einen Elbogen
aufgestützt, was ziemlich anstrengend sein mußte und zog
immer wieder an einem Bartstrahn in der Mitte seines Bartes.
?Du siehst schon viel gesünder aus,? sagte der Onkel,
?seitdem diese Hexe draußen ist.? Er unterbrach sich,
flüsterte: ?Ich wette daß sie horcht? und sprang zur Tür.
Aber hinter der Tür war niemand, der Onkel kam zurück, nicht
enttäuscht, denn ihr Nichthorchen erschien ihm als eine noch
größere Bosheit, wohl aber verbittert. ?Du verkennst sie,?
sagte der Advokat, ohne die Pflegerin weiter in Schutz zu
nehmen; vielleicht wollte er damit ausdrücken, daß sie nicht
schutzbedürftig sei. Aber in viel teilnehmenderem Tone fuhr
er fort: ?Was die Angelegenheit Deines Herrn Neffen
betrifft, so würde ich mich allerdings glücklich schätzen,
wenn meine Kraft für diese äußerst schwierige Aufgabe
ausreichen könnte; ich fürchte sehr, daß sie nicht
ausreichen wird, jedenfalls will ich nichts unversucht
lassen; wenn ich nicht ausreiche könnte man ja noch jemanden
andern beiziehn. Um aufrichtig zu sein, interessiert mich
die Sache zu sehr, als daß ich es über mich bringen könnte,
auf jede Beteiligung zu verzichten. Hält es mein Herz nicht
aus, so wird es doch wenigstens hier eine würdige
Gelegenheit finden, gänzlich zu versagen.? K. glaubte kein
Wort dieser ganzen Rede zu verstehn, er sah den Onkel an, um
dort eine Erklärung zu finden, aber dieser saß mit der Kerze
in der Hand auf dem Nachttischchen, von dem bereits eine
Arzneiflasche auf den Teppich gerollt war, nickte zu allem,
was der Advokat sagte, war mit allem einverstanden und sah
hie und da auf K. mit der Aufforderung zu gleichem
Einverständnis hin. Hatte vielleicht der Onkel schon früher
dem Advokaten von dem Proceß erzählt, aber das war
unmöglich, alles was vorhergegangen war, sprach dagegen.
?Ich verstehe nicht ?? sagte er deshalb. ?Ja, habe
vielleicht ich Sie mißverstanden?? fragte der Advokat ebenso
erstaunt und verlegen wie K. ?Ich war vielleicht voreilig.
Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen? Ich dachte es
handle sich um Ihren Proceß?? ?Natürlich,? sagte der Onkel
und fragte dann K.: ?Was willst Du denn?? ?Ja, aber woher
wissen Sie denn etwas über mich und meinen Proceß?? fragte
K. ?Ach so,? sagte der Advokat lächelnd, ?ich bin doch
Advokat, ich verkehre in Gerichtskreisen, man spricht über
verschiedene Processe und auffallendere, besonders wenn es
den Neffen eines Freundes betrifft, behält man im
Gedächtnis. Das ist doch nichts merkwürdiges.? ?Was willst
Du denn?? fragte der Onkel K. nochmals, ?Du bist so
unruhig.? ?Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen,? fragte
K. ?Ja,? sagte der Advokat. ?Du fragst wie ein Kind,? sagte
der Onkel. ?Mit wem sollte ich denn verkehren, wenn nicht
mit Leuten meines Faches?? fügte der Advokat hinzu. Es klang
so unwiderleglich, daß K. gar nicht antwortete. ?Sie
arbeiten doch bei dem Gericht im Justizpalast, und nicht bei
dem auf dem Dachboden,? hatte er sagen wollen, konnte sich
aber nicht überwinden, es wirklich zu sagen. ?Sie müssen
doch bedenken,? fuhr der Advokat fort, in einem Tone, als
erkläre er etwas selbstverständliches, überflüssigerweise
und nebenbei, ?Sie müssen doch bedenken, daß ich aus einem
solchen Verkehr auch große Vorteile für meine Klientel ziehe
undzwar in vielfacher Hinsicht, man darf nicht einmal immer
davon reden. Natürlich bin ich jetzt infolge meiner
Krankheit ein wenig behindert, aber ich bekomme trotzdem
Besuch von guten Freunden vom Gericht und erfahre doch
einiges. Erfahre vielleicht mehr, als manche die in bester
Gesundheit den ganzen Tag bei Gericht verbringen. So habe
ich z. B. gerade jetzt einen lieben Besuch.? Und er zeigte
in eine dunkle Zimmerecke. ?Wo denn?? fragte K. in der
ersten Überraschung fast grob. Er sah unsicher herum; das
Licht der kleinen Kerze drang bis zur gegenüberliegenden
Wand bei weitem nicht. Und wirklich begann sich dort in der
Ecke etwas zu rühren. Im Licht der Kerze die der Onkel jetzt
hochhielt, sah man dort bei einem kleinen Tischchen einen
ältern Herrn sitzen. Er hatte wohl gar nicht geatmet, daß er
solange unbemerkt geblieben war. Jetzt stand er umständlich
auf, offenbar unzufrieden damit daß man auf ihn aufmerksam
gemacht hatte. Es war als wolle er mit den Händen, die er
wie kurze Flügel bewegte, alle Vorstellungen und Begrüßungen
abwehren, als wolle er auf keinen Fall die andern durch
seine Anwesenheit stören und als bitte er dringend wieder um
die Versetzung ins Dunkel und um das Vergessen seiner
Anwesenheit. Das konnte man ihm nun aber nicht mehr
zugestehn. ?Ihr habt uns nämlich überrascht,? sagte der
Advokat zur Erklärung und winkte dabei dem Herrn aufmunternd
zu, näherzukommen, was dieser langsam, zögernd herumblickend
und doch mit einer gewissen Würde tat, ?der Herr
Kanzleidirektor ? ach so, Verzeihung, ich habe nicht
vorgestellt ? hier mein Freund Albert K., hier sein Neffe
Prokurist Josef K. und hier der Herr Kanzleidirektor ? der
Herr Kanzleidirektor also war so freundlich mich zu
besuchen. Den Wert eines solchen Besuches kann eigentlich
nur der Eingeweihte würdigen, welcher weiß, wie der Herr
Kanzleidirektor mit Arbeit überhäuft ist. Nun er kam also
trotzdem, wir unterhielten uns friedlich, soweit meine
Schwäche es erlaubte, wir hatten zwar Leni nicht verboten
Besuche einzulassen, denn es waren keine zu erwarten, aber
unsere Meinung war doch, daß wir allein bleiben sollten,
dann aber kamen Deine Fausthiebe, Albert, der Herr
Kanzleidirektor rückte mit Sessel und Tisch in den Winkel,
nun aber zeigt sich, daß wir möglicherweise, d. h. wenn der
Wunsch danach besteht, eine gemeinsame Angelegenheit zu
besprechen haben und sehr gut wieder zusammenrücken können.
Herr Kanzleidirektor,? sagte er mit Kopfneigen und
unterwürfigem Lächeln und zeigte auf einen Lehnstuhl in der
Nähe des Bettes. ?Ich kann leider nur noch paar Minuten
bleiben,? sagte der Kanzleidirektor freundlich, setzte sich
breit in den Lehnstuhl und sah auf die Uhr, ?die Geschäfte
rufen mich. Jedenfalls will ich nicht die Gelegenheit
vorübergehn lassen, einen Freund meines Freundes kennen zu
lernen.? Er neigte den Kopf leicht gegen den Onkel, der von
der neuen Bekanntschaft sehr befriedigt schien, aber infolge
seiner Natur Gefühle der Ergebenheit nicht ausdrücken konnte
und die Worte des Kanzleidirektors mit verlegenem aber
lautem Lachen begleitete. Ein häßlicher Anblick! K. konnte
ruhig alles beobachten, denn um ihn kümmerte sich niemand,
der Kanzleidirektor nahm, wie es seine Gewohnheit schien, da
er nun schon einmal hervorgezogen war die Herrschaft über
das Gespräch an sich, der Advokat, dessen erste Schwäche
vielleicht nur dazu hatte dienen sollen, den neuen Besuch zu
vertreiben, hörte aufmerksam, die Hand am Ohre zu, der Onkel
als Kerzenträger ? er balanzierte die Kerze auf seinem
Schenkel, der Advokat sah öfters besorgt hin ? war bald frei
von Verlegenheit und nur noch entzückt sowohl von der Art
der Rede des Kanzleidirektors als auch von den sanften
wellenförmigen Handbewegungen, mit denen er sie begleitete.
K., der am Bettpfosten lehnte, wurde vom Kanzleidirektor
vielleicht sogar mit Absicht vollständig vernachlässigt und
diente den alten Herren nur als Zuhörer. Übrigens wußte er
kaum wovon die Rede war und dachte bald an die Pflegerin und
an die schlechte Behandlung, die sie vom Onkel erfahren
hatte, bald daran, ob er den Kanzleidirektor nicht schon
einmal gesehn hatte, vielleicht sogar in der Versammlung bei
seiner ersten Untersuchung. Wenn er sich auch vielleicht
täuschte, so hätte sich doch der Kanzleidirektor den
Versammlungsteilnehmern in der ersten Reihe, den alten
Herren mit den schüttern Bärten vorzüglich eingefügt.

Da ließ ein Lärm aus dem Vorzimmer wie von zerbrechendem
Porzellan alle aufhorchen. ?Ich will nachsehn, was geschehen
ist,? sagte K. und gieng langsam hinaus als gebe er den
andern noch Gelegenheit ihn zurückzuhalten. Kaum war er ins
Vorzimmer getreten und wollte sich im Dunkel zurechtfinden,
als sich auf die Hand, mit der er die Tür noch festhielt,
eine kleine Hand legte, viel kleiner als K.?s Hand, und die
Tür leise schloß. Es war die Pflegerin, die hier gewartet
hatte. ?Es ist nichts geschehn,? flüsterte sie, ?ich habe
nur einen Teller gegen die Mauer geworfen, um Sie
herauszuholen.? In seiner Befangenheit sagte K.: ?Ich habe
auch an Sie gedacht.? ?Desto besser,? sagte die Pflegerin.
?Kommen Sie.? Nach ein paar Schritten kamen sie zu einer Tür
aus mattem Glas, welche die Pflegerin vor K. öffnete.
?Treten Sie doch ein,? sagte sie. Es war jedenfalls das
Arbeitszimmer des Advokaten; soweit man im Mondlicht sehen
konnte, das jetzt nur einen kleinen viereckigen Teil des
Fußbodens an jedem der zwei großen Fenster stark erhellte,
war es mit schweren alten Möbeln ausgestattet. ?Hierher,?
sagte die Pflegerin und zeigte auf eine dunkle Truhe mit
holzgeschnitzter Lehne. Noch als er sich gesetzt hatte, sah
sich K. im Zimmer um, es war ein hohes großes Zimmer, die
Kundschaft des Armenadvokaten mußte sich hier verloren
vorkommen. K. glaubte die kleinen Schritte zu sehn, mit
denen die Besucher zu dem gewaltigen Schreibtisch
vorrückten. Dann aber vergaß er daran und hatte nur noch
Augen für die Pflegerin, die ganz nahe neben ihm saß und ihn
fast an die Seitenlehne drückte. ?Ich dachte,? sagte sie,
?Sie würden allein zu mir herauskommen ohne daß ich Sie erst
rufen müßte. Es war doch merkwürdig. Zuerst sahen Sie mich
gleich beim Eintritt ununterbrochen an und dann ließen Sie
mich warten.? ?Nennen Sie mich übrigens Leni,? fügte sie
noch rasch und unvermittelt ein, als solle kein Augenblick
dieser Aussprache versäumt werden. ?Gern,? sagte K. ?Was
aber die Merkwürdigkeit betrifft, Leni, so ist sie leicht zu
erklären. Erstens mußte ich doch das Geschwätz der alten
Herren anhören und konnte nicht grundlos weglaufen, zweitens
aber bin ich nicht frech, sondern eher schüchtern und auch
Sie Leni sahen wahrhaftig nicht so aus, als ob Sie in einem
Sprung zu gewinnen wären.? ?Das ist es nicht,? sagte Leni,
legte den Arm über die Lehne und sah K. an, ?aber ich gefiel
Ihnen nicht und gefalle Ihnen wahrscheinlich auch jetzt
nicht.? ?Gefallen wäre ja nicht viel,? sagte K. ausweichend.
?Oh!? sagte sie lächelnd und gewann durch K.?s Bemerkung und
diesen kleinen Ausruf eine gewisse Überlegenheit. Deshalb
schwieg K. ein Weilchen. Da er sich an das Dunkel im Zimmer
schon gewöhnt hatte, konnte er verschiedene Einzelheiten der
Einrichtung unterscheiden. Besonders fiel ihm ein großes
Bild auf, das rechts von der Tür hieng, er beugte sich vor,
um es besser zu sehn. Es stellte einen Mann im Richtertalar
dar; er saß auf einem hohen Tronsessel, dessen Vergoldung
vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war,
daß dieser Richter nicht in Ruhe und Würde dort saß, sondern
den linken Arm fest an Rücken- und Seitenlehne drückte, den
rechten Arm aber völlig frei hatte und nur mit der Hand die
Seitenlehne umfaßte, als wolle er im nächsten Augenblick mit
einer heftigen und vielleicht empörten Wendung aufspringen
um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu
verkünden. Der Angeklagte war wohl zu Füßen der Treppe zu
denken, deren oberste mit einem gelben Teppich bedeckte
Stufen noch auf dem Bilde zu sehen waren. ?Vielleicht ist
das mein Richter,? sagte K. und zeigte mit einem Finger auf
das Bild. ?Ich kenne ihn,? sagte Leni und sah auch zum Bilde
auf, ?er kommt öfters hierher. Das Bild stammt aus seiner
Jugend, er kann aber niemals dem Bilde auch nur ähnlich
gewesen sein, denn er ist fast winzig klein. Trotzdem hat er
sich auf dem Bild so in die Länge ziehen lassen, denn er ist
unsinnig eitel, wie alle hier. Aber auch ich bin eitel und
sehr unzufrieden damit, daß ich Ihnen gar nicht gefalle.? Zu
der letzten Bemerkung antwortete K. nur damit, daß er Leni
umfaßte und an sich zog, sie lehnte still den Kopf an seine
Schulter. Zu dem übrigen aber sagte er: ?Was für einen Rang
hat er?? ?Er ist Untersuchungsrichter,? sagte sie, ergriff
K.?s Hand mit der er sie umfaßt hielt und spielte mit seinen
Fingern. ?Wieder nur Untersuchungsrichter,? sagte K.
enttäuscht, ?die hohen Beamten verstecken sich. Aber er
sitzt doch auf einem Tronsessel.? ?Das ist alles Erfindung,?
sagte Leni, das Gesicht über K.?s Hand gebeugt, ?in
Wirklichkeit sitzt er auf einem Küchensessel, auf dem eine
alte Pferdedecke zusammengelegt ist. Aber müssen Sie denn
immerfort an Ihren Proceß denken?? fügte sie langsam hinzu.
?Nein, durchaus nicht,? sagte K., ?ich denke wahrscheinlich
sogar zu wenig an ihn.? ?Das ist nicht der Fehler, den Sie
machen,? sagte Leni, ?Sie sind zu unnachgiebig, so habe ich
es gehört.? ?Wer hat das gesagt?? fragte K., er fühlte ihren
Körper an seiner Brust und sah auf ihr reiches dunkles fest
gedrehtes Haar hinab. ?Ich würde zuviel verraten, wenn ich
das sagte,? antwortete Leni. ?Fragen Sie bitte nicht nach
Namen, stellen Sie aber Ihren Fehler ab, seien Sie nicht
mehr so unnachgiebig, gegen dieses Gericht kann man sich ja
nicht wehren, man muß das Geständnis machen. Machen Sie doch
bei nächster Gelegenheit das Geständnis. Erst dann ist die
Möglichkeit zu entschlüpfen gegeben, erst dann. Jedoch
selbst das ist ohne fremde Hilfe nicht möglich, wegen dieser
Hilfe aber müssen Sie sich nicht ängstigen, die will ich
Ihnen selbst leisten.? ?Sie verstehen viel von diesem
Gericht und von den Betrügereien, die hier nötig sind,?
sagte K. und hob sie, da sie sich allzu stark an ihn
drängte, auf seinen Schooß. ?So ist es gut,? sagte sie und
richtete sich auf seinem Schooß ein, indem sie den Rock
glättete und die Bluse zurechtzog. Dann hieng sie sich mit
beiden Händen an seinen Hals, lehnte sich zurück und sah ihn
lange an. ?Und wenn ich das Geständnis nicht mache, dann
können Sie mir nicht helfen?? fragte K. versuchsweise. Ich
werbe Helferinnen, dachte er fast verwundert, zuerst
Fräulein Bürstner, dann die Frau des Gerichtsdieners und
endlich diese kleine Pflegerin, die ein unbegreifliches
Bedürfnis nach mir zu haben scheint. Wie sie auf meinem
Schooß sitzt, als sei es ihr einzig richtiger Platz! ?Nein,?
antwortete Leni und schüttelte langsam den Kopf, ?dann kann
ich Ihnen nicht helfen. Aber Sie wollen ja meine Hilfe gar
nicht, es liegt Ihnen nichts daran, Sie sind eigensinnig und
lassen sich nicht überzeugen.? ?Haben Sie eine Geliebte??
fragte sie nach einem Weilchen. ?Nein,? sagte K. ?Oh doch,?
sagte sie. ?Ja, wirklich,? sagte K., ?denken Sie nur, ich
habe sie verleugnet und trage doch sogar ihre Photographie
bei mir.? Auf ihre Bitten zeigte er ihr eine Photographie
Elsas, zusammengekrümmt auf seinem Schooß studierte sie das
Bild. Es war eine Momentphotographie, Elsa war nach einem
Wirbeltanz aufgenommen, wie sie ihn in dem Weinlokal gern
tanzte, ihr Rock flog noch im Faltenwurf der Drehung um sie
her, die Hände hatte sie auf die Hüften gelegt und sah mit
straffem Hals lachend zur Seite; wem ihr Lachen galt, konnte
man aus dem Bild nicht erkennen. ?Sie ist stark geschnürt,?
sagte Leni und zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer Meinung
nach zu sehen war. ?Sie gefällt mir nicht, sie ist
unbeholfen und roh. Vielleicht ist sie aber Ihnen gegenüber
sanft und freundlich, darauf könnte man nach dem Bilde
schließen. So große starke Mädchen wissen oft nichts anderes
als sanft und freundlich zu sein. Würde sie sich aber für
Sie opfern können?? ?Nein,? sagte K., ?sie ist weder sanft
und freundlich noch würde sie sich für mich opfern können.
Auch habe ich bisher weder das eine noch das andere von ihr
verlangt. Ja ich habe noch nicht einmal das Bild so genau
angesehn, wie Sie.? ?Es liegt Ihnen also gar nicht viel an
ihr,? sagte Leni, ?sie ist also gar nicht Ihre Geliebte.?
?Doch,? sagte K. ?Ich nehme mein Wort nicht zurück.? ?Mag
sie also jetzt Ihre Geliebte sein,? sagte Leni, ?Sie würden
sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie sie verlieren oder
für jemand andern z. B. für mich eintauschen würden.?
?Gewiß,? sagte K. lächelnd, ?das wäre denkbar, aber sie hat
einen großen Vorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts von
meinem Proceß, und selbst wenn sie etwas davon wüßte, würde
sie nicht daran denken. Sie würde mich nicht zur
Nachgiebigkeit zu überreden suchen.? ?Das ist kein Vorteil,?
sagte Leni. ?Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere
ich nicht den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler??
?Einen körperlichen Fehler?? fragte K. ?Ja,? sagte Leni,
?ich habe nämlich einen solchen kleinen Fehler, sehen Sie.?
Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand
auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis
zum obersten Gelenk der kurzen Finger reichte. K. merkte im
Dunkel nicht gleich, was sie ihm zeigen wollte, sie führte
deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste. ?Was für ein
Naturspiel,? sagte K. und fügte, als er die ganze Hand
überblickt hatte, hinzu: ?Was für eine hübsche Kralle!? Mit
einer Art Stolz sah Leni zu, wie K. staunend immer wieder
ihre zwei Finger auseinanderzog und zusammenlegte, bis er
sie schließlich flüchtig küßte und losließ. ?Oh!? rief sie
aber sofort, ?Sie haben mich geküßt!? Eilig, mit offenem
Mund erkletterte sie mit den Knien seinen Schooß, K. sah
fast bestürzt zu ihr auf, jetzt da sie ihm so nahe war gieng
ein bitterer aufreizender Geruch wie von Pfeffer von ihr
aus, sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn
hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst in seine
Haare. ?Sie haben mich eingetauscht,? rief sie von Zeit zu
Zeit, ?sehen Sie nun haben Sie mich doch eingetauscht!? Da
glitt ihr Knie aus, mit einem kleinen Schrei fiel sie fast
auf den Teppich, K. umfaßte sie, um sie noch zu halten, und
wurde zu ihr hinabgezogen. ?Jetzt gehörst Du mir,? sagte
sie.

?Hier hast Du den Hausschlüssel, komm wann Du willst,? waren
ihre letzten Worte und ein zielloser Kuß traf ihn noch im
Weggehn auf den Rücken. Als er aus dem Haustor trat, fiel
ein leichter Regen, er wollte in die Mitte der Straße gehn,
um vielleicht Leni noch beim Fenster erblicken zu können, da
stürzte aus einem Automobil, das vor dem Hause wartete und
das K. in seiner Zerstreutheit gar nicht bemerkt hatte, der
Onkel, faßte ihn bei den Armen und stieß ihn gegen das
Haustor, als wolle er ihn dort festnageln. ?Junge,? rief er,
?wie konntest Du nur das tun! Du hast Deiner Sache, die auf
gutem Wege war, schrecklich geschadet. Verkriechst Dich mit
einem kleinen schmutzigen Ding, das überdies offensichtlich
die Geliebte des Advokaten ist, und bleibst stundenlang weg.
Suchst nicht einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts,
nein, bist ganz offen, laufst zu ihr und bleibst bei ihr.
Und unterdessen sitzen wir beisammen, der Onkel, der sich
für Dich abmüht, der Advokat, der für Dich gewonnen werden
soll, der Kanzleidirektor vor allem, dieser große Herr, der
Deine Sache in ihrem jetzigen Stadium geradezu beherrscht.
Wir wollen beraten wie Dir zu helfen wäre, ich muß den
Advokaten vorsichtig behandeln, dieser wieder den
Kanzleidirektor und Du hättest doch allen Grund mich
wenigstens zu unterstützen. Statt dessen bleibst Du fort.
Schließlich läßt es sich nicht verheimlichen, nun es sind
höfliche gewandte Männer, sie sprechen nicht davon, sie
schonen mich, schließlich können aber auch sie sich nicht
mehr überwinden und da sie von der Sache nicht reden können,
verstummen sie. Wir sind minutenlang schweigend dagesessen
und haben gehorcht ob Du nicht doch endlich kämest. Alles
vergebens. Endlich steht der Kanzleidirektor, der viel
länger geblieben ist, als er ursprünglich wollte, auf,
verabschiedet sich, bedauert mich sichtlich ohne mir helfen
zu können, wartet in unbegreiflicher Liebenswürdigkeit noch
eine Zeitlang in der Tür, dann geht er. Ich war natürlich
glücklich, daß er weg war, mir war schon die Luft zum Atmen
ausgegangen. Auf den kranken Advokaten hat alles noch
stärker eingewirkt, er konnte, der gute Mann, gar nicht
sprechen als ich mich von ihm verabschiedete. Du hast
wahrscheinlich zu seinem vollständigen Zusammenbrechen
beigetragen und beschleunigst so den Tod eines Mannes auf
den Du angewiesen bist. Und mich Deinen Onkel läßt Du hier
im Regen, fühle nur, ich bin ganz durchnäßt, stundenlang
warten.?

Advokat / Fabrikant / Maler

An einem Wintervormittag ? draußen fiel Schnee im trüben
Licht ? saß K. trotz der frühen Stunde schon äußerst müde in
seinem Bureau. Um sich wenigstens vor den untern Beamten zu
schützen, hatte er dem Diener den Auftrag gegeben, niemanden
von ihnen einzulassen, da er mit einer größern Arbeit
beschäftigt sei. Aber statt zu arbeiten drehte er sich in
seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem
Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen den ganzen Arm
ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit
gesenktem Kopf unbeweglich sitzen.

Der Gedanke an den Proceß verließ ihn nicht mehr. Öfters
schon hatte er überlegt, ob es nicht gut wäre, eine
Verteidigungsschrift auszuarbeiten und bei Gericht
einzureichen. Er wollte darin eine kurze Lebensbeschreibung
vorlegen und bei jedem irgendwie wichtigern Ereignis
erklären, aus welchen Gründen er so gehandelt hatte, ob
diese Handlungsweise nach seinem gegenwärtigen Urteil zu
verwerfen oder zu billigen war und welche Gründe er für
dieses oder jenes anführen konnte. Die Vorteile einer
solchen Verteidigungsschrift gegenüber der bloßen
Verteidigung durch den übrigens auch sonst nicht
einwandfreien Advokaten waren zweifellos. K. wußte ja gar
nicht was der Advokat unternahm; viel war es jedenfalls
nicht, schon einen Monat lang hatte er ihn nicht mehr zu
sich berufen und auch bei keiner der frühern Besprechungen
hatte K. den Eindruck gehabt, daß dieser Mann viel für ihn
erreichen könne. Vor allem hatte er ihn fast gar nicht
ausgefragt. Und hier war doch soviel zu fragen. Fragen war
die Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob er selbst alle
hier nötigen Fragen stellen könnte. Der Advokat dagegen
statt zu fragen erzählte selbst oder saß ihm stumm
gegenüber, beugte sich, wahrscheinlich wegen seines
schwachen Gehörs ein wenig über den Schreibtisch vor, zog an
einem Bartstrahn innerhalb seines Bartes und blickte auf den
Teppich nieder, vielleicht gerade auf die Stelle, wo K. mit
Leni gelegen war. Hie und da gab er K. einige leere
Ermahnungen, wie man sie Kindern gibt. Ebenso nutzlose wie
langweilige Reden, die K. in der Schlußabrechnung mit keinem
Heller zu bezahlen gedachte. Nachdem der Advokat ihn
genügend gedemütigt zu haben glaubte, fieng er gewöhnlich
an, ihn wieder ein wenig aufzumuntern. Er habe schon,
erzählte er dann, viele ähnliche Processe ganz oder
teilweise gewonnen, Processe, die wenn auch in Wirklichkeit
vielleicht nicht so schwierig wie dieser, äußerlich noch
hoffnungsloser waren. Ein Verzeichnis dieser Processe habe
er hier in der Schublade ? hiebei klopfte er an irgendeine
Lade des Tisches ?, die Schriften könne er leider nicht
zeigen, da es sich um Amtsgeheimnisse handle. Trotzdem komme
jetzt natürlich die große Erfahrung die er durch alle diese
Processe erworben habe, K. zugute. Er habe natürlich sofort
zu arbeiten begonnen und die erste Eingabe sei schon fast
fertiggestellt. Sie sei sehr wichtig, weil der erste
Eindruck den die Verteidigung mache, oft die ganze Richtung
des Verfahrens bestimme. Leider, darauf müsse er K.
allerdings aufmerksam machen, geschehe es manchmal, daß die
ersten Eingaben bei Gericht gar nicht gelesen werden. Man
lege sie einfach zu den Akten und weise darauf hin, daß
vorläufig die Einvernahme und Beobachtung des Angeklagten
wichtiger sei als alles Geschriebene. Man fügt wenn der
Petent dringlich wird, hinzu, daß man vor der Entscheidung
bis alles Material gesammelt ist, im Zusammenhang natürlich
alle Akten, also auch diese erste Eingabe überprüfen wird.
Leider sei aber auch dies meistens nicht richtig, die erste
Eingabe werde gewöhnlich verlegt oder gehe gänzlich verloren
und selbst wenn sie bis zum Ende erhalten bleibt, werde sie,
wie der Advokat allerdings nur gerüchtweise erfahren hat,
kaum gelesen. Das alles sei bedauerlich, aber nicht ganz
ohne Berechtigung, K. möge doch nicht außer acht lassen, daß
das Verfahren nicht öffentlich sei, es kann, wenn das
Gericht es für nötig hält, öffentlich werden, das Gesetz
aber schreibt Öffentlichkeit nicht vor. Infolgedessen sind
auch die Schriften des Gerichtes, vor allem die
Anklageschrift dem Angeklagten und seiner Verteidigung
unzugänglich, man weiß daher im allgemeinen nicht oder
wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste Eingabe zu
richten hat, sie kann daher eigentlich nur zufälliger Weise
etwas enthalten, was für die Sache von Bedeutung ist.
Wirklich zutreffende und beweisführende Eingaben kann man
erst später ausarbeiten, wenn im Laufe der Einvernahmen des
Angeklagten die einzelnen Anklagepunkte und ihre Begründung
deutlicher hervortreten oder erraten werden können. Unter
diesen Verhältnissen ist natürlich die Verteidigung in einer
sehr ungünstigen und schwierigen Lage. Aber auch das ist
beabsichtigt. Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz
nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet und selbst
darüber, ob aus der betreffenden Gesetzesstelle wenigstens
Duldung herausgelesen werden soll, besteht Streit. Es gibt
daher strenggenommen gar keine vom Gericht anerkannten
Advokaten, alle die vor diesem Gericht als Advokaten
auftreten, sind im Grunde nur Winkeladvokaten. Das wirkt
natürlich auf den ganzen Stand sehr entwürdigend ein und
wenn K. nächstens einmal in die Gerichtskanzleien gehen
werde, könne er sich ja, um auch das einmal gesehn zu haben,
das Advokatenzimmer ansehn. Er werde vor der Gesellschaft,
die dort beisammen sei, vermutlich erschrecken. Schon die
ihnen zugewiesene enge niedrige Kammer zeige die Verachtung,
die das Gericht für diese Leute hat. Licht bekommt die
Kammer nur durch eine kleine Luke, die so hoch gelegen ist,
daß, wenn jemand hinausschauen will, wo ihm übrigens der
Rauch eines knapp davor gelegenen Kamins in die Nase fährt
und das Gesicht schwärzt, er erst einen Kollegen suchen muß
der ihn auf den Rücken nimmt. Im Fußboden dieser Kammer ? um
nur noch ein Beispiel für diese Zustände anzuführen ? ist
nun schon seit mehr als einem Jahr ein Loch, nicht so groß
daß ein Mensch durchfallen könnte, aber groß genug, daß man
mit einem Bein ganz einsinkt. Das Advokatenzimmer liegt auf
dem zweiten Dachboden, sinkt also einer ein, so hängt sein
Bein in den ersten Dachboden hinunter undzwar gerade in den
Gang, wo die Parteien warten. Es ist nicht zu viel gesagt,
wenn man in Advokatenkreisen solche Verhältnisse schändlich
nennt. Beschwerden an die Verwaltung haben nicht den
geringsten Erfolg, wohl aber ist es den Advokaten auf das
strengste verboten irgendetwas in dem Zimmer auf eigene
Kosten ändern zu lassen. Aber auch diese Behandlung der
Advokaten hat ihre Begründung, Man will die Verteidigung
möglichst ausschalten, alles soll auf den Angeklagten selbst
gestellt sein. Kein schlechter Standpunkt im Grunde, nichts
wäre aber verfehlter als daraus zu folgern, daß bei diesem
Gericht die Advokaten für den Angeklagten unnötig sind. Im
Gegenteil, bei keinem andern Gericht sind sie so notwendig
wie bei diesem. Das Verfahren ist nämlich im allgemeinen
nicht nur vor der Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor
dem Angeklagten. Natürlich nur soweit dies möglich ist, es
ist aber in sehr weitem Ausmaß möglich. Auch der Angeklagte
hat nämlich keinen Einblick in die Gerichtsschriften und aus
den Verhören auf die ihnen zugrunde liegenden Schriften zu
schließen ist sehr schwierig, insbesondere aber für den
Angeklagten der doch befangen ist und alle möglichen Sorgen
hat, die ihn zerstreuen. Hier greift nun die Verteidigung
ein. Bei den Verhören dürfen im allgemeinen Verteidiger
nicht anwesend sein, sie müssen daher nach den Verhören
undzwar möglichst noch an der Tür des Untersuchungszimmers
den Angeklagten über das Verhör ausforschen und diesen oft
schon sehr verwischten Berichten das für die Verteidigung
taugliche entnehmen. Aber das Wichtigste ist dies nicht,
denn viel kann man auf diese Weise nicht erfahren, wenn
natürlich auch hier wie überall ein tüchtiger Mann mehr
erfährt als andere. Das Wichtigste bleiben trotzdem die
persönlichen Beziehungen des Advokaten, in ihnen liegt der
Hauptwert der Verteidigung. Nun habe ja wohl K. schon aus
seinen eigenen Erlebnissen entnommen, daß die allerunterste
Organisation des Gerichtes nicht ganz vollkommen ist,
pflichtvergessene und bestechliche Angestellte aufweist,
wodurch gewissermaßen die strenge Abschließung des Gerichtes
Lücken bekommt. Hier nun drängt sich die Mehrzahl der
Advokaten ein, hier wird bestochen und ausgehorcht, ja es
kamen wenigstens in früherer Zeit sogar Fälle von
Aktendiebstählen vor. Es ist nicht zu leugnen, daß auf diese
Weise für den Augenblick einige sogar überraschende günstige
Resultate für den Angeklagten sich erzielen lassen, damit
stolzieren auch diese kleinen Advokaten herum und locken
neue Kundschaft an, aber für den weitern Fortgang des
Processes bedeutet es entweder nichts oder nichts Gutes.
Wirklichen Wert aber haben nur ehrliche persönliche
Beziehungen undzwar mit höhern Beamten, womit natürlich nur
höhere Beamte der untern Grade gemeint sind. Nur dadurch
kann der Fortgang des Processes wenn auch zunächst nur
unmerklich später aber immer deutlicher beeinflußt werden.
Das können natürlich nur wenige Advokaten und hier sei die
Wahl K.?s sehr günstig gewesen. Nur noch vielleicht ein oder
zwei Advokaten konnten sich mit ähnlichen Beziehungen
ausweisen wie Dr. Huld. Diese kümmern sich allerdings um die
Gesellschaft im Advokatenzimmer nicht und haben auch nichts
mit ihr zu tun. Umso enger sei aber die Verbindung mit den
Gerichtsbeamten. Es sei nicht einmal immer nötig, daß Dr.
Huld zu Gericht gehe, in den Vorzimmern der
Untersuchungsrichter auf ihr zufälliges Erscheinen warte und
je nach ihrer Laune einen meist nur scheinbaren Erfolg
erziele oder auch nicht einmal diesen. Nein, K. habe es ja
selbst gesehen, die Beamten und darunter recht hohe kommen
selbst, geben bereitwillig Auskunft, offene oder wenigstens
leicht deutbare, besprechen den nächsten Fortgang der
Processe, ja sie lassen sich sogar in einzelnen Fällen
überzeugen und nehmen die fremde Ansicht gern an. Allerdings
dürfe man ihnen gerade in dieser letztern Hinsicht nicht
allzusehr vertrauen; so bestimmt sie ihre neue für die
Verteidigung günstige Absicht auch aussprechen, gehen sie
doch vielleicht geradewegs in ihre Kanzlei und geben für den
nächsten Tag einen Gerichtsbeschluß, der gerade das
entgegengesetzte enthält und vielleicht für den Angeklagten
noch viel strenger ist, als ihre erste Absicht, von der sie
gänzlich abgekommen zu sein behaupteten. Dagegen könne man
sich natürlich nicht wehren, denn das was sie zwischen vier
Augen gesagt haben, ist eben auch nur zwischen vier Augen
gesagt und lasse keine öffentliche Folgerung zu, selbst wenn
die Verteidigung nicht auch sonst bestrebt sein müßte sich
die Gunst der Herren zu erhalten. Andererseits sei es
allerdings auch richtig, daß die Herren nicht etwa nur aus
Menschenliebe oder aus freundschaftlichen Gefühlen sich mit
der Verteidigung, natürlich nur mit einer sachverständigen
Verteidigung in Verbindung setzen, sie sind vielmehr in
gewisser Hinsicht auch auf sie angewiesen. Hier mache sich
eben der Nachteil einer Gerichtsorganisation geltend, die
selbst in ihren Anfängen das geheime Gericht festsetzt. Den
Beamten fehlt der Zusammenhang mit der Bevölkerung, für die
gewöhnlichen mittleren Processe sind sie gut ausgerüstet,
ein solcher Proceß rollt fast von selbst auf seiner Bahn ab
und braucht nur hie und da einen Anstoß, gegenüber den ganz
einfachen Fällen aber wie auch gegenüber den besonders
schwierigen sind sie oft ratlos, sie haben, weil sie
fortwährend Tag und Nacht in ihr Gesetz eingezwängt sind,
nicht den richtigen Sinn für menschliche Beziehungen und das
entbehren sie in solchen Fällen schwer. Dann kommen sie zum
Advokaten um Rat und hinter ihnen trägt ein Diener die
Akten, die sonst so geheim sind. An diesem Fenster hätte man
manche Herren, von denen man es am wenigsten erwarten würde,
antreffen können wie sie geradezu trostlos auf die Gasse
hinaussahen, während der Advokat an seinem Tisch die Akten
studierte, um ihnen einen guten Rat geben zu können.
Übrigens könne man gerade bei solchen Gelegenheiten sehn,
wie ungemein ernst die Herren ihren Beruf nehmen und wie sie
über Hindernisse, die sie ihrer Natur nach nicht bewältigen
können, in große Verzweiflung geraten. Ihre Stellung sei
auch sonst nicht leicht, man dürfe ihnen nicht Unrecht tun
und ihre Stellung für leicht ansehn. Die Rangordnung und
Steigerung des Gerichtes sei unendlich und selbst für den
Eingeweihten nicht absehbar. Das Verfahren vor den
Gerichtshöfen sei aber im allgemeinen auch für die untern
Beamten geheim, sie können daher die Angelegenheiten, die
sie bearbeiten in ihrem fernern Weitergang kaum jemals
vollständig verfolgen, die Gerichtssache erscheint also in
ihrem Gesichtskreis, ohne daß sie oft wissen, woher sie
kommt, und sie geht weiter, ohne daß sie erfahren, wohin.
Die Belehrung also, die man aus dem Studium der einzelnen
Proceßstadien, der schließlichen Entscheidung und ihrer
Gründe schöpfen kann, entgeht diesen Beamten. Sie dürfen
sich nur mit jenem Teil des Processes befassen, der vom
Gesetz für sie abgegrenzt ist und wissen von dem Weitern,
also von den Ergebnissen ihrer eigenen Arbeit meist weniger
als die Verteidigung, die doch in der Regel fast bis zum
Schluß des Processes mit dem Angeklagten in Verbindung
bleibt. Auch in dieser Richtung also können sie von der
Verteidigung manches Wertvolle erfahren. Wundere sich K.
noch, wenn er alles dieses im Auge behalte über die
Gereiztheit der Beamten, die sich manchmal den Parteien
gegenüber in ? jeder mache diese Erfahrung ? beleidigender
Weise äußert. Alle Beamten seien gereizt, selbst wenn sie
ruhig scheinen. Natürlich haben die kleinen Advokaten
besonders viel darunter zu leiden. Man erzählt z. B.
folgende Geschichte die sehr den Anschein der Wahrheit hat.
Ein alter Beamter, ein guter stiller Herr, hatte eine
schwierige Gerichtssache, welche besonders durch die
Eingaben des Advokaten verwickelt worden war, einen Tag und
eine Nacht ununterbrochen studiert ? diese Beamten sind
tatsächlich fleißig wie niemand sonst. Gegen Morgen nun,
nach vierundzwanzigstündiger wahrscheinlich nicht sehr
ergiebiger Arbeit gieng er zur Eingangstür, stellte sich
dort in Hinterhalt und warf jeden Advokaten, der eintreten
wollte, die Treppe hinunter. Die Advokaten sammelten sich
unten auf dem Treppenabsatz und berieten was sie tun
sollten; einerseits haben sie keinen eigentlichen Anspruch
darauf eingelassen zu werden, können daher rechtlich gegen
den Beamten kaum etwas unternehmen und müssen sich, wie
schon erwähnt auch hüten, die Beamtenschaft gegen sich
aufzubringen. Andererseits aber ist jeder nicht bei Gericht
verbrachte Tag für sie verloren und es lag ihnen also viel
daran einzudringen. Schließlich einigten sie sich darauf daß
sie den alten Herrn ermüden wollten. Immer wieder wurde ein
Advokat ausgeschickt, der die Treppe hinauf lief und sich
dann unter möglichstem allerdings passivem Widerstand
hinunterwerfen ließ, wo er dann von den Kollegen aufgefangen
wurde. Das dauerte etwa eine Stunde, dann wurde der alte
Herr, er war ja auch von der Nachtarbeit schon erschöpft,
wirklich müde und gieng in seine Kanzlei zurück. Die unten
wollten es zuerst gar nicht glauben und schickten zuerst
einen aus, der hinter der Tür nachsehn sollte, ob dort
wirklich leer war. Dann erst zogen sie ein und wagten
wahrscheinlich nicht einmal zu murren. Denn den Advokaten ?
und selbst der kleinste kann doch die Verhältnisse
wenigstens zum Teil übersehn ? liegt es vollständig ferne
bei Gericht irgendwelche Verbesserungen einführen oder
durchsetzen zu wollen, während ? und dies ist sehr
bezeichnend ? fast jeder Angeklagte, selbst ganz einfältige
Leute, gleich beim allerersten Eintritt in den Proceß an
Verbesserungsvorschläge zu denken anfangen und damit oft
Zeit und Kraft verschwenden, die anders viel besser
verwendet werden könnten. Das einzig Richtige sei es, sich
mit den vorhandenen Verhältnissen abzufinden. Selbst wenn es
möglich wäre, Einzelheiten zu verbessern ? es ist aber ein
unsinniger Aberglaube ? hätte man bestenfalls für künftige
Fälle etwas erreicht, sich selbst aber unermeßlich dadurch
geschadet, daß man die besondere Aufmerksamkeit der immer
rachsüchtigen Beamtenschaft erregt hat. Nur keine
Aufmerksamkeit erregen! Sich ruhig verhalten, selbst wenn es
einem noch so sehr gegen den Sinn geht! Einzusehen
versuchen, daß dieser große Gerichtsorganismus gewissermaßen
ewig in Schwebe bleibt und daß man zwar, wenn man auf seinem
Platz selbständig etwas ändert, den Boden unter den Füßen
sich wegnimmt und selbst abstürzen kann, während der große
Organismus sich selbst für die kleine Störung leicht an
einer andern Stelle ? alles ist doch in Verbindung ? Ersatz
schafft und unverändert bleibt, wenn er nicht etwa, was
sogar wahrscheinlich ist, noch geschlossener, noch
aufmerksamer, noch strenger, noch böser wird. Man überlasse
doch die Arbeit dem Advokaten, statt sie zu stören. Vorwürfe
nützen ja nicht viel, besonders wenn man ihre Ursache in
ihrer ganzen Bedeutung nicht begreiflich machen kann, aber
gesagt müsse es doch werden wieviel K. seiner Sache durch
das Verhalten gegenüber dem Kanzleidirektor geschadet habe.
Dieser einflußreiche Mann sei aus der Liste jener, bei denen
man für K. etwas unternehmen könne, schon fast zu streichen.
Selbst flüchtige Erwähnungen des Processes überhöre er mit
deutlicher Absicht. In manchem seien ja die Beamten wie
Kinder. Oft können sie durch Harmlosigkeiten, unter die
allerdings K.?s Verhalten leider nicht gehörte, derartig
verletzt werden, daß sie selbst mit guten Freunden zu reden
aufhören, sich von ihnen abwenden, wenn sie ihnen begegnen
und ihnen in allem möglichen entgegenarbeiten. Dann aber
einmal, überraschender Weise ohne besondern Grund lassen sie
sich durch einen kleinen Scherz, den man nur deshalb wagt,
weil alles aussichtslos scheint, zum Lachen bringen und sind
versöhnt. Es sei eben gleichzeitig schwer und leicht sich
mit ihnen zu verhalten, Grundsätze dafür gibt es kaum.
Manchmal sei es zum Verwundern, daß ein einziges
Durchschnittsleben dafür hinreiche, um soviel zu erfassen,
daß man hier mit einigem Erfolg arbeiten könne. Es kommen
allerdings trübe Stunden, wie sie ja jeder hat, wo man
glaubt, nicht das geringste erzielt zu haben, wo es einem
scheint, als hätten nur die von Anfang an für einen guten
Ausgang bestimmten Processe ein gutes Ende genommen, wie es
auch ohne Mithilfe geschehen wäre, während alle andern
verloren gegangen sind, trotz alles Nebenherlaufens, aller
Mühe, aller kleinen scheinbaren Erfolge, über die man solche
Freude hatte. Dann scheint einem allerdings nichts mehr
sicher und man würde auf bestimmte Fragen hin nicht einmal
zu leugnen wagen, daß man ihrem Wesen nach gut verlaufende
Processe gerade durch die Mithilfe auf Abwege gebracht hat.
Auch das ist ja eine Art Selbstvertrauen, aber es ist das
einzige das dann übrig bleibt. Solchen Anfällen ? es sind
natürlich nur Anfälle nichts weiter ? sind Advokaten
besonders dann ausgesetzt, wenn ihnen ein Proceß, den sie
weit genug und zufriedenstellend geführt haben, plötzlich
aus der Hand genommen wird. Das ist wohl das Ärgste, das
einem Advokaten geschehen kann. Nicht etwa durch den
Angeklagten wird ihnen der Proceß entzogen, das geschieht
wohl niemals, ein Angeklagter, der einmal einen bestimmten
Advokaten genommen hat, muß bei ihm bleiben geschehe was
immer. Wie könnte er sich überhaupt, wenn er einmal Hilfe in
Anspruch genommen hat, allein noch erhalten. Das geschieht
also nicht, wohl aber geschieht es manchmal, daß der Proceß
eine Richtung nimmt, wo der Advokat nicht mehr mitkommen
darf. Der Proceß und der Angeklagte und alles wird dem
Advokaten einfach entzogen; dann können auch die besten
Beziehungen zu den Beamten nicht mehr helfen, denn sie
selbst wissen nichts. Der Proceß ist eben in ein Stadium
getreten, wo keine Hilfe mehr geleistet werden darf, wo ihn
unzugängliche Gerichtshöfe bearbeiten, wo auch der
Angeklagte für den Advokaten nicht mehr erreichbar ist. Man
kommt dann eines Tages nachhause und findet auf seinem Tisch
alle die vielen Eingaben, die man mit allem Fleiß und mit
den schönsten Hoffnungen in dieser Sache gemacht hat, sie
sind zurückgestellt worden, da sie in das neue Proceßstadium
nicht übertragen werden dürfen, es sind wertlose Fetzen.
Dabei muß der Proceß noch nicht verloren sein, durchaus
nicht, wenigstens liegt kein entscheidender Grund für diese
Annahme vor, man weiß bloß nichts mehr von dem Proceß und
wird auch nichts mehr von ihm erfahren. Nun sind ja solche
Fälle glücklicher Weise Ausnahmen und selbst wenn K.?s
Proceß ein solcher Fall sein sollte, sei er doch vorläufig
noch weit von einem solchen Stadium entfernt. Hier sei also
noch reichliche Gelegenheit für Advokatenarbeit gegeben und
daß sie ausgenützt werde, dessen dürfe K. sicher sein. Die
Eingabe sei wie erwähnt noch nicht überreicht, das eile aber
auch nicht, viel wichtiger seien die einleitenden
Besprechungen mit maßgebenden Beamten und die hätten schon
stattgefunden. Mit verschiedenem Erfolg, wie offen
zugestanden werden soll. Es sei viel besser vorläufig
Einzelheiten nicht zu verraten, durch die K. nur ungünstig
beeinflußt und allzu hoffnungsfreudig oder allzu ängstlich
gemacht werden könnte, nur soviel sei gesagt, daß sich
einzelne sehr günstig ausgesprochen und sich auch sehr
bereitwillig gezeigt haben, während andere sich weniger
günstig geäußert aber doch ihre Mithilfe keineswegs
verweigert haben. Das Ergebnis sei also im Ganzen sehr
erfreulich, nur dürfe man daraus keine besondern Schlüsse
ziehn, da alle Vorverhandlungen ähnlich beginnen und
durchaus erst die weitere Entwicklung den Wert dieser
Vorverhandlungen zeigt. Jedenfalls sei noch nichts verloren
und wenn es noch gelingen sollte, den Kanzleidirektor trotz
allem zu gewinnen ? es sei schon verschiedenes zu diesem
Zwecke eingeleitet ? dann sei das Ganze, wie die Chirurgen
sagen, eine reine Wunde und man könne getrost das Folgende
erwarten.

In solchen und ähnlichen Reden war der Advokat
unerschöpflich. Sie wiederholten sich bei jedem Besuch.
Immer gab es Fortschritte, niemals aber konnte die Art
dieser Fortschritte mitgeteilt werden. Immerfort wurde an
der ersten Eingabe gearbeitet, aber sie wurde nicht fertig,
was sich meistens beim nächsten Besuch als großer Vorteil
herausstellte, da die letzte Zeit, was man nicht hatte
voraussehen können, für ihre Übergabe sehr ungünstig gewesen
wäre. Bemerkte K. manchmal, ganz ermattet von den Reden, daß
es doch selbst unter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten,
sehr langsam vorwärtsgehe, wurde ihm entgegnet, es gehe gar
nicht langsam vorwärts, wohl aber wäre man schon viel
weiter, wenn K. sich rechtzeitig an den Advokaten gewendet
hätte. Das hatte er aber leider versäumt und dieses
Versäumnis werde auch noch weitere Nachteile bringen, nicht
nur zeitliche.

Die einzige wohltätige Unterbrechung dieser Besuche war
Leni, die es immer so einzurichten wußte, daß sie dem
Advokaten in Anwesenheit K.?s den Tee brachte. Dann stand
sie hinter K., sah scheinbar zu, wie der Advokat mit einer
Art Gier tief zur Tasse herabgebeugt den Tee eingoß und
trank, und ließ im Geheimen ihre Hand von K. erfassen. Es
herrschte völliges Schweigen. Der Advokat trank, K. drückte
Lenis Hand und Leni wagte es manchmal K.?s Haare sanft zu
streicheln. ?Du bist noch hier?? fragte der Advokat, nachdem
er fertig war. ?Ich wollte das Geschirr wegnehmen,? sagte
Leni, es gab noch einen letzten Händedruck, der Advokat
wischte sich den Mund und begann mit neuer Kraft auf K.
einzureden.

War es Trost oder Verzweiflung, was der Advokat erreichen
wollte? K. wußte es nicht, wohl aber hielt er es bald für
feststehend, daß seine Verteidigung nicht in guten Händen
war. Es mochte ja alles richtig sein, was der Advokat
erzählte, wenn es auch durchsichtig war, daß er sich
möglichst in den Vordergrund stellen wollte und
wahrscheinlich noch niemals einen so großen Proceß geführt
hatte, wie es K.?s Proceß seiner Meinung nach war.
Verdächtig aber blieben die unaufhörlich hervorgehobenen
persönlichen Beziehungen zu den Beamten. Mußten sie denn
ausschließlich zu K.?s Nutzen ausgebeutet werden? Der
Advokat vergaß nie zu bemerken, daß es sich nur um niedrige
Beamte handelte, also um Beamte in sehr abhängiger Stellung,
für deren Fortkommen gewisse Wendungen der Processe
wahrscheinlich von Bedeutung sein konnten. Benützten sie
vielleicht den Advokaten dazu, um solche für den Angeklagten
natürlich immer ungünstige Wendungen zu erzielen? Vielleicht
taten sie das nicht in jedem Proceß, gewiß, das war nicht
wahrscheinlich, es gab dann wohl wieder Processe, in deren
Verlauf sie dem Advokaten für seine Dienste Vorteile
einräumten, denn es mußte ihnen ja auch daran gelegen sein,
seinen Ruf ungeschädigt zu erhalten. Verhielt es sich aber
wirklich so, in welcher Weise würden sie bei K.?s Proceß
eingreifen, der wie der Advokat erklärte ein sehr
schwieriger also wichtiger Proceß war und gleich anfangs bei
Gericht große Aufmerksamkeit erregt hatte? Es konnte nicht
sehr zweifelhaft sein, was sie tun würden. Anzeichen dessen
konnte man ja schon darin sehn, daß die erste Eingabe noch
immer nicht überreicht war, trotzdem der Proceß schon Monate
dauerte und daß sich alles den Angaben des Advokaten nach in
den Anfängen befand, was natürlich sehr geeignet war, den
Angeklagten einzuschläfern und hilflos zu erhalten, um ihn
dann plötzlich mit der Entscheidung zu überfallen oder
wenigstens mit der Bekanntmachung daß die zu seinen
Ungunsten abgeschlossene Untersuchung an die höhern Behörden
weitergegeben werde.

Es war unbedingt nötig, daß K. selbst eingriff. Gerade in
Zuständen großer Müdigkeit, wie an diesem Wintervormittag,
wo ihm alles willenlos durch den Kopf zog, war diese
Überzeugung unabweisbar. Die Verachtung die er früher für
den Proceß gehabt hatte galt nicht mehr. Wäre er allein in
der Welt gewesen, hätte er den Proceß leicht mißachten
können, wenn es allerdings auch sicher war, daß dann der
Proceß überhaupt nicht entstanden wäre. Jetzt aber hatte ihn
der Onkel schon zum Advokaten gezogen, Familienrücksichten
sprachen mit; seine Stellung war nicht mehr vollständig
unabhängig von dem Verlauf des Processes, er selbst hatte
unvorsichtiger Weise mit einer gewissen unerklärlichen
Genugtuung vor Bekannten den Proceß erwähnt, andere hatten
auf unbekannte Weise davon erfahren, das Verhältnis zu
Fräulein Bürstner schien entsprechend dem Proceß zu
schwanken ? kurz, er hatte kaum mehr die Wahl den Proceß
anzunehmen oder abzulehnen, er stand mitten darin und mußte
sich wehren. War er müde dann war es schlimm.

Zu übertriebener Sorge war allerdings vorläufig kein Grund.
Er hatte es verstanden, sich in der Bank in verhältnismäßig
kurzer Zeit zu seiner hohen Stellung emporzuarbeiten und
sich von allen anerkannt in dieser Stellung zu erhalten, er
mußte jetzt nur diese Fähigkeiten, die ihm das ermöglicht
hatten, ein wenig dem Proceß zuwenden und es war kein
Zweifel, daß es gut ausgehn mußte. Vor allem war es, wenn
etwas erreicht werden sollte, notwendig jeden Gedanken an
eine mögliche Schuld von vornherein abzulehnen. Es gab keine
Schuld. Der Proceß war nichts anderes, als ein großes
Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil für die Bank
abgeschlossen hatte, ein Geschäft, innerhalb dessen, wie
dies die Regel war, verschiedene Gefahren lauerten, die eben
abgewehrt werden mußten. Zu diesem Zwecke durfte man
allerdings nicht mit Gedanken an irgendeine Schuld spielen,
sondern den Gedanken an den eigenen Vorteil möglichst
festhalten. Von diesem Gesichtspunkt aus war es auch
unvermeidlich, dem Advokaten die Vertretung sehr bald, am
besten noch an diesem Abend zu entziehn. Es war zwar nach
seinen Erzählungen etwas unerhörtes und wahrscheinlich sehr
beleidigendes, aber K. konnte nicht dulden, daß seinen
Anstrengungen in dem Proceß Hindernisse begegneten, die
vielleicht von seinem eigenen Advokaten veranlaßt waren. War
aber einmal der Advokat abgeschüttelt, dann mußte die
Eingabe sofort überreicht und womöglich jeden Tag darauf
gedrängt werden, daß man sie berücksichtige. Zu diesem
Zwecke würde es natürlich nicht genügen, daß K. wie die
andern im Gang saß und den Hut unter die Bank stellte. Er
selbst oder die Frauen oder andere Boten mußten Tag für Tag
die Beamten überlaufen und sie zwingen, statt durch das
Gitter auf den Gang zu schauen, sich zu ihrem Tisch zu
setzen und K.?s Eingabe zu studieren. Von diesen
Anstrengungen dürfte man nicht ablassen, alles müßte
organisiert und überwacht werden, das Gericht sollte einmal
auf einen Angeklagten stoßen, der sein Recht zu wahren
verstand.

Wenn sich aber auch K. dies alles durchzuführen getraute,
die Schwierigkeit der Abfassung der Eingabe war
überwältigend. Früher, etwa noch vor einer Woche hatte er
nur mit einem Gefühl der Scham daran denken können, daß er
einmal genötigt sein könnte, eine solche Eingabe selbst zu
machen, daß dies auch schwierig sein konnte, daran hatte er
gar nicht gedacht. Er erinnerte sich, wie er einmal an einem
Vormittag, als er gerade mit Arbeit überhäuft war, plötzlich
alles zur Seite geschoben und den Schreibblock vorgenommen
hatte, um versuchsweise den Gedankengang einer derartigen
Eingabe zu entwerfen und ihn vielleicht dem schwerfälligen
Advokaten zur Verfügung zu stellen, und wie gerade in diesem
Augenblick, die Tür des Direktionszimmers sich öffnete und
der Direktor-Stellvertreter mit großem Gelächter eintrat. Es
war für K. damals sehr peinlich gewesen, trotzdem der
Direktor-Stellvertreter natürlich nicht über die Eingabe
gelacht hatte, von der er nichts wußte, sondern über einen
Börsenwitz, den er eben gehört hatte, einen Witz, der zum
Verständnis eine Zeichnung erforderte, die nun der
Direktor-Stellvertreter, über K.?s Tisch gebeugt mit K.?s
Bleistift, den er ihm aus der Hand nahm, auf dem
Schreibblock ausführte, der für die Eingabe bestimmt gewesen
war.

Heute wußte K. nichts mehr von Scham, die Eingabe mußte
gemacht werden. Wenn er im Bureau keine Zeit für sie fand,
was sehr wahrscheinlich war, dann mußte er sie zuhause in
den Nächten machen. Würden auch die Nächte nicht genügen,
dann mußte er einen Urlaub nehmen. Nur nicht auf halbem Wege
stehn bleiben, das war nicht nur in Geschäften sondern immer
und überall das Unsinnigste. Die Eingabe bedeutete freilich
eine fast endlose Arbeit. Man mußte keinen sehr ängstlichen
Charakter haben und konnte doch leicht zu dem Glauben
kommen, daß es unmöglich war die Eingabe jemals
fertigzustellen. Nicht aus Faulheit oder Hinterlist, die den
Advokaten allein an der Fertigstellung hindern konnten,
sondern weil in Unkenntnis der vorhandenen Anklage und gar
ihrer möglichen Erweiterungen das ganze Leben in den
kleinsten Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung
zurückgebracht, dargestellt und von allen Seiten überprüft
werden mußte. Und wie traurig war eine solche Arbeit
überdies. Sie war vielleicht geeignet einmal nach der
Pensionierung den kindisch gewordenen Geist zu beschäftigen
und ihm zu helfen, die langen Tage hinzubringen. Aber jetzt,
wo K. alle Gedanken zu seiner Arbeit brauchte, wo jede
Stunde, da er noch im Aufstieg war und schon für den
Direktor-Stellvertreter eine Drohung bedeutete, mit größter
Schnelligkeit vergieng und wo er die kurzen Abende und
Nächte als junger Mensch genießen wollte, jetzt sollte er
mit der Verfassung dieser Eingabe beginnen. Wieder gieng
sein Denken in Klagen aus. Fast unwillkürlich, nur um dem
ein Ende zu machen, tastete er mit dem Finger nach dem Knopf
der elektrischen Glocke, die ins Vorzimmer führte. Während
er ihn niederdrückte blickte er zur Uhr auf. Es war elf Uhr,
zwei Stunden, eine lange kostbare Zeit hatte er verträumt
und war natürlich noch matter als vorher. Immerhin war die
Zeit nicht verloren, er hatte Entschlüsse gefaßt, die
wertvoll sein konnten. Der Diener brachte außer
verschiedener Post zwei Visitkarten von Herren, die schon
längere Zeit auf K. warteten. Es waren gerade sehr wichtige
Kundschaften der Bank, die man eigentlich auf keinen Fall
hätte warten lassen sollen. Warum kamen sie zu so
ungelegener Zeit und warum, so schienen wieder die Herren
hinter der geschlossenen Tür zu fragen, verwendete der
fleißige K. für Privatangelegenheiten die beste
Geschäftszeit. Müde von dem Vorhergegangenen und müde das
Folgende erwartend stand K. auf, um den Ersten zu empfangen.

Es war ein kleiner munterer Herr, ein Fabrikant, den K. gut
kannte. Er bedauerte, K. in wichtiger Arbeit gestört zu
haben und K. bedauerte seinerseits, daß er den Fabrikanten
so lange hatte warten lassen. Schon dieses Bedauern aber
sprach er in derartig mechanischer Weise und mit fast
falscher Betonung aus, daß der Fabrikant, wenn er nicht ganz
von der Geschäftssache eingenommen gewesen wäre, es hätte
bemerken müssen. Statt dessen zog er eilig Rechnungen und
Tabellen aus allen Taschen, breitete sie vor K. aus,
erklärte verschiedene Posten, verbesserte einen kleinen
Rechenfehler, der ihm sogar bei diesem flüchtigen Überblick
aufgefallen war, erinnerte K. an ein ähnliches Geschäft, das
er mit ihm vor etwa einem Jahr abgeschlossen hatte, erwähnte
nebenbei, daß sich diesmal eine andere Bank unter größten
Opfern um das Geschäft bewerbe und verstummte schließlich,
um nun K.?s Meinung zu erfahren. K. hatte auch tatsächlich
im Anfang die Rede des Fabrikanten gut verfolgt, der Gedanke
an das wichtige Geschäft hatte dann auch ihn ergriffen, nur
leider nicht für die Dauer, er war bald vom Zuhören
abgekommen, hatte dann noch ein Weilchen zu den lauteren
Ausrufen des Fabrikanten mit dem Kopf genickt, hatte aber
schließlich auch das unterlassen und sich darauf
eingeschränkt, den kahlen auf die Papiere hinabgebeugten
Kopf anzusehn und sich zu fragen, wann der Fabrikant endlich
erkennen werde, daß seine ganze Rede nutzlos sei. Als er nun
verstummte, glaubte K. zuerst wirklich, es geschehe dies
deshalb, um ihm Gelegenheit zu dem Eingeständnis zu geben,
daß er nicht fähig sei zuzuhören. Nur mit Bedauern bemerkte
er aber an dem gespannten Blick des offenbar auf alle
Entgegnungen gefaßten Fabrikanten daß die geschäftliche
Besprechung fortgesetzt werden müsse. Er neigte also den
Kopf wie vor einem Befehl und begann mit dem Bleistift
langsam über den Papieren hin-und herzufahren, hie und da
hielt er inne und starrte eine Ziffer an. Der Fabrikant
vermutete Einwände, vielleicht waren die Ziffern wirklich
nicht feststehend, vielleicht waren sie nicht das
Entscheidende, jedenfalls bedeckte der Fabrikant die Papiere
mit der Hand und begann von neuem, ganz nahe an K.
heranrückend, eine allgemeine Darstellung des Geschäftes.
?Es ist schwierig,? sagte K., rümpfte die Lippen und sank,
da die Papiere, das einzig Faßbare, verdeckt waren, haltlos
gegen die Seitenlehne. Er blickte sogar nur schwach auf, als
sich die Tür des Direktionszimmers öffnete und dort nicht
ganz deutlich, etwa wie hinter einem Gazeschleier der
Direktor-Stellvertreter erschien. K. dachte nicht weiter
darüber nach, sondern verfolgte nur die unmittelbare
Wirkung, die für ihn sehr erfreulich war. Denn sofort hüpfte
der Fabrikant vom Sessel auf und eilte dem
Direktor-Stellvertreter entgegen, K. aber hätte ihn noch
zehnmal flinker machen sollen, denn er fürchtete, der
Direktor-Stellvertreter könnte wieder verschwinden. Es war
unnütze Furcht, die Herren trafen sich, reichten einander
die Hände und giengen gemeinsam auf K.?s Schreibtisch zu.
Der Fabrikant beklagte sich daß er beim Prokuristen so wenig
Neigung für das Geschäft gefunden habe und zeigte auf K.,
der sich unter dem Blick des Direktor-Stellvertreters wieder
über die Papiere beugte. Als dann die zwei sich an den
Schreibtisch lehnten und der Fabrikant sich daran machte,
nun den Direktor-Stellvertreter für sich zu erobern, war es
K. als werde über seinem Kopf von zwei Männern, deren Größe
er sich übertrieben vorstellte, über ihn selbst verhandelt.
Langsam suchte er mit vorsichtig aufwärts gedrehten Augen zu
erfahren, was sich oben ereignete, nahm vom Schreibtisch
ohne hinzusehn eines der Papiere, legte es auf die flache
Hand und hob es allmählich, während er selbst aufstand zu
den Herren hinauf. Er dachte hiebei an nichts bestimmtes,
sondern handelte nur in dem Gefühl, daß er sich so verhalten
mußte, wenn er einmal die große Eingabe fertiggestellt
hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte. Der
Direktor-Stellvertreter, der sich an dem Gespräch mit aller
Aufmerksamkeit beteiligte, sah nur flüchtig auf das papier,
überlas gar nicht, was dort stand, denn was dem Prokuristen
wichtig war, war ihm unwichtig, nahm es aus K.?s Hand,
sagte: ?Danke, ich weiß schon alles? und legte es ruhig
wieder auf den Tisch zurück. K. sah ihn verbittert von der
Seite an. Der Direktor-Stellvertreter aber merkte es gar
nicht oder wurde, wenn er es merkte dadurch nur
aufgemuntert, lachte öfters laut auf, brachte einmal durch
eine schlagfertige Entgegnung den Fabrikanten in deutliche
Verlegenheit, aus der er ihn aber sofort riß, indem er sich
selbst einen Einwand machte und lud ihn schließlich ein, in
sein Bureau hinüber zu kommen, wo sie die Angelegenheit zu
Ende führen könnten. ?Es ist eine sehr wichtige Sache,?
sagte er zum Fabrikanten, ?ich sehe das vollständig ein. Und
dem Herrn Prokuristen? ? selbst bei dieser Bemerkung redete
er eigentlich nur zum Fabrikanten ? ?wird es gewiß lieb
sein, wenn wir es ihm abnehmen. Die Sache verlangt ruhige
Überlegung. Er aber scheint heute sehr überlastet zu sein,
auch warten ja einige Leute im Vorzimmer schon stundenlang
auf ihn.? K. hatte gerade noch genügend Fassung sich vom
Direktor-Stellvertreter wegzudrehn und sein freundliches
aber starres Lächeln nur dem Fabrikanten zuzuwenden, sonst
griff er gar nicht ein, stützte sich ein wenig vorgebeugt
mit beiden Händen auf den Schreibtisch wie ein Kommis hinter
dem Pult und sah zu, wie die zwei Herren unter weiteren
Reden die Papiere vom Tisch nahmen und im Direktionszimmer
verschwanden. In der Tür drehte sich noch der Fabrikant um,
sagte, er verabschiede sich noch nicht, sondern werde
natürlich dem Herrn Prokuristen über den Erfolg der
Besprechung berichten, auch habe er ihm noch eine andere
kleine Mitteilung zu machen.

Endlich war K. allein. Er dachte gar nicht daran irgendeine
andere Partei vorzulassen und nur undeutlich kam ihm zu
Bewußtsein, wie angenehm es sei, daß die Leute draußen in
dem Glauben waren, er verhandle noch mit dem Fabrikanten und
es könne aus diesem Grunde niemand, nicht einmal der Diener,
bei ihm eintreten. Er gieng zum Fenster, setzte sich auf die
Brüstung, hielt sich mit einer Hand an der Klinke fest und
sah auf den Platz hinaus. Der Schnee fiel noch immer, es
hatte sich noch gar nicht aufgehellt.

Lange saß er so, ohne zu wissen, was ihm eigentlich Sorgen
machte, nur von Zeit zu Zeit blickte er ein wenig erschreckt
über die Schulter hinweg zur Vorzimmertür, wo er
irrtümlicher Weise ein Geräusch zu hören geglaubt hatte. Da
aber niemand kam, wurde er ruhiger, gieng zum Waschtisch,
wusch sich mit kaltem Wasser und kehrte mit freierem Kopf zu
seinem Fensterplatz zurück. Der Entschluß, seine
Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen, stellte sich ihm
nun als schwerwiegender dar, als er ursprünglich angenommen
hatte. Solange er die Verteidigung auf den Advokaten
überwälzt hatte, war er doch noch vom Proceß im Grunde wenig
betroffen gewesen, er hatte ihn von der Ferne beobachtet und
hatte unmittelbar von ihm kaum erreicht werden können, er
hatte nachsehn können wann er wollte, wie seine Sache stand,
aber er hatte auch den Kopf wieder zurückziehn können, wann
er wollte. Jetzt hingegen wenn er seine Verteidigung selbst
führen würde, mußte er sich wenigstens für den Augenblick
ganz und gar dem Gericht aussetzen, der Erfolg dessen sollte
ja für später seine vollständige und endgiltige Befreiung
sein, aber um diese zu erreichen, mußte er sich vorläufig
jedenfalls in viel größere Gefahr begeben als bisher. Hätte
er daran zweifeln wollen, so hätte ihn das heutige
Beisammensein mit dem Direktor-Stellvertreter und dem
Fabrikanten hinreichend vom Gegenteil überzeugen können. Wie
war er doch dagesessen, schon vom bloßen Entschluß sich
selbst zu verteidigen gänzlich benommen? Wie sollte es aber
später werden? Was für Tage standen ihm bevor! Würde er den
Weg finden, der durch alles hindurch zum guten Ende führte?
Bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung ? und alles
andere war sinnlos ? bedeutete nicht eine sorgfältige
Verteidigung gleichzeitig die Notwendigkeit sich von allem
andern möglichst abzuschließen? Würde er das glücklich
überstehn? Und wie sollte ihm die Durchführung dessen in der
Bank gelingen? Es handelte sich ja nicht nur um die Eingabe,
für die ein Urlaub vielleicht genügt hätte, trotzdem die
Bitte um einen Urlaub gerade jetzt ein großes Wagnis gewesen
wäre, es handelte sich doch um einen ganzen Proceß, dessen
Dauer unabsehbar war. Was für ein Hindernis war plötzlich in
K.?s Laufbahn geworfen worden!

Und jetzt sollte er für die Bank arbeiten? ? Er sah auf den
Schreibtisch hin. ? Jetzt sollte er Parteien vorlassen und
mit ihnen verhandeln? Während sein Proceß weiterrollte,
während oben auf dem Dachboden die Gerichtsbeamten über den
Schriften dieses Processes saßen, sollte er die Geschäfte
der Bank besorgen? Sah es nicht aus, wie eine Folter, die
vom Gericht anerkannt, mit dem Proceß zusammenhieng und ihn
begleitete? Und würde man etwa in der Bank bei der
Beurteilung seiner Arbeit seine besondere Lage
berücksichtigen? Niemand und niemals. Ganz unbekannt war ja
sein Proceß nicht, wenn es auch noch nicht ganz klar war,
wer davon wußte und wieviel. Bis zum Direktor-Stellvertreter
aber war das Gerücht hoffentlich noch nicht gedrungen, sonst
hätte man schon deutlich sehen müssen, wie er es ohne jede
Kollegialität und Menschlichkeit gegen K. ausnützen würde.
Und der Direktor? Gewiß er war K. gut gesinnt und er hätte
wahrscheinlich, sobald er vom Proceß erfahren hätte, soweit
es an ihm lag, manche Erleichterungen für K. schaffen
wollen, aber er wäre damit gewiß nicht durchgedrungen, denn
er unterlag jetzt, da das Gegengewicht das K. bisher
gebildet hatte, schwächer zu werden anfieng, immer mehr dem
Einfluß des Direktor-Stellvertreters, der außerdem auch den
leidenden Zustand des Direktors zur Stärkung der eigenen
Macht ausnützte. Was hatte also K. zu erhoffen? Vielleicht
schwächte er durch solche Überlegungen seine
Widerstandskraft, aber es war doch auch notwendig, sich
selbst nicht zu täuschen und alles so klar zu sehn, als es
augenblicklich möglich war.

Ohne besondern Grund, nur um vorläufig noch nicht zum
Schreibtisch zurückkehren zu müssen, öffnete er das Fenster.
Es ließ sich nur schwer öffnen, er mußte mit beiden Händen
die Klinke drehn. Dann zog durch das Fenster in dessen
ganzer Breite und Höhe der mit Rauch vermischte Nebel in das
Zimmer und füllte es mit einem leichten Brandgeruch. Auch
einige Schneeflocken wurden hereingeweht. ?Ein häßlicher
Herbst,? sagte hinter K. der Fabrikant, der vom
Direktor-Stellvertreter kommend unbemerkt ins Zimmer
getreten war. K. nickte und sah unruhig auf die Aktentasche
des Fabrikanten, aus der dieser nun wohl die Papiere
herausziehn würde um K. das Ergebnis der Verhandlungen mit
dem Direktor-Stellvertreter mitzuteilen. Der Fabrikant aber
folgte K.?s Blick, klopfte auf seine Tasche und sagte ohne
sie zu öffnen: ?Sie wollen hören, wie es ausgefallen ist.
Mittelgut. Ich trage schon fast den Geschäftsabschluß in der
Tasche. Ein reizender Mensch, Ihr Direktor-Stellvertreter,
aber durchaus nicht ungefährlich.? Er lachte, schüttelte
K.?s Hand und wollte auch ihn zum Lachen bringen. Aber K.
schien es nun wieder verdächtig, daß ihm der Fabrikant die
Papiere nicht zeigen wollte und er fand an der Bemerkung des
Fabrikanten nichts zum Lachen. ?Herr Prokurist,? sagte der
Fabrikant, ?Sie leiden wohl unter dem Wetter. Sie sehn heute
so bedrückt aus.? ?Ja,? sagte K. und griff mit der Hand an
die Schläfe, ?Kopfschmerzen, Familiensorgen.? ?Sehr
richtig,? sagte der Fabrikant, der ein eiliger Mensch war
und niemanden ruhig anhören konnte, ?jeder hat sein Kreuz zu
tragen.? Unwillkürlich hatte K. einen Schritt gegen die Tür
gemacht, als wolle er den Fabrikanten hinausbegleiten,
dieser aber sagte: ?Ich hätte Herr Prokurist noch eine
kleine Mitteilung für Sie. Ich fürchte sehr, daß ich Sie
gerade heute damit vielleicht belästige, aber ich war schon
zweimal in der letzten Zeit bei Ihnen und habe jedesmal
daran vergessen. Schiebe ich es aber noch weiterhin auf,
verliert es wahrscheinlich vollständig seinen Zweck. Das
wäre aber schade, denn im Grunde ist meine Mitteilung
vielleicht doch nicht wertlos.? Ehe K. Zeit hatte zu
antworten, trat der Fabrikant nahe an ihn heran, klopfte mit
dem Fingerknöchel leicht an seine Brust und sagte leise:
?Sie haben einen Proceß nicht wahr?? K. trat zurück und rief
sofort: ?Das hat Ihnen der Direktor-Stellvertreter gesagt.?
?Ach nein,? sagte der Fabrikant, ?woher sollte denn der
Stellvertreter es wissen?? ?Und Sie?? fragte K. schon viel
gefaßter. ?Ich erfahre hie und da etwas von dem Gericht,?
sagte der Fabrikant. ?Das betrifft eben die Mitteilung, die
ich Ihnen machen wollte.? ?So viele Leute sind mit dem
Gericht in Verbindung!? sagte K. mit gesenktem Kopf und
führte den Fabrikanten zum Schreibtisch. Sie setzten sich
wieder wie früher und der Fabrikant sagte: ?Es ist leider
nicht sehr viel, was ich Ihnen mitteilen kann. Aber in
solchen Dingen soll man nicht das geringste vernachlässigen.
Außerdem drängt es mich aber Ihnen irgendwie zu helfen und
sei meine Hilfe noch so bescheiden. Wir waren doch bisher
gute Geschäftsfreunde, nicht? Nun also.? K. wollte sich
wegen seines Verhaltens bei der heutigen Besprechung
entschuldigen, aber der Fabrikant duldete keine
Unterbrechung, schob die Aktentasche hoch unter die Achsel,
um zu zeigen, daß er Eile habe und fuhr fort: ?Von Ihrem
Proceß weiß ich durch einen gewissen Titorelli. Es ist ein
Maler, Titorelli ist nur sein Künstlername, seinen
wirklichen Namen kenne ich gar nicht. Er kommt schon seit
Jahren von Zeit zu Zeit in mein Bureau und bringt kleine
Bilder mit, für die ich ihm ? er ist fast ein Bettler ?
immer eine Art Almosen gebe. Es sind übrigens hübsche
Bilder, Heidelandschaften und dergleichen. Diese Verkäufe ?
wir hatten uns schon beide daran gewöhnt ? giengen ganz
glatt vor sich. Einmal aber wiederholten sich diese Besuche
doch zu oft, ich machte ihm Vorwürfe, wir kamen ins
Gespräch, es interessierte mich, wie er sich allein durch
Malen erhalten könne und ich erfuhr nun zu meinem Staunen,
daß seine Haupteinnahmsquelle das Porträtmalen sei. Er
arbeite für das Gericht, sagte er. Für welches Gericht
fragte ich. Und nun erzählte er mir von dem Gericht. Sie
werden sich wohl am besten vorstellen können wie erstaunt
ich über diese Erzählungen war. Seitdem höre ich bei jedem
seiner Besuche irgendwelche Neuigkeiten vom Gericht und
bekomme so allmählich einen gewissen Einblick in die Sache.
Allerdings ist Titorelli geschwätzig und ich muß ihn oft
abwehren, nicht nur weil er gewiß auch lügt, sondern vor
allem weil ein Geschäftsmann wie ich, der unter den eigenen
Geschäftssorgen fast zusammenbricht, sich nicht noch viel um
fremde Dinge kümmern kann. Aber das nur nebenbei. Vielleicht
? so dachte ich jetzt ? kann Ihnen Titorelli ein wenig
behilflich sein, er kennt viele Richter und wenn er selbst
auch keinen großen Einfluß haben sollte, so kann er Ihnen
doch Ratschläge geben, wie man verschiedenen einflußreichen
Leuten beikommen kann. Und wenn auch diese Ratschläge an und
für sich nicht entscheidend sein sollten, so werden sie doch
meiner Meinung nach in Ihrem Besitz von großer Bedeutung
sein. Sie sind ja fast ein Advokat. Ich pflege immer zu
sagen: Prokurist K. ist fast ein Advokat. Oh, ich habe keine
Sorgen wegen Ihres Processes. Wollen Sie nun aber zu
Titorelli gehen? Auf meine Empfehlung hin wird er gewiß
alles tun, was ihm möglich ist. Ich denke wirklich Sie
sollten hingehn. Es muß natürlich nicht heute sein, einmal,
gelegentlich. Allerdings sind Sie ? das will ich noch sagen
? dadurch, daß gerade ich Ihnen diesen Rat gebe, nicht im
geringsten verpflichtet, auch wirklich zu Titorelli
hinzugehn. Nein, wenn Sie Titorelli entbehren zu können
glauben, ist es gewiß besser, ihn ganz beiseite zu lassen.
Vielleicht haben Sie schon einen ganz genauen Plan und
Titorelli könnte ihn stören. Nein, dann gehn Sie natürlich
auf keinen Fall hin. Es kostet gewiß auch Überwindung sich
von einem solchen Burschen Ratschläge geben zu lassen. Nun
wie Sie wollen. Hier ist das Empfehlungsschreiben und hier
die Adresse.?

Enttäuscht nahm K. den Brief und steckte ihn in die Tasche.
Selbst im günstigsten Falle war der Vorteil, den ihm die
Empfehlung bringen konnte, unverhältnismäßig kleiner als der
Schaden, der darin lag, daß der Fabrikant von seinem Proceß
wußte und daß der Maler die Nachricht weiter verbreitete. Er
konnte sich kaum dazu zwingen dem Fabrikanten, der schon auf
dem Weg zur Türe war, mit ein paar Worten zu danken. ?Ich
werde hingehn,? sagte er, als er sich bei der Tür vom
Fabrikanten verabschiedete, ?oder ihm, da ich jetzt sehr
beschäftigt bin, schreiben, er möge einmal zu mir ins Bureau
kommen.? ?Ich wußte ja,? sagte der Fabrikant, ?daß Sie den
besten Ausweg finden würden. Allerdings dachte ich, daß Sie
es lieber vermeiden wollen, Leute wie diesen Titorelli in
die Bank einzuladen, um mit ihm hier über den Proceß zu
sprechen. Es ist auch nicht immer vorteilhaft Briefe an
solche Leute aus der Hand zu geben. Aber Sie haben gewiß
alles durchgedacht und wissen was Sie tun dürfen.? K. nickte
und begleitete den Fabrikanten noch durch das Vorzimmer.
Aber trotz äußerlicher Ruhe war er über sich sehr
erschrocken. Daß er Titorelli schreiben würde, hatte er
eigentlich nur gesagt, um dem Fabrikanten irgendwie zu
zeigen, daß er die Empfehlung zu schätzen wisse und die
Möglichkeiten mit Titorelli zusammenzukommen sofort
überlege, aber wenn er Titorellis Beistand für wertvoll
angesehen hätte, hätte er auch nicht gezögert, ihm wirklich
zu schreiben. Die Gefahren aber, die das zur Folge haben
könnte, hatte er erst durch die Bemerkung des Fabrikanten
erkannt. Konnte er sich auf seinen eigenen Verstand
tatsächlich schon so wenig verlassen? Wenn es möglich war,
daß er einen fragwürdigen Menschen durch einen deutlichen
Brief in die Bank einlud, um von ihm nur durch eine Tür vom
Direktor-Stellvertreter getrennt Ratschläge wegen seines
Processes zu erbitten, war es dann nicht möglich und sogar
sehr wahrscheinlich, daß er auch andere Gefahren übersah
oder in sie hineinrannte? Nicht immer stand jemand neben
ihm, um ihn zu warnen. Und gerade jetzt, wo er mit
gesammelten Kräften auftreten sollte, mußten derartige ihm
bisher fremde Zweifel an seiner eigenen Wachsamkeit
auftreten. Sollten die Schwierigkeiten, die er bei
Ausführung seiner Bureauarbeit fühlte, nun auch im Proceß
beginnen? Jetzt allerdings begriff er es gar nicht mehr wie
es möglich gewesen war, daß er an Titorelli hatte schreiben
und ihn in die Bank einladen wollen.

Er schüttelte noch den Kopf darüber, als der Diener an seine
Seite trat und ihn auf drei Herren aufmerksam machte, die
hier im Vorzimmer auf einer Bank saßen. Sie warteten schon
lange darauf, zu K. vorgelassen zu werden. Jetzt da der
Diener mit K. sprach, waren sie aufgestanden und jeder
wollte eine günstige Gelegenheit ausnützen, um sich vor den
andern an K. heranzumachen. Da man von seiten der Bank so
rücksichtslos war, sie hier im Wartezimmer ihre Zeit
verlieren zu lassen, wollten auch sie keine Rücksicht mehr
üben. ?Herr Prokurist,? sagte schon der eine. Aber K. hatte
sich vom Diener den Winterrock bringen lassen und sagte,
während er ihn mit Hilfe des Dieners anzog zu allen dreien:
?Verzeihen Sie meine Herren, ich habe augenblicklich leider
keine Zeit, Sie zu empfangen. Ich bitte Sie sehr um
Verzeihung, aber ich habe einen dringenden Geschäftsgang zu
erledigen und muß sofort weggehn. Sie haben ja selbst
gesehn, wie lange ich jetzt aufgehalten wurde. Wären Sie so
freundlich, morgen oder wann immer wiederzukommen? Oder
wollen wir die Sachen vielleicht telephonisch besprechen?
Oder wollen Sie mir vielleicht jetzt kurz sagen, um was es
sich handelt und ich gebe Ihnen dann eine ausführliche
schriftliche Antwort. Am besten wäre es allerdings Sie kämen
nächstens.? Diese Vorschläge K.?s brachten die Herren, die
nun vollständig nutzlos gewartet haben sollten, in solches
Staunen, daß sie einander stumm ansahen. ?Wir sind also
einig?? fragte K. der sich nach dem Diener umgewendet hatte,
der ihm nun auch den Hut brachte. Durch die offene Tür von
K.?s Zimmer sah man, wie sich draußen der Schneefall sehr
verstärkt hatte. K. schlug daher den Mantelkragen in die
Höhe und knöpfte ihn hoch unter dem Halse zu.

Da trat gerade aus dem Nebenzimmer der
Direktor-Stellvertreter, sah lächelnd K. im Winterrock mit
den Herren verhandeln und fragte: ?Sie gehn jetzt weg Herr
Prokurist?? ?Ja,? sagte K. und richtete sich auf, ?ich habe
einen Geschäftsgang zu machen.? Aber der
Direktor-Stellvertreter hatte sich schon den Herren
zugewendet. ?Und die Herren? fragte er. ?Ich glaube Sie
warten schon lange.? ?Wir haben uns schon geeinigt,? sagte
K. Aber nun ließen sich die Herren nicht mehr halten,
umringten K. und erklärten daß sie nicht stundenlang
gewartet hätten, wenn ihre Angelegenheiten nicht wichtig
wären und nicht jetzt undzwar ausführlich unter vier Augen
besprochen werden müßten. Der Direktor-Stellvertreter hörte
ihnen ein Weilchen zu, betrachtete auch K., der den Hut in
der Hand hielt und ihn stellenweise von Staub reinigte, und
sagte dann: ?Meine Herren es gibt ja einen sehr einfachen
Ausweg. Wenn Sie mit mir vorlieb nehmen wollen, übernehme
ich sehr gerne die Verhandlungen statt des Herrn
Prokuristen. Ihre Angelegenheiten müssen natürlich sofort
besprochen werden. Wir sind Geschäftsleute wie Sie und
wissen die Zeit von Geschäftsleuten richtig zu bewerten.
Wollen Sie hier eintreten?? Und er öffnete die Tür, die zu
dem Vorzimmer seines Bureaus führte.

Wie sich doch der Direktor-Stellvertreter alles anzueignen
verstand, was K. jetzt notgedrungen aufgeben mußte! Gab aber
K. nicht mehr auf, als unbedingt nötig war? Während er mit
unbestimmten und wie er sich eingestehen mußte sehr geringen
Hoffnungen zu einem unbekannten Maler lief, erlitt hier sein
Ansehen eine unheilbare Schädigung. Es wäre wahrscheinlich
viel besser gewesen, den Winterrock wieder auszuziehn und
wenigstens die zwei Herren, die ja nebenan doch noch warten
mußten, für sich zurückzugewinnen. K. hätte es vielleicht
auch versucht, wenn er nicht jetzt in seinem Zimmer den
Direktor-Stellvertreter erblickt hätte, wie er im
Bücherständer, als wäre es sein eigener, etwas suchte. Als
K. sich erregt der Türe näherte, rief er: ?Ah, Sie sind noch
nicht weggegangen.? Er wandte ihm sein Gesicht zu, dessen
viele straffe Falten nicht Alter sondern Kraft zu beweisen
schienen, und fieng sofort wieder zu suchen an. ?Ich suche
eine Vertragsabschrift,? sagte er, ?die sich wie der
Vertreter der Firma behauptet, bei Ihnen befinden soll.
Wollen Sie mir nicht suchen helfen?? K. machte einen
Schritt, aber der Direktor-Stellvertreter sagte: ?Danke ich
habe es schon gefunden? und kehrte mit einem großen Paket
Schriften, das nicht nur die Vertragsabschrift, sondern
gewiß noch vieles andere enthielt, wieder in sein Zimmer
zurück.

?Jetzt bin ich ihm nicht gewachsen,? sagte sich K., ?wenn
aber meine persönlichen Schwierigkeiten einmal beseitigt
sein werden, dann soll er wahrhaftig der erste sein, der es
zu fühlen bekommt undzwar möglichst bitter.? Durch diesen
Gedanken ein wenig beruhigt, gab K. dem Diener, der schon
lange die Tür zum Korridor für ihn offenhielt, den Auftrag,
dem Direktor gelegentlich die Meldung zu machen daß er sich
auf einem Geschäftsgang befinde, und verließ fast glücklich
darüber sich eine Zeitlang vollständiger seiner Sache widmen
zu können die Bank.

Er fuhr sofort zum Maler, der in einer Vorstadt wohnte, die
jener in welcher sich die Gerichtskanzleien befanden
vollständig entgegengesetzt war. Es war eine noch ärmere
Gegend; die Häuser noch dunkler, die Gassen voll Schmutz,
der auf dem zerflossenen Schnee langsam umhertrieb. Im Hause
in dem der Maler wohnte war nur ein Flügel des großen Tores
geöffnet, in den andern aber war unten an der Mauer eine
Lücke gebrochen, aus der gerade als sich K. näherte eine
widerliche gelbe rauchende Flüssigkeit herausschoß, vor der
sich eine Ratte in den nahen Kanal flüchtete. Unten an der
Treppe lag ein kleines Kind bäuchlings auf der Erde und
weinte, aber man hörte es kaum infolge des alles
übertönenden Lärms, der aus einer Klempfnerwerkstätte auf
der andern Seite des Torganges kam. Die Tür der Werkstätte
war offen, drei Gehilfen standen im Halbkreis um irgendein
Werkstück auf das sie mit den Hämmern schlugen. Eine große
Platte Weißblech, die an der Wand hieng, warf ein bleiches
Licht das zwischen zwei Gehilfen eindrang und die Gesichter
und Arbeitsschürzen erhellte. K. hatte für alles nur einen
flüchtigen Blick, er wollte möglichst rasch hier fertig
werden, nur den Maler mit paar Worten ausforschen und sofort
wieder in die Bank zurückgehn. Wenn er hier nur den
kleinsten Erfolg hatte, sollte das auf seine heutige Arbeit
in der Bank noch eine gute Wirkung ausüben. Im dritten
Stockwerk mußte er seinen Schritt mäßigen, er war ganz außer
Atem, die Treppen ebenso wie die Stockwerke waren übermäßig
hoch und der Maler sollte ganz oben in einer Dachkammer
wohnen. Auch war die Luft sehr drückend, es gab keinen
Treppenhof, die enge Treppe war auf beiden Seiten von Mauern
eingeschlossen, in denen nur hie und da fast ganz oben
kleine Fenster angebracht waren. Gerade als K. ein wenig
stehen blieb, liefen paar kleine Mädchen aus einer Wohnung
heraus und eilten lachend die Treppe weiter hinauf. K.
folgte ihnen langsam, holte eines der Mädchen ein, das
gestolpert und hinter den andern zurückgeblieben war, und
fragte es, während sie nebeneinander weiterstiegen: ?Wohnt
hier ein Maler Titorelli?? Das Mädchen, ein kaum
dreizehnjähriges etwas buckliges Mädchen, stieß ihn darauf
mit dem Elbogen an und sah von der Seite zu ihm auf. Weder
ihre Jugend noch ihr Körperfehler hatte verhindern können,
daß sie schon ganz verdorben war. Sie lächelte nicht einmal
sondern sah K. ernst mit scharfem aufforderndem Blicke an.
K. tat als hätte er ihr Benehmen nicht bemerkt und fragte:
?Kennst Du den Maler Titorelli?? Sie nickte und fragte
ihrerseits: ?Was wollen Sie von ihm?? K. schien es
vorteilhaft sich noch schnell ein wenig über Titorelli zu
unterrichten: ?Ich will mich von ihm malen lassen,? sagte
er. ?Malen lassen?? fragte sie, öffnete übermäßig den Mund,
schlug leicht mit der Hand gegen K., als hätte er etwas
außerordentlich überraschendes oder ungeschicktes gesagt,
hob mit beiden Händen ihr ohnedies sehr kurzes Röckchen und
lief so schnell sie konnte hinter den andern Mädchen, deren
Geschrei schon undeutlich in der Höhe sich verlor. Bei der
nächsten Wendung der Treppe aber traf K. schon wieder alle
Mädchen. Sie waren offenbar von der Buckligen von K.?s
Absicht verständigt worden und erwarteten ihn. Sie standen
zu beiden Seiten der Treppe, drückten sich an die Mauer,
damit K. bequem zwischen ihnen durchkomme und glätteten mit
der Hand ihre Schürzen. Alle Gesichter wie auch diese
Spalierbildung stellten eine Mischung von Kindlichkeit und
Verworfenheit dar. Oben an der Spitze der Mädchen, die sich
jetzt hinter K. lachend zusammenschlossen, war die Bucklige,
welche die Führung übernahm. K. hatte es ihr zu verdanken,
daß er gleich den richtigen Weg fand. Er wollte nämlich
geradeaus weitersteigen, sie aber zeigte ihm daß er eine
Abzweigung der Treppe wählen müsse um zu Titorelli zu
kommen. Die Treppe die zu ihm führte, war besonders schmal,
sehr lang, ohne Biegung, in ihrer ganzen Länge zu übersehn
und oben unmittelbar von Titorellis Tür abgeschlossen. Diese
Tür, die durch ein kleines, schief über ihr eingesetztes
Oberlichtfenster im Gegensatz zur übrigen Treppe
verhältnismäßig hell beleuchtet wurde, war aus nicht
übertünchten Balken zusammengesetzt, auf die der Name
Titorelli mit roter Farbe in breiten Pinselstrichen gemalt
war. K. war mit seinem Gefolge noch kaum in der Mitte der
Treppe, als oben, offenbar veranlaßt durch das Geräusch der
vielen Schritte, die Tür ein wenig geöffnet wurde und ein
wahrscheinlich nur mit einem Nachthemd bekleideter Mann in
der Türspalte erschien. ?Oh!? rief er, als er die Menge
kommen sah und verschwand. Die Bucklige klatschte vor Freude
in die Hände und die übrigen Mädchen drängten hinter K., um
ihn schneller vorwärtszutreiben.

Sie waren aber noch nicht einmal hinaufgekommen, als oben
der Maler die Tür gänzlich aufriß und mit einer tiefen
Verbeugung K. einlud einzutreten. Die Mädchen dagegen wehrte
er ab, er wollte keine von ihnen einlassen, so sehr sie
baten und so sehr sie versuchten, wenn schon nicht mit
seiner Erlaubnis so gegen seinen Willen einzudringen. Nur
der Buckligen gelang es unter seinem ausgestreckten Arm
durchzuschlüpfen, aber der Maler jagte hinter ihr her,
packte sie bei den Röcken, wirbelte sie einmal um sich herum
und setzte sie dann vor der Tür bei den andern Mädchen ab,
die es während der Maler seinen Posten verlassen hatte doch
nicht gewagt hatten die Schwelle zu überschreiten. K. wußte
nicht, wie er das Ganze beurteilen sollte, es hatte nämlich
den Anschein, als ob alles in freundschaftlichem
Einvernehmen geschehe. Die Mädchen bei der Tür streckten
eines hinter dem andern die Hälse in die Höhe, riefen dem
Maler verschiedene scherzhaft gemeinte Worte zu, die K.
nicht verstand und auch der Maler lachte, während die
Bucklige in seiner Hand fast flog. Dann schloß er die Tür,
verbeugte sich nochmals vor K., reichte ihm die Hand und
sagte sich vorstellend: ?Kunstmaler Titorelli.? K. zeigte
auf die Tür, hinter der die Mädchen flüsterten, und sagte:
?Sie scheinen im Hause sehr beliebt zu sein.? ?Ach, die
Fratzen!? sagte der Maler und suchte vergebens sein
Nachthemd am Halse zuzuknöpfen. Er war im übrigen bloßfüßig
und nur noch mit einer breiten gelblichen Leinenhose
bekleidet, die mit einem Riemen festgemacht war, dessen
langes Ende frei hin- und herschlug. ?Diese Fratzen sind mir
eine wahre Last,? fuhr er fort, während er vom Nachthemd
dessen letzter Knopf gerade abgerissen war abließ, einen
Sessel holte und K. zum Niedersetzen nötigte. ?Ich habe eine
von ihnen ? sie ist heute nicht einmal dabei ? einmal gemalt
und seitdem verfolgen mich alle. Wenn ich selbst hier bin
kommen sie nur herein, wenn ich es erlaube, bin ich aber
einmal weg, dann ist immer zumindest eine da. Sie haben sich
einen Schlüssel zu meiner Tür machen lassen, den sie
untereinander verleihen. Man kann sich kaum vorstellen wie
lästig das ist. Ich komme z. B. mit einer Dame die ich malen
soll nachhause, öffne die Tür mit meinem Schlüssel und finde
etwa die Bucklige dort beim Tischchen wie sie sich mit dem
Pinsel die Lippen rot färbt, während ihre kleinen
Geschwister, die sie zu beaufsichtigen hat, sich
herumtreiben und das Zimmer in allen Ecken verunreinigen.
Oder ich komme, wie es mir erst gestern geschehen ist, spät
abends nachhause ? entschuldigen Sie bitte mit Rücksicht
darauf meinen Zustand und die Unordnung im Zimmer ? also ich
komme spät abends nachhause und will ins Bett steigen, da
zwickt mich etwas ins Bein, ich schaue unter das Bett und
ziehe wieder so ein Ding heraus. Warum sie sich so zu mir
drängen weiß ich nicht, daß ich sie nicht zu mir zu locken
suche, dürften Sie eben bemerkt haben. Natürlich bin ich
dadurch auch in meiner Arbeit gestört. Wäre mir dieses
Atelier nicht umsonst zur Verfügung gestellt, ich wäre schon
längst ausgezogen.? Gerade rief hinter der Tür ein
Stimmchen, zart und ängstlich: ?Titorelli, dürfen wir schon
kommen?? ?Nein,? antwortete der Maler. ?Ich allein auch
nicht?? fragte es wieder. ?Auch nicht,? sagte der Maler,
gieng zur Tür und sperrte sie ab.

K. hatte sich inzwischen im Zimmer umgesehen, er wäre
niemals selbst auf den Gedanken gekommen, daß man dieses
elende kleine Zimmer ein Atelier nennen könnte. Mehr als
zwei lange Schritte konnte man der Länge und Quere nach kaum
hier machen. Alles, Fußboden, Wände und Zimmerdecke war aus
Holz, zwischen den Balken sah man schmale Ritzen. K.
gegenüber stand an der Wand das Bett, das mit
verschiedenfarbigem Bettzeug überladen war. In der Mitte des
Zimmers war auf einer Staffelei ein Bild, das mit einem Hemd
verhüllt war, dessen Ärmel bis zum Boden baumelten. Hinter
K. war das Fenster, durch das man im Nebel nicht weiter
sehen konnte, als über das mit Schnee bedeckte Dach des
Nachbarhauses.

Das Umdrehn des Schlüssels im Schloß erinnerte K. daran, daß
er bald hatte weggehn wollen. Er zog daher den Brief des
Fabrikanten aus der Tasche, reichte ihn dem Maler und sagte:
?Ich habe durch diesen Herrn Ihren Bekannten von Ihnen
erfahren und bin auf seinen Rat hin gekommen.? Der Maler las
den Brief flüchtig durch und warf ihn aufs Bett. Hätte der
Fabrikant nicht auf das bestimmteste von Titorelli als von
seinem Bekannten gesprochen, als von einem armen Menschen,
der auf seine Almosen angewiesen war, so hätte man jetzt
wirklich glauben können, Titorelli kenne den Fabrikanten
nicht oder wisse sich an ihn wenigstens nicht zu erinnern.
Überdies fragte nun der Maler: ?Wollen Sie Bilder kaufen
oder sich selbst malen lassen?? K. sah den Maler erstaunt
an. Was stand denn eigentlich in dem Brief? K. hatte es als
selbstverständlich angenommen, daß der Fabrikant in dem
Brief den Maler davon unterrichtet hatte, daß K. nichts
anderes wollte, als sich hier wegen seines Processes zu
erkundigen. Er war doch gar zu eilig und unüberlegt
hierhergelaufen! Aber er mußte jetzt dem Maler irgendwie
antworten und sagte mit einem Blick auf die Staffelei: ?Sie
arbeiten gerade an einem Bild?? ?Ja,? sagte der Maler und
warf das Hemd, das über der Staffelei hieng, dem Brief nach
auf das Bett. ?Es ist ein Porträt. Eine gute Arbeit, aber
noch nicht ganz fertig.? Der Zufall war K. günstig, die
Möglichkeit vom Gericht zu reden, wurde ihm förmlich
dargeboten, denn es war offenbar das Porträt eines Richters.
Es war übrigens dem Bild im Arbeitszimmer des Advokaten
auffallend ähnlich. Es handelte sich hier zwar um einen ganz
andern Richter, einen dicken Mann mit schwarzem buschigen
Vollbart, der seitlich weit die Wangen hinaufreichte, auch
war jenes Bild ein Ölbild, dieses aber mit Pastellfarben
schwach und undeutlich angesetzt. Aber alles übrige war
ähnlich, denn auch hier wollte sich gerade der Richter von
seinem Tronsessel, dessen Seitenlehnen er festhielt, drohend
erheben. ?Das ist ja ein Richter,? hatte K. gleich sagen
wollen, hielt sich dann aber vorläufig noch zurück und
näherte sich dem Bild als wolle er es in den Einzelheiten
studieren. Eine große Figur die in der Mitte über der
Rückenlehne des Tronsessels stand konnte er sich nicht
erklären und fragte den Maler nach ihr. ?Sie muß noch ein
wenig ausgearbeitet werden,? antwortete der Maler, holte von
einem Tischchen einen Pastellstift und strichelte mit ihm
,ein wenig an den Rändern der Figur, ohne sie aber dadurch
für K. deutlicher zu machen. ?Es ist die Gerechtigkeit,?
sagte der Maler schließlich. ?Jetzt erkenne ich sie schon,?
sagte K., ?hier ist die Binde um die Augen und hier die
Wage. Aber sind nicht an den Fersen Flügel und befindet sie
sich nicht im Lauf?? ?Ja,? sagte der Maler, ?ich mußte es
über Auftrag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeit
und die Siegesgöttin in einem.? ?Das ist keine gute
Verbindung,? sagte K. lächelnd, ?die Gerechtigkeit muß
ruhen, sonst schwankt die Wage und es ist kein gerechtes
Urteil möglich.? ?Ich füge mich darin meinem Auftraggeber,?
sagte der Maler. ?Ja gewiß,? sagte K., der mit seiner
Bemerkung niemanden hatte kränken wollen. ?Sie haben die
Figur so gemalt, wie sie auf dem Tronsessel wirklich steht.?
?Nein,? sagte der Maler, ?ich habe weder die Figur noch den
Tronsessel gesehn, das alles ist Erfindung, aber es wurde
mir angegeben, was ich zu malen habe.? ?Wie?? fragte K., er
tat absichtlich, als verstehe er den Maler nicht völlig, ?es
ist doch ein Richter, der auf dem Richterstuhl sitzt.? ?Ja,?
sagte der Maler, ?aber es ist kein hoher Richter und er ist
niemals auf einem solchen Tronsessel gesessen.? ?Und läßt
sich doch in so feierlicher Haltung malen? Er sitzt ja da
wie ein Gerichtspräsident.? ?Ja, eitel sind die Herren,?
sagte der Maler. ?Aber sie haben die höhere Erlaubnis sich
so malen zu lassen. Jedem ist genau vorgeschrieben, wie er
sich malen lassen darf. Nur kann man leider gerade nach
diesem Bild die Einzelheiten der Tracht und des Sitzes nicht
beurteilen, die Pastellfarben sind für solche Darstellungen
nicht geeignet.? ?Ja,? sagte K., ?es ist sonderbar, daß es
in Pastellfarben gemalt ist.? ?Der Richter wünschte es so,?
sagte der Maler, ?es ist für eine Dame bestimmt.? Der
Anblick des Bildes schien ihm Lust zur Arbeit gemacht zu
haben, er krempelte die Hemdärmel aufwärts, nahm einige
Stifte in die Hand und K. sah zu, wie unter den zitternden
Spitzen der Stifte anschließend an den Kopf des Richters ein
rötlicher Schatten sich bildete, der strahlenförmig gegen
den Rand des Bildes vergieng. Allmählich umgab dieses Spiel
des Schattens den Kopf wie ein Schmuck oder eine hohe
Auszeichnung. Um die Figur der Gerechtigkeit aber blieb es
bis auf eine unmerkliche Tönung hell, in dieser Helligkeit
schien die Figur besonders vorzudringen, sie erinnerte kaum
mehr an die Göttin der Gerechtigkeit, aber auch nicht an die
des Sieges, sie sah jetzt vielmehr vollkommen wie die Göttin
der Jagd aus. Die Arbeit des Malers zog K. mehr an als er
wollte; schließlich aber machte er sich doch Vorwürfe, daß
er solange schon hier war und im Grunde noch nichts für
seine eigene Sache unternommen hatte. ?Wie heißt dieser
Richter?? fragte er plötzlich. ?Das darf ich nicht sagen,?
antwortete der Maler, er war tief zum Bild hinabgebeugt und
vernachlässigte deutlich seinen Gast, den er doch zuerst so
rücksichtsvoll empfangen hatte. K. hielt das für eine Laune
und ärgerte sich darüber weil er dadurch Zeit verlor. ?Sie
sind wohl ein Vertrauensmann des Gerichtes?? fragte er.
Sofort legte der Maler die Stifte beiseite, richtete sich
auf, rieb die Hände an einander und sah K. lächelnd an. ?Nur
immer gleich mit der Wahrheit heraus,? sagte er, ?Sie wollen
etwas über das Gericht erfahren, wie es ja auch in Ihrem
Empfehlungsschreiben steht, und haben zunächst über meine
Bilder gesprochen um mich zu gewinnen. Aber ich nehme das
nicht übel, Sie konnten ja nicht wissen, daß das bei mir
unangebracht ist. Oh bitte!? sagte er scharf abwehrend, als
K. etwas einwenden wollte. Und fuhr dann fort: ?Im übrigen
haben Sie mit Ihrer Bemerkung vollständig recht, ich bin ein
Vertrauensmann des Gerichtes.? Er machte eine Pause, als
wolle er K. Zeit lassen, sich mit dieser Tatsache
abzufinden. Man hörte jetzt wieder hinter der Tür die
Mädchen. Sie drängten sich wahrscheinlich um das
Schlüsselloch, vielleicht konnte man auch durch die Ritzen
ins Zimmer hereinsehn. K. unterließ es sich irgendwie zu
entschuldigen denn er wollte den Maler nicht ablenken, wohl
aber wollte er nicht, daß der Maler sich allzu überhebe und
sich auf diese Weise gewissermaßen unerreichbar mache, er
fragte deshalb: ?Ist das eine öffentlich anerkannte
Stellung?? ?Nein,? sagte der Maler kurz, als sei ihm dadurch
die weitere Rede verschlagen. K. wollte ihn aber nicht
verstummen lassen und sagte: ?Nun, oft sind derartige nicht
anerkannte Stellungen einflußreicher als die anerkannten.?
?Das ist eben bei mir der Fall,? sagte der Maler und nickte
mit zusammengezogener Stirn. ?Ich sprach gestern mit dem
Fabrikanten über Ihren Fall, er fragte mich ob ich Ihnen
nicht helfen wollte, ich antwortete: ?Der Mann kann ja
einmal zu mir kommen? und nun freue ich mich, Sie so bald
hier zu sehn. Die Sache scheint Ihnen ja sehr nahe zu gehn,
worüber ich mich natürlich gar nicht wundere. Wollen Sie
vielleicht zunächst Ihren Rock ablegen?? Trotzdem K.
beabsichtigte nur ganz kurze Zeit hier zu bleiben, war ihm
diese Aufforderung des Malers doch sehr willkommen. Die Luft
im Zimmer war ihm allmählich drückend geworden, öfters hatte
er schon verwundert auf einen kleinen zweifellos nicht
geheizten Eisenofen in der Ecke hingesehn, die Schwüle im
Zimmer war unerklärlich. Während er den Winterrock ablegte
und auch noch den Rock aufknöpfte, sagte der Maler sich
entschuldigend: ?Ich muß Wärme haben. Es ist hier doch sehr
behaglich, nicht? Das Zimmer ist in dieser Hinsicht sehr gut
gelegen.? K. sagte dazu nichts, aber es war nicht eigentlich
die Wärme, die ihm Unbehagen machte, es war vielmehr die
dumpfe das Atmen fast behindernde Luft, das Zimmer war wohl
schon lange nicht gelüftet. Diese Unannehmlichkeit wurde für
K. dadurch noch verstärkt, daß ihn der Maler bat sich auf
das Bett zu setzen, während er selbst sich auf den einzigen
Stuhl des Zimmers vor der Staffelei niedersetzte. Außerdem
schien es der Maler mißzuverstehn, warum K. nur am Bettrand
blieb, er bat vielmehr, K. möchte es sich bequem machen und
gieng, da K. zögerte, selbst hin und drängte ihn tief in die
Betten und Pölster hinein. Dann kehrte er wieder zu seinem
Sessel zurück und stellte endlich die erste sachliche Frage,
die K. alles andere vergessen ließ. ?Sind Sie unschuldig??
fragte er. ?Ja,? sagte K. Die Beantwortung dieser Frage
machte ihm geradezu Freude, besonders da sie gegenüber einem
Privatmann, also ohne jede Verantwortung erfolgte. Noch
niemand hatte ihn so offen gefragt. Um diese Freude
auszukosten, fügte er noch hinzu: ?Ich bin vollständig
unschuldig.? ?So,? sagte der Maler, senkte den Kopf und
schien nachzudenken. Plötzlich hob er wieder den Kopf und
sagte: ?Wenn Sie unschuldig sind, dann ist ja die Sache sehr
einfach.? K.?s Blick trübte sich, dieser angebliche
Vertrauensmann des Gerichtes redete wie ein unwissendes
Kind. ?Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht,? sagte K.
Er mußte trotz allem lächeln und schüttelte langsam den
Kopf. ?Es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sich das
Gericht verliert. Zum Schluß aber zieht es von irgendwoher
wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine große Schuld
hervor.? ?Ja, ja gewiß,? sagte der Maler, als störe K.
unnötiger Weise seinen Gedankengang. ?Sie sind aber doch
unschuldig?? ?Nun ja,? sagte K. ?Das ist die Hauptsache,?
sagte der Maler. Er war durch Gegengründe nicht zu
beeinflussen, nur war es trotz seiner Entschiedenheit nicht
klar, ob er aus Überzeugung oder nur aus Gleichgültigkeit so
redete. K. wollte das zunächst feststellen und sagte
deshalb: ?Sie kennen ja gewiß das Gericht viel besser als
ich, ich weiß nicht viel mehr als was ich darüber,
allerdings von ganz verschiedenen Leuten gehört habe. Darin
stimmten aber alle überein, daß leichtsinnige Anklagen nicht
erhoben werden und daß das Gericht, wenn es einmal anklagt,
fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und von
dieser Überzeugung nur schwer abgebracht werden kann.?
?Schwer?? fragte der Maler und warf eine Hand in die Höhe.
?Niemals ist das Gericht davon abzubringen. Wenn ich hier
alle Richter neben einander auf eine Leinwand male und Sie
werden sich vor dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie
mehr Erfolg haben als vor dem wirklichen Gericht.? ?Ja,?
sagte K. für sich und vergaß, daß er den Maler nur hatte
ausforschen wollen.

Wieder begann ein Mädchen hinter der Tür zu fragen:
?Titorelli, wird er denn nicht schon bald weggehn.?
?Schweigt,? rief der Maler zur Tür hin, ?seht Ihr denn
nicht, daß ich mit dem Herrn eine Besprechung habe.? Aber
das Mädchen gab sich damit nicht zufrieden sondern fragte:
?Du wirst ihn malen?? Und als der Maler nicht antwortete
sagte sie noch: ?Bitte mal? ihn nicht, einen so häßlichen
Menschen.? Ein Durcheinander unverständlicher zustimmender
Zurufe folgte. Der Maler machte einen Sprung zur Tür,
öffnete sie bis zu einem Spalt ? man sah die bittend
vorgestreckten gefalteten Hände der Mädchen ? und sagte:
?Wenn Ihr nicht still seid, werfe ich Euch alle die Treppe
hinunter. Setzt Euch hier auf die Stufen und verhaltet Euch
ruhig.? Wahrscheinlich folgten sie nicht gleich, so daß er
kommandieren mußte. ?Nieder auf die Stufen!? Erst dann wurde
es still.

?Verzeihen Sie,? sagte der Maler als er zu K. wieder
zurückkehrte. K. hatte sich kaum zur Tür hingewendet, er
hatte es vollständig dem Maler überlassen, ob und wie er ihn
in Schutz nehmen wollte. Er machte auch jetzt kaum eine
Bewegung, als sich der Maler zu ihm niederbeugte und ihm, um
draußen nicht gehört zu werden ins Ohr flüsterte: ?Auch
diese Mädchen gehören zum Gericht.? ?Wie?? fragte K., wich
mit dem Kopf zur Seite und sah den Maler an. Dieser aber
setzte sich wieder auf seinen Sessel und sagte halb im
Scherz halb zur Erklärung: ?Es gehört ja alles zum Gericht.?
?Das habe ich noch nicht bemerkt,? sagte K. kurz, die
allgemeine Bemerkung des Malers nahm dem Hinweis auf die
Mädchen alles Beunruhigende. Trotzdem sah K. ein Weilchen
lang zur Tür hin, hinter der die Mädchen jetzt still auf den
Stufen saßen. Nur eines hatte einen Strohhalm durch eine
Ritze zwischen den Balken gesteckt und führte ihn langsam
auf und ab.

?Sie scheinen noch keinen Überblick über das Gericht zu
haben,? sagte der Maler, er hatte die Beine weit auseinander
gestreckt und klatschte mit den Fußspitzen auf den Boden.
?Da Sie aber unschuldig sind, werden Sie ihn auch nicht
benötigen. Ich allein hole Sie heraus.? ?Wie wollen Sie das
tun?? fragte K. ?Da Sie doch vor kurzem selbst gesagt haben,
daß das Gericht für Beweisgründe vollständig unzugänglich
ist.? ?Unzugänglich nur für Beweisgründe, die man vor dem
Gericht vorbringt,? sagte der Maler und hob den Zeigefinger,
als habe K. eine feine Unterscheidung nicht bemerkt. ?Anders
verhält es sich aber damit, was man in dieser Hinsicht
hinter dem öffentlichen Gericht versucht, also in den
Beratungszimmern, in den Korridoren oder z. B. auch hier im
Atelier.? Was der Maler jetzt sagte schien K. nicht mehr so
unglaubwürdig, es zeigte vielmehr eine große Übereinstimmung
mit dem, was K. auch von andern Leuten gehört hatte. Ja, es
war sogar sehr hoffnungsvoll. Waren die Richter durch
persönliche Beziehungen wirklich so leicht zu lenken, wie es
der Advokat dargestellt hatte, dann waren die Beziehungen
des Malers zu den eitlen Richtern besonders wichtig und
jedenfalls keineswegs zu unterschätzen. Dann fügte sich der
Maler sehr gut in den Kreis von Helfern, die K. allmählich
um sich versammelte. Man hatte einmal in der Bank sein
Organisationstalent gerühmt, hier, wo er ganz allein auf
sich gestellt war, zeigte sich eine gute Gelegenheit es auf
das Äußerste zu erproben. Der Maler beobachtete die Wirkung,
die seine Erklärung auf K. gemacht hatte und sagte dann mit
einer gewissen Ängstlichkeit: ?Fällt es Ihnen nicht auf daß
ich fast wie ein Jurist spreche? Es ist der ununterbrochene
Verkehr mit den Herren vom Gericht, der mich so beeinflußt.
Ich habe natürlich viel Gewinn davon, aber der künstlerische
Schwung geht zum großen Teil verloren.? ?Wie sind Sie denn
zum erstenmal mit den Richtern in Verbindung gekommen??
fragte K., er wollte zuerst das Vertrauen des Malers
gewinnen, bevor er ihn geradezu in seine Dienste nahm. ?Das
war sehr einfach,? sagte der Maler, ?ich habe diese
Verbindung geerbt. Schon mein Vater war Gerichtsmaler. Es
ist das eine Stellung die sich immer vererbt. Man kann dafür
neue Leute nicht brauchen. Es sind nämlich für das Malen der
verschiedenen Beamtengrade so verschiedene vielfache und vor
allem geheime Regeln aufgestellt, daß sie überhaupt nicht
außerhalb bestimmter Familien bekannt werden. Dort in der
Schublade z. B. habe ich die Aufzeichnungen meines Vaters,
die ich niemandem zeige. Aber nur wer sie kennt ist zum
Malen von Richtern befähigt. Jedoch selbst wenn ich sie
verlieren würde, blieben mir noch so viele Regeln, die ich
allein in meinem Kopfe trage, daß mir niemand meine Stellung
streitig machen könnte. Es will doch jeder Richter so gemalt
werden wie die alten großen Richter gemalt worden sind und
das kann nur ich.? ?Das ist beneidenswert,? sagte K., der an
seine Stellung in der Bank dachte, ?Ihre Stellung ist also
unerschütterlich?? ?Ja unerschütterlich,? sagte der Maler
und hob stolz die Achseln. ?Deshalb kann ich es auch wagen
hie und da einem armen Mann, der einen Proceß hat, zu
helfen.? ?Und wie tun Sie das?? fragte K., als sei es nicht
er, den der Maler soeben einen armen Mann genannt hatte. Der
Maler aber ließ sich nicht ablenken, sondern sagte: ?In
Ihrem Fall z. B. werde ich, da Sie vollständig unschuldig
sind, Folgendes unternehmen.? Die wiederholte Erwähnung
seiner Unschuld wurde K. schon lästig. Ihm schien es
manchmal als mache der Maler durch solche Bemerkungen einen
günstigen Ausgang des Processes zur Voraussetzung seiner
Hilfe, die dadurch natürlich in sich selbst zusammenfiel.
Trotz dieser Zweifel bezwang sich aber K. und unterbrach den
Maler nicht. Verzichten wollte er auf die Hilfe des Malers
nicht, dazu war er entschlossen, auch schien ihm diese Hilfe
durchaus nicht fragwürdiger als die des Advokaten zu sein.
K. zog sie jener sogar beiweitem vor, weil sie harmloser und
offener dargeboten wurde.

Der Maler hatte seinen Sessel näher zum Bett gezogen und
fuhr mit gedämpfter Stimme fort: ?Ich habe vergessen Sie
zunächst zu fragen, welche Art der Befreiung Sie wünschen.
Es gibt drei Möglichkeiten, nämlich die wirkliche
Freisprechung, die scheinbare Freisprechung und die
Verschleppung. Die wirkliche Freisprechung ist natürlich das
Beste, nur habe ich nicht den geringsten Einfluß auf diese
Art der Lösung. Es gibt meiner Meinung nach überhaupt keine
einzelne Person, die auf die wirkliche Freisprechung Einfluß
hätte. Hier entscheidet wahrscheinlich nur die Unschuld des
Angeklagten. Da Sie unschuldig sind, wäre es wirklich
möglich, daß Sie sich allein auf Ihre Unschuld verlassen.
Dann brauchen Sie aber weder mich noch irgendeine andere
Hilfe.?

Diese geordnete Darstellung verblüffte K. anfangs, dann aber
sagte er ebenso leise wie der Maler: ?Ich glaube Sie
widersprechen sich.? ?Wie denn?? fragte der Maler geduldig
und lehnte sich lächelnd zurück. Dieses Lächeln erweckte in
K. das Gefühl, als ob er jetzt daran gehe, nicht in den
Worten des Malers sondern in dem Gerichtsverfahren selbst
Widersprüche zu entdecken. Trotzdem wich er aber nicht
zurück und sagte: ?Sie haben früher die Bemerkung gemacht,
daß das Gericht für Beweisgründe unzugänglich ist, später
haben Sie dies auf das öffentliche Gericht eingeschränkt und
jetzt sagen Sie sogar, daß der Unschuldige vor dem Gericht
keine Hilfe braucht. Darin liegt schon ein Widerspruch.
Außerdem aber haben Sie früher gesagt, daß man die Richter
persönlich beeinflussen kann, stellen aber jetzt in Abrede,
daß die wirkliche Freisprechung, wie Sie sie nennen, jemals
durch persönliche Beeinflussung zu erreichen ist. Darin
liegt der zweite Widerspruch.? ?Diese Widersprüche sind
leicht aufzuklären,? sagte der Maler. ?Es ist hier von zwei
verschiedenen Dingen die Rede, von dem was im Gesetz steht
und von dem was ich persönlich erfahren habe, das dürfen Sie
nicht verwechseln. Im Gesetz, ich habe es allerdings nicht
gelesen, steht natürlich einerseits daß der Unschuldige
freigesprochen wird, andererseits steht dort aber nicht, daß
die Richter beeinflußt werden können. Nun habe aber ich
gerade das Gegenteil dessen erfahren. Ich weiß von keiner
wirklichen Freisprechung, wohl aber von vielen
Beeinflussungen. Es ist natürlich möglich daß in allen mir
bekannten Fällen keine Unschuld vorhanden war. Aber ist das
nicht unwahrscheinlich? In so vielen Fällen keine einzige
Unschuld? Schon als Kind hörte ich dem Vater genau zu, wenn
er zuhause von Processen erzählte, auch die Richter, die in
sein Atelier kamen, erzählten vom Gericht, man spricht in
unsern Kreisen überhaupt von nichts anderem, kaum bekam ich
die Möglichkeit selbst zu Gericht zu gehn, nützte ich sie
immer aus, unzählbare Processe habe ich in wichtigen Stadien
angehört und soweit sie sichtbar sind verfolgt, und ? ich
muß es zugeben ? nicht einen einzigen wirklichen Freispruch
erlebt.? ?Keinen einzigen Freispruch also,? sagte K. als
rede er zu sich selbst und zu seinen Hoffnungen. ?Das
bestätigt aber die Meinung die ich von dem Gericht schon
habe. Es ist also auch von dieser Seite zwecklos. Ein
einziger Henker könnte das ganze Gericht ersetzen.? ?Sie
dürfen nicht verallgemeinern,? sagte der Maler unzufrieden,
?ich habe ja nur von meinen Erfahrungen gesprochen.? ?Das
genügt doch,? sagte K., ?oder haben Sie von Freisprüchen aus
früherer Zeit gehört?? ?Solche Freisprüche,? antwortete der
Maler, ?soll es allerdings gegeben haben. Nur ist es sehr
schwer das festzustellen. Die abschließenden Entscheidungen
des Gerichtes werden nicht veröffentlicht, sie sind nicht
einmal den Richtern zugänglich, infolgedessen haben sich
über alte Gerichtsfälle nur Legenden erhalten. Diese
enthalten allerdings sogar in der Mehrzahl wirkliche
Freisprechungen, man kann sie glauben, nachweisbar sind sie
aber nicht. Trotzdem muß man sie nicht ganz vernachlässigen,
eine gewisse Wahrheit enthalten sie wohl gewiß, auch sind
sie sehr schön, ich selbst habe einige Bilder gemalt, die
solche Legenden zum Inhalt haben.? ?Bloße Legenden ändern
meine Meinung nicht,? sagte K., ?man kann sich wohl auch vor
Gericht auf diese Legenden nicht berufen?? Der Maler lachte.
?Nein, das kann man nicht,? sagte er. ?Dann ist es nutzlos
darüber zu reden,? sagte K., er wollte vorläufig alle
Meinungen des Malers hinnehmen, selbst wenn er sie für
unwahrscheinlich hielt und sie andern Berichten
widersprachen. Er hatte jetzt nicht die Zeit alles was der
Maler sagte auf die Wahrheit hin zu überprüfen oder gar zu
widerlegen, es war schon das Äußerste erreicht, wenn er den
Maler dazu bewog, ihm in irgendeiner, sei es auch in einer
nicht entscheidenden Weise zu helfen. Darum sagte er: ?Sehn
wir also von der wirklichen Freisprechung ab, Sie erwähnten
aber noch zwei andere Möglichkeiten.? ?Die scheinbare
Freisprechung und die Verschleppung. Um die allein kann es
sich handeln,? sagte der Maler. ?Wollen Sie aber nicht, ehe
wir davon reden, den Rock ausziehn. Es ist Ihnen wohl heiß.?
?Ja,? sagte K., der bisher auf nichts als auf die
Erklärungen des Malers geachtet hatte, dem aber jetzt, da er
an die Hitze erinnert worden war, starker Schweiß auf der
Stirn ausbrach. ?Es ist fast unerträglich.? Der Maler
nickte, als verstehe er K.?s Unbehagen sehr gut. ?Könnte man
nicht das Fenster öffnen?? fragte K. ?Nein,? sagte der
Maler. ?Es ist bloß eine fest eingesetzte Glasscheibe, man
kann es nicht öffnen.? Jetzt erkannte K., daß er die ganze
Zeit über darauf gehofft hatte, plötzlich werde der Maler
oder er zum Fenster gehn und es aufreißen. Er war darauf
vorbereitet, selbst den Nebel mit offenem Mund einzuatmen.
Das Gefühl hier von der Luft vollständig abgesperrt zu sein
verursachte ihm Schwindel. Er schlug leicht mit der Hand auf
das Federbett neben sich und sagte mit schwacher Stimme:
?Das ist ja unbequem und ungesund.? ?Oh nein,? sagte der
Maler zur Verteidigung seines Fensters. ?Dadurch daß es
nicht aufgemacht werden kann, wird, trotzdem es nur eine
einfache Scheibe ist, die Wärme hier besser festgehalten als
durch ein Doppelfenster. Will ich aber lüften, was nicht
sehr notwendig ist, da durch die Balkenritzen überall Luft
eindringt, kann ich eine meiner Türen oder sogar beide
öffnen.? K. durch diese Erklärung ein wenig getröstet
blickte herum, um die zweite Tür zu finden. Der Maler
bemerkte das und sagte: ?Sie ist hinter Ihnen, ich mußte sie
durch das Bett verstellen.? Jetzt erst sah K. die kleine
Türe in der Wand. ?Es ist eben hier alles viel zu klein für
ein Atelier,? sagte der Maler, als wolle er einem Tadel K.?s
zuvorkommen. ?Ich mußte mich einrichten so gut es gieng. Das
Bett vor der Tür steht natürlich an einem sehr schlechten
Platz. Der Richter z. B. den ich jetzt male, kommt immer
durch die Tür beim Bett und ich habe ihm auch einen
Schlüssel von dieser Tür gegeben, damit er auch wenn ich
nicht zuhause bin, hier im Atelier auf mich warten kann. Nun
kommt er aber gewöhnlich früh am Morgen während ich noch
schlafe. Es reißt mich natürlich immer aus dem tiefsten
Schlaf wenn sich neben dem Bett die Türe öffnet. Sie würden
jede Ehrfurcht vor den Richtern verlieren, wenn Sie die
Flüche hören würden, mit denen ich ihn empfange, wenn früh
er über mein Bett steigt. Ich könnte ihm allerdings den
Schlüssel wegnehmen, aber es würde dadurch nur ärger werden.
Man kann hier alle Türen mit der geringsten Anstrengung aus
den Angeln brechen.? Während dieser ganzen Rede überlegte K.
ob er den Rock ausziehn sollte, er sah aber schließlich ein,
daß er wenn er es nicht tat unfähig war, hier noch länger zu
bleiben, er zog daher den Rock aus, legte ihn aber über die
Knie, um ihn falls die Besprechung zuende wäre, sofort
wieder anziehn zu können. Kaum hatte er den Rock ausgezogen,
rief eines der Mädchen: ?Er hat schon den Rock ausgezogen?
und man hörte wie sich alle zu den Ritzen drängten, um das
Schauspiel selbst zu sehn. ?Die Mädchen glauben nämlich,?
sagte der Maler, ?daß ich Sie malen werde und daß Sie sich
deshalb ausziehn.? ?So,? sagte K. nur wenig belustigt, denn
er fühlte sich nicht viel besser als früher trotzdem er
jetzt in Hemdärmeln dasaß. Fast mürrisch fragte er: ?Wie
nannten Sie die zwei andern Möglichkeiten?? Er hatte die
Ausdrücke schon wieder vergessen. ?Die scheinbare
Freisprechung und die Verschleppung,? sagte der Maler. ?Es
liegt an Ihnen, was Sie davon wählen. Beides ist durch meine
Hilfe erreichbar, natürlich nicht ohne Mühe, der Unterschied
in dieser Hinsicht ist der, daß die scheinbare Freisprechung
eine gesammelte zeitweilige, die Verschleppung eine viel
geringere aber dauernde Anstrengung verlangt. Zunächst also
die scheinbare Freisprechung. Wenn Sie diese wünschen
sollten, schreibe ich auf einem Bogen Papier eine
Bestätigung Ihrer Unschuld auf. Der Text für eine solche
Bestätigung ist mir von meinem Vater überliefert und ganz
unangreifbar. Mit dieser Bestätigung mache ich nun einen
Rundgang bei den mir bekannten Richtern. Ich fange also etwa
damit an, daß ich dem Richter, den ich jetzt male, heute
abend wenn er zur Sitzung kommt, die Bestätigung vorlege.
Ich lege ihm die Bestätigung vor, erkläre ihm daß Sie
unschuldig sind und verbürge mich für Ihre Unschuld. Das ist
aber keine bloß äußerliche, sondern eine wirkliche bindende
Bürgschaft.? In den Blicken des Malers lag es wie ein
Vorwurf, daß K. ihm die Last einer solchen Bürgschaft
auferlegen wolle. ?Das wäre ja sehr freundlich,? sagte K.
?Und der Richter würde Ihnen glauben und mich trotzdem nicht
wirklich freisprechen?? ?Wie ich schon sagte,? antwortete
der Maler. ?Übrigens ist es durchaus nicht sicher, daß jeder
mir glauben würde, mancher Richter wird z. B. verlangen, daß
ich Sie selbst zu ihm hinführe. Dann müßten Sie also einmal
mitkommen. Allerdings ist in einem solchen Fall die Sache
schon halb gewonnen, besonders da ich Sie natürlich vorher
genau darüber unterrichten würde, wie Sie sich bei dem
betreffenden Richter zu verhalten haben. Schlimmer ist es
bei den Richtern, die mich ? auch das wird vorkommen ? von
vornherein abweisen. Auf diese müssen wir, wenn ich es auch
an mehrfachen Versuchen gewiß nicht fehlen lassen werde,
verzichten, wir dürfen das aber auch, denn einzelne Richter
können hier nicht den Ausschlag geben. Wenn ich nun auf
dieser Bestätigung eine genügende Anzahl von Unterschriften
der Richter habe, gehe ich mit dieser Bestätigung zu dem
Richter, der Ihren Proceß gerade führt. Möglicherweise habe
ich auch seine Unterschrift, dann entwickelt sich alles noch
ein wenig rascher, als sonst. Im allgemeinen gibt es dann
aber überhaupt nicht mehr viel Hindernisse, es ist dann für
den Angeklagten die Zeit der höchsten Zuversicht. Es ist
merkwürdig aber wahr, die Leute sind in dieser Zeit
zuversichtlicher als nach dem Freispruch. Es bedarf jetzt
keiner besondern Mühe mehr. Der Richter besitzt in der
Bestätigung die Bürgschaft einer Anzahl von Richtern, kann
Sie unbesorgt freisprechen und wird es allerdings nach
Durchführung verschiedener Formalitäten mir und andern
Bekannten zu Gefallen zweifellos tun. Sie aber treten aus
dem Gericht und sind frei.? ?Dann bin ich also frei,? sagte
K. zögernd. ?Ja,? sagte der Maler, ?aber nur scheinbar frei
oder besser ausgedrückt zeitweilig frei. Die untersten
Richter nämlich, zu denen meine Bekannten gehören, haben
nicht das Recht endgiltig freizusprechen, dieses Recht hat
nur das oberste, für Sie, für mich und für uns alle ganz
unerreichbare Gericht. Wie es dort aussieht wissen wir nicht
und wollen wir nebenbei gesagt auch nicht wissen. Das große
Recht, von der Anklage zu befreien haben also unsere Richter
nicht, wohl aber haben sie das Recht von der Anklage
loszulösen. Das heißt, wenn Sie auf diese Weise
freigesprochen werden, sind Sie für den Augenblick der
Anklage entzogen, aber sie schwebt auch weiterhin über Ihnen
und kann, sobald nur der höhere Befehl kommt, sofort in
Wirkung treten. Da ich mit dem Gericht in so guter
Verbindung stehe kann ich Ihnen auch sagen wie sich in den
Vorschriften für die Gerichtskanzleien der Unterschied
zwischen der wirklichen und der scheinbaren Freisprechung
rein äußerlich zeigt. Bei einer wirklichen Freisprechung
sollen die Proceßakten vollständig abgelegt werden, sie
verschwinden gänzlich aus dem Verfahren, nicht nur die
Anklage, auch der Proceß und sogar der Freispruch sind
vernichtet, alles ist vernichtet. Anders beim scheinbaren
Freispruch. Mit dem Akten ist keine weitere Veränderung vor
sich gegangen, als daß er um die Bestätigung der Unschuld,
um den Freispruch und um die Begründung des Freispruchs
bereichert worden ist. Im übrigen aber bleibt er im
Verfahren, er wird wie es der ununterbrochene Verkehr der
Gerichtskanzleien erfordert, zu den höhern Gerichten
weitergeleitet, kommt zu den niedrigern zurück und pendelt
so mit größern und kleinern Schwingungen, mit größern und
kleinern Stockungen auf und ab. Diese Wege sind
unberechenbar. Von außen gesehn kann es manchmal den
Anschein bekommen, daß alles längst vergessen, der Akt
verloren und der Freispruch ein vollkommener ist. Ein
Eingeweihter wird das nicht glauben. Es geht kein Akt
verloren, es gibt bei Gericht kein Vergessen. Eines Tages ?
niemand erwartet es ? nimmt irgendein Richter den Akt
aufmerksamer in die Hand, erkennt daß in diesem Fall die
Anklage noch lebendig ist und ordnet die sofortige
Verhaftung an. Ich habe hier angenommen, daß zwischen dem
scheinbaren Freispruch und der neuen Verhaftung eine lange
Zeit vergeht, das ist möglich und ich weiß von solchen
Fällen, es ist aber ebensogut möglich, daß der
Freigesprochene vom Gericht nachhause kommt und dort schon
Beauftragte warten, um ihn wieder zu verhaften. Dann ist
natürlich das freie Leben zuende.? ?Und der Proceß beginnt
von neuem?? fragte K. fast ungläubig. ?Allerdings,? sagte
der Maler, ?der Proceß beginnt von neuem, es besteht aber
wieder die Möglichkeit ebenso wie früher, einen scheinbaren
Freispruch zu erwirken. Man muß wieder alle Kräfte
zusammennehmen und darf sich nicht ergeben.? Das Letztere
sagte der Maler vielleicht unter dem Eindruck, den K., der
ein wenig zusammengesunken war, auf ihn machte. ?Ist aber,?
fragte K. als wolle er jetzt irgendwelchen Enthüllungen des
Malers zuvorkommen, ?die Erwirkung eines zweiten
Freispruches nicht schwieriger als die des ersten?? ?Man
kann,? antwortete der Maler, ?in dieser Hinsicht nichts
Bestimmtes sagen. Sie meinen wohl daß die Richter durch die
zweite Verhaftung in ihrem Urteil zu Ungunsten des
Angeklagten beeinflußt werden? Das ist nicht der Fall. Die
Richter haben ja schon beim Freispruch diese Verhaftung
vorhergesehn. Dieser Umstand wirkt also kaum ein. Wohl aber
kann aus zahllosen sonstigen Gründen die Stimmung der
Richter sowie ihre rechtliche Beurteilung des Falles eine
andere geworden sein und die Bemühungen um den zweiten
Freispruch müssen daher den veränderten Umständen angepaßt
werden und im allgemeinen ebenso kräftig sein wie die vor
dem ersten Freispruch.? ?Aber dieser zweite Freispruch ist
doch wieder nicht endgiltig,? sagte K. und drehte abweisend
den Kopf. ?Natürlich nicht,? sagte der Maler, ?dem zweiten
Freispruch folgt die dritte Verhaftung, dem dritten
Freispruch die vierte Verhaftung und so fort. Das liegt
schon im Begriff des scheinbaren Freispruchs.? K. schwieg.
?Der scheinbare Freispruch scheint Ihnen offenbar nicht
vorteilhaft zu sein,? sagte der Maler, ?vielleicht
entspricht Ihnen die Verschleppung besser. Soll ich Ihnen
das Wesen der Verschleppung erklären?? K. nickte. Der Maler
hatte sich breit in seinem Sessel zurückgelehnt, das
Nachthemd war weit offen, er hatte eine Hand darunter
geschoben, mit der er über die Brust und die Seiten strich.
?Die Verschleppung,? sagte der Maler und sah einen
Augenblick vor sich hin, als suche er eine vollständig
zutreffende Erklärung, ?die Verschleppung besteht darin, daß
der Proceß dauernd im niedrigsten Proceßstadium erhalten
wird. Um dies zu erreichen ist es nötig, daß der Angeklagte
und der Helfer, insbesondere aber der Helfer in
ununterbrochener persönlicher Fühlung mit dem Gerichte
bleibt. Ich wiederhole, es ist hiefür kein solcher
Kraftaufwand nötig wie bei der Erreichung eines scheinbaren
Freispruchs, wohl aber ist eine viel größere Aufmerksamkeit
nötig. Man darf den Proceß nicht aus dem Auge verlieren, man
muß zu dem betreffenden Richter in regelmäßigen
Zwischenräumen und außerdem bei besondern Gelegenheiten gehn
und ihn auf jede Weise sich freundlich zu erhalten suchen;
ist man mit dem Richter nicht persönlich bekannt, so muß man
durch bekannte Richter ihn beeinflussen lassen, ohne daß man
etwa deshalb die unmittelbaren Besprechungen aufgeben
dürfte. Versäumt man in dieser Hinsicht nichts, so kann man
mit genügender Bestimmtheit annehmen, daß der Proceß über
sein erstes Stadium nicht hinauskommt. Der Proceß hört zwar
nicht auf, aber der Angeklagte ist vor einer Verurteilung
fast ebenso gesichert, wie wenn er frei wäre. Gegenüber dem
scheinbaren Freispruch hat die Verschleppung den Vorteil,
daß die Zukunft des Angeklagten weniger unbestimmt ist, er
bleibt vor dem Schrecken der plötzlichen Verhaftungen
bewahrt und muß nicht fürchten, etwa gerade zu Zeiten, wo
seine sonstigen Umstände dafür am wenigsten günstig sind,
die Anstrengungen und Aufregungen auf sich nehmen zu müssen,
welche mit der Erreichung des scheinbaren Freispruchs
verbunden sind. Allerdings hat auch die Verschleppung für
den Angeklagten gewisse Nachteile die man nicht
unterschätzen darf. Ich denke hiebei nicht daran, daß hier
der Angeklagte niemals frei ist, das ist er ja auch bei der
scheinbaren Freisprechung im eigentlichen Sinne nicht. Es
ist ein anderer Nachteil. Der Proceß kann nicht stillstehn,
ohne daß wenigstens scheinbare Gründe dafür vorliegen. Es
muß deshalb im Proceß nach außen hin etwas geschehn. Es
müssen also von Zeit zu Zeit verschiedene Anordnungen
getroffen werden, der Angeklagte muß verhört werden,
Untersuchungen müssen stattfinden u. s. w. Der Proceß muß
eben immerfort in dem kleinen Kreis, auf den er künstlich
eingeschränkt worden ist, gedreht werden. Das bringt
natürlich gewisse Unannehmlichkeiten für den Angeklagten mit
sich, die Sie sich aber wiederum nicht zu schlimm vorstellen
dürfen. Es ist ja alles nur äußerlich, die Verhöre
beispielsweise sind also nur ganz kurz, wenn man einmal
keine Zeit oder keine Lust hat hinzugehn, darf man sich
entschuldigen, man kann sogar bei gewissen Richtern die
Anordnungen für eine lange Zeit im voraus gemeinsam
festsetzen, es handelt sich im Wesen nur darum, daß man, da
man Angeklagter ist, von Zeit zu Zeit bei seinem Richter
sich meldet.? Schon während der letzten Worte hatte K. den
Rock über den Arm gelegt und war aufgestanden. ?Er steht
schon auf,? rief es sofort draußen vor der Tür. ?Sie wollen
schon fortgehn?? fragte der Maler, der auch aufgestanden
war. ?Es ist gewiß die Luft, die Sie von hier vertreibt. Es
ist mir sehr peinlich. Ich hätte Ihnen auch noch manches zu
sagen. Ich mußte mich ganz kurz fassen. Ich hoffe aber
verständlich gewesen zu sein.? ?Oja,? sagte K., dem von der
Anstrengung mit der er sich zum Zuhören gezwungen hatte der
Kopf schmerzte. Trotz dieser Bestätigung sagte der Maler
alles nocheinmal zusammenfassend, als wolle er K. auf den
Heimweg einen Trost mitgeben: ?Beide Metoden haben das
Gemeinsame, daß sie eine Verurteilung des Angeklagten
verhindern.? ?Sie verhindern aber auch die wirkliche
Freisprechung,? sagte K. leise, als schäme er sich das
erkannt zu haben. ?Sie haben den Kern der Sache erfaßt,?
sagte der Maler schnell. K. legte die Hand auf seinen
Winterrock, konnte sich aber nicht einmal entschließen, den
Rock anzuziehn. Am liebsten hätte er alles zusammengepackt
und wäre damit an die frische Luft gelaufen. Auch die
Mädchen konnten ihn nicht dazu bewegen sich anzuziehn,
trotzdem sie verfrüht schon einander zuriefen, daß er sich
anziehe. Dem Maler lag daran K.?s Stimmung irgendwie zu
deuten, er sagte deshalb: ?Sie haben sich wohl hinsichtlich
meiner Vorschläge noch nicht entschieden. Ich billige das.
Ich hätte Ihnen sogar davon abgeraten sich sofort zu
entscheiden. Die Vorteile und Nachteile sind haarfein. Man
muß alles genau abschätzen. Allerdings darf man auch nicht
zuviel Zeit verlieren.? ?Ich werde bald wiederkommen,? sagte
K., der in einem plötzlichen Entschluß den Rock anzog, den
Mantel über die Schulter warf und zur Tür eilte, hinter der
jetzt die Mädchen zu schreien anfiengen. K. glaubte die
schreienden Mädchen durch die Tür zu sehn. ?Sie müssen aber
Wort halten,? sagte der Maler, der ihm nicht gefolgt war,
?sonst komme ich in die Bank, um selbst nachzufragen.?
?Sperren Sie doch die Tür auf,? sagte K. und riß an der
Klinke, die die Mädchen, wie er an dem Gegendruck merkte,
draußen festhielten. ?Wollen Sie von den Mädchen belästigt
werden?? fragte der Maler. ?Benützen Sie doch lieber diesen
Ausgang,? und er zeigte auf die Tür hinter dem Bett. K. war
damit einverstanden und sprang zum Bett zurück. Aber statt
die Tür dort zu öffnen, kroch der Maler unter das Bett und
fragte von unten: ?Nur noch einen Augenblick. Wollen Sie
nicht noch ein Bild sehn, das ich Ihnen verkaufen könnte??
K. wollte nicht unhöflich sein, der Maler hatte sich
wirklich seiner angenommen und versprochen ihm weiterhin zu
helfen, auch war infolge der Vergeßlichkeit K.?s über die
Entlohnung für die Hilfe noch gar nicht gesprochen worden,
deshalb konnte ihn K. jetzt nicht abweisen und ließ sich das
Bild zeigen, wenn er auch vor Ungeduld zitterte, aus dem
Atelier wegzukommen. Der Maler zog unter dem Bett einen
Haufen ungerahmter Bilder hervor, die so mit Staub bedeckt
waren, daß dieser, als ihn der Maler vom obersten Bild
wegzublasen suchte, längere Zeit atemraubend K. vor den
Augen wirbelte. ?Eine Heidelandschaft,? sagte der Maler und
reichte K. das Bild. Es stellte zwei schwache Bäume dar, die
weit von einander entfernt im dunklen Gras standen. Im
Hintergrund war ein vielfarbiger Sonnenuntergang. ?Schön,?
sagte K., ?ich kaufe es.? K. hatte unbedacht sich so kurz
geäußert, er war daher froh, als der Maler statt dies übel
zu nehmen, ein zweites Bild vom Boden aufhob. ?Hier ist ein
Gegenstück zu diesem Bild,? sagte der Maler. Es mochte als
Gegenstück beabsichtigt sein, es war aber nicht der
geringste Unterschied gegenüber dem ersten Bild zu merken,
hier waren die Bäume, hier das Gras und dort der
Sonnenuntergang. Aber K. lag wenig daran. ?Es sind schöne
Landschaften,? sagte er, ?ich kaufe beide und werde sie in
meinem Bureau aufhängen.? ?Das Motiv scheint Ihnen zu
gefallen,? sagte der Maler und holte ein drittes Bild
herauf, ?es trifft sich gut, daß ich noch ein ähnliches Bild
hier habe.? Es war aber nicht ähnlich, es war vielmehr die
völlig gleiche alte Heidelandschaft. Der Maler nützte diese
Gelegenheit alte Bilder zu verkaufen, gut aus. ?Ich nehme
auch dieses noch,? sagte K. ?Wieviel kosten die drei
Bilder?? ?Darüber werden wir nächstens sprechen,? sagte der
Maler, ?Sie haben jetzt Eile und wir bleiben doch in
Verbindung. Im übrigen freut es mich, daß Ihnen die Bilder
gefallen, ich werde Ihnen alle Bilder mitgeben, die ich hier
unten habe. Es sind lauter Heidelandschaften, ich habe schon
viele Heidelandschaften gemalt. Manche Leute weisen solche
Bilder ab, weil sie zu düster sind, andere aber, und Sie
gehören zu ihnen, lieben gerade das Düstere.? Aber K. hatte
jetzt keinen Sinn für die beruflichen Erfahrungen des
Bettelmalers. ?Packen Sie alle Bilder ein,? rief er, dem
Maler in die Rede fallend, ?morgen kommt mein Diener und
wird sie holen.? ?Es ist nicht nötig,? sagte der Maler. ?Ich
hoffe ich werde Ihnen einen Träger verschaffen können, der
gleich mit Ihnen gehn wird.? Und er beugte sich endlich über
das Bett und sperrte die Tür auf. ?Steigen Sie ohne Scheu
auf das Bett,? sagte der Maler, ?das tut jeder der hier
hereinkommt.? K. hätte auch ohne diese Aufforderung keine
Rücksicht genommen, er hatte sogar schon einen Fuß mitten
auf das Federbett gesetzt, da sah er durch die offene Tür
hinaus und zog den Fuß wieder zurück. ?Was ist das?? fragte
er den Maler. ?Worüber staunen Sie?? fragte dieser,
seinerseits staunend. ?Es sind die Gerichtskanzleien. Wußten
Sie nicht, daß hier Gerichtskanzleien sind?
Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dachboden, warum
sollten sie gerade hier fehlen? Auch mein Atelier gehört
eigentlich zu den Gerichtskanzleien, das Gericht hat es mir
aber zur Verfügung gestellt.? K. erschrak nicht so sehr
darüber, daß er auch hier Gerichtskanzleien gefunden hatte,
er erschrak hauptsächlich über sich, über seine Unwissenheit
in Gerichtssachen. Als eine Grundregel für das Verhalten
eines Angeklagten erschien es ihm, immer vorbereitet zu
sein, sich niemals überraschen zu lassen, nicht ahnungslos
nach rechts zu schauen, wenn links der Richter neben ihm
stand ? und gerade gegen diese Grundregel verstieß er immer
wieder. Vor ihm dehnte sich ein langer Gang, aus dem eine
Luft wehte, mit der verglichen die Luft im Atelier
erfrischend war. Bänke waren zu beiden Seiten des Ganges
aufgestellt, genau so wie im Wartezimmer der Kanzlei, die
für K. zuständig war. Es schienen genaue Vorschriften für
die Einrichtung von Kanzleien zu bestehn. Augenblicklich war
der Parteienverkehr hier nicht sehr groß. Ein Mann saß dort
halb liegend, das Gesicht hatte er auf der Bank in seine
Arme vergraben und schien zu schlafen; ein anderer stand im
Halbdunkel am Ende des Ganges. K. stieg nun über das Bett,
der Maler folgte ihm mit den Bildern. Sie trafen bald einen
Gerichtsdiener ? K. erkannte jetzt schon alle Gerichtsdiener
an dem Goldknopf, den diese an ihrem Civilanzug unter den
gewöhnlichen Knöpfen hatten ? und der Maler gab ihm den
Auftrag, K. mit den Bildern zu begleiten. K. wankte mehr als
er gieng, das Taschentuch hielt er an den Mund gedrückt. Sie
waren schon nahe dem Ausgang, da stürmten ihnen die Mädchen
entgegen, die also K. auch nicht erspart geblieben waren.
Sie hatten offenbar gesehn, daß die zweite Tür des Ateliers
geöffnet worden war und hatten den Umweg gemacht, um von
dieser Seite einzudringen. ?Ich kann Sie nicht mehr
begleiten,? rief der Maler lachend unter dem Andrang der
Mädchen. ?Auf Wiedersehn! Und überlegen Sie nicht zu lange!?
K. sah sich nicht einmal nach ihm um. Auf der Gasse nahm er
den ersten Wagen, der ihm in den Weg kam. Es lag ihm viel
daran, den Diener loszuwerden, dessen Goldknopf ihm
unaufhörlich in die Augen stach, wenn er auch sonst
wahrscheinlich niemandem auffiel. In seiner Dienstfertigkeit
wollte sich der Diener noch auf den Kutschbock setzen, K.
jagte ihn aber herunter. Mittag war schon längst vorüber,
als K. vor der Bank ankam. Er hätte gern die Bilder im Wagen
gelassen, fürchtete aber, bei irgendeiner Gelegenheit
genötigt zu werden, sich dem Maler gegenüber mit ihnen
auszuweisen. Er ließ sie daher in sein Bureau schaffen und
versperrte sie in die unterste Lade seines Tisches, um sie
wenigstens für die allernächsten Tage vor den Blicken des
Direktor-Stellvertreters in Sicherheit zu bringen.

Kaufmann Block / Kündigung des Advokaten

Endlich hatte sich K. doch entschlossen, dem Advokaten seine
Vertretung zu entziehn. Zweifel daran, ob es richtig war, so
zu handeln, waren zwar nicht auszurotten, aber die
Überzeugung von der Notwendigkeit dessen überwog. Die
Entschließung hatte K. an dem Tage an dem er zum Advokaten
gehen wollte, viel Arbeitskraft entzogen, er arbeitete
besonders langsam, er mußte sehr lange im Bureau bleiben und
es war schon zehn Uhr vorüber, als er endlich vor der Tür
des Advokaten stand. Noch ehe er läutete überlegte er, ob es
nicht besser wäre, dem Advokaten telephonisch oder brieflich
zu kündigen, die persönliche Unterredung würde gewiß sehr
peinlich werden. Trotzdem wollte K. schließlich auf sie
nicht verzichten, bei jeder andern Art der Kündigung würde
diese stillschweigend oder mit ein paar förmlichen Worten
angenommen werden und K. würde, wenn nicht etwa Leni einiges
erforschen könnte, niemals erfahren, wie der Advokat die
Kündigung aufgenommen hatte und was für Folgen für K. diese
Kündigung nach der nicht unwichtigen Meinung des Advokaten
haben könnte. Saß aber der Advokat K. gegenüber und wurde er
von der Kündigung überrascht, so würde K., selbst wenn der
Advokat sich nicht viel entlocken ließ, aus seinem Gesicht
und seinem Benehmen alles was er wollte, leicht entnehmen
können. Es war sogar nicht ausgeschlossen, daß er überzeugt
wurde, daß es doch gut wäre, dem Advokaten die Verteidigung
zu überlassen und daß er dann seine Kündigung zurückzog.

Das erste Läuten an der Tür des Advokaten war, wie
gewöhnlich, zwecklos. ?Leni könnte flinker sein,? dachte K.
Aber es war schon ein Vorteil, wenn sich nicht die andere
Partei einmischte, wie sie es gewöhnlich tat, sei es daß der
Mann im Schlafrock oder sonst jemand zu belästigen anfieng.
Während K. zum zweitenmal den Knopf drückte, sah er nach der
andern Tür zurück, diesmal aber blieb auch sie geschlossen.
Endlich erschienen an dem Guckfenster der Tür des Advokaten
zwei Augen, es waren aber nicht Leni?s Augen. Jemand schloß
die Tür auf, stemmte sich aber noch vorläufig gegen sie,
rief in die Wohnung zurück ?Er ist es,? und öffnete erst
dann vollständig. K. hatte gegen die Tür gedrängt, denn
schon hörte er wie hinter ihm in der Tür der andern Wohnung
der Schlüssel hastig im Schloß gedreht wurde. Als sich daher
die Tür vor ihm endlich öffnete, stürmte er geradezu ins
Vorzimmer und sah noch, wie durch den Gang, der zwischen den
Zimmern hindurchführte, Leni, welcher der Warnungsruf des
Türöffners gegolten hatte, im Hemd davonlief. Er blickte ihr
ein Weilchen nach und sah sich dann nach dem Türöffner um.
Es war ein kleiner dürrer Mann mit Vollbart, er hielt eine
Kerze in der Hand. ?Sie sind hier angestellt?? fragte K.
?Nein,? antwortete der Mann, ?ich bin hier fremd, der
Advokat ist nur mein Vertreter, ich bin hier wegen einer
Rechtsangelegenheit.? ?Ohne Rock?? fragte K. und zeigte mit
einer Handbewegung auf die mangelhafte Bekleidung des
Mannes. ?Ach verzeihen Sie,? sagte der Mann und beleuchtete
sich selbst mit der Kerze, als sähe er selbst zum ersten Mal
seinen Zustand. ?Leni ist Ihre Geliebte?? fragte K. kurz. Er
hatte die Beine ein wenig gespreizt, die Hände in denen er
den Hut hielt, hinten verschlungen. Schon durch den Besitz
eines starken Überrocks fühlte er sich dem magern Kleinen
sehr überlegen. ?Oh Gott,? sagte der und hob die eine Hand
in erschrockener Abwehr vor das Gesicht, ?nein, nein, was
denken Sie denn?? ?Sie sehn glaubwürdig aus,? sagte K.
lächelnd, ?trotzdem ? kommen Sie.? Er winkte ihm mit dem Hut
und ließ ihn vor sich gehn. ?Wie heißen Sie denn?? fragte K.
auf dem Weg. ?Block, Kaufmann Block,? sagte der Kleine und
drehte sich bei dieser Vorstellung nach K. um, stehen
bleiben ließ ihn aber K. nicht. ?Ist das Ihr wirklicher
Name?? fragte K. ?Gewiß,? war die Antwort, ?warum haben Sie
denn Zweifel?? ?Ich dachte Sie könnten Grund haben Ihren
Namen zu verschweigen,? sagte K. Er fühlte sich so frei, wie
man es sonst nur ist, wenn man in der Fremde mit niedrigen
Leuten spricht, alles was einen selbst betrifft, bei sich
behält, nur gleichmütig von den Interessen der andern redet,
sie dadurch vor sich selbst erhöht aber auch nach Belieben
fallen lassen kann. Bei der Tür des Arbeitszimmers des
Advokaten blieb K. stehn, öffnete sie und rief dem Kaufmann,
der folgsam weiter gegangen war, zu: ?Nicht so eilig!
Leuchten Sie hier.? K. dachte, Leni könnte sich hier
versteckt haben, er ließ den Kaufmann alle Winkel absuchen,
aber das Zimmer war leer. Vor dem Bild des Richters hielt K.
den Kaufmann hinten an den Hosenträgern zurück. ?Kennen Sie
den,? fragte er und zeigte mit dem Zeigefinger in die Höhe.
Der Kaufmann hob die Kerze, sah blinzelnd hinauf und sagte:
?Es ist ein Richter.? ?Ein hoher Richter?? fragte K. und
stellte sich seitlich vor den Kaufmann, um den Eindruck, den
das Bild auf ihn machte, zu beobachten. Der Kaufmann sah
bewundernd aufwärts. ?Es ist ein hoher Richter,? sagte er.
?Sie haben keinen großen Einblick,? sagte K. ?Unter den
niedrigen Untersuchungsrichtern ist er der niedrigste.? ?Nun
erinnere ich mich,? sagte der Kaufmann und senkte die Kerze,
?ich habe es auch schon gehört.? ?Aber natürlich,? rief K.,
?ich vergaß ja, natürlich müssen Sie es schon gehört haben.?
?Aber warum denn, warum denn?? fragte der Kaufmann, während
er sich von K. mit den Händen angetrieben zur Tür
fortbewegte. Draußen auf dem Gang sagte K.: ?Sie wissen
doch, wo sich Leni versteckt hat?? ?Versteckt?? sagte der
Kaufmann, ?nein, sie dürfte aber in der Küche sein und dem
Advokaten eine Suppe kochen.? ?Warum haben Sie das nicht
gleich gesagt?? fragte K. ?Ich wollte Sie ja hinführen, Sie
haben mich aber wieder zurückgerufen,? antwortete der
Kaufmann, wie verwirrt durch die widersprechenden Befehle.
?Sie glauben wohl sehr schlau zu sein,? sagte K., ?führen
Sie mich also!? In der Küche war K. noch nie gewesen, sie
war überraschend groß und reich ausgestattet. Allein der
Herd war dreimal so groß wie gewöhnliche Herde, von dem
übrigen sah man keine Einzelheiten, denn die Küche wurde
jetzt nur von einer kleinen Lampe beleuchtet, die beim
Eingang hieng. Am Herd stand Leni in weißer Schürze wie
immer und leerte Eier in einen Topf aus, der auf einem
Spiritusfeuer stand. ?Guten Abend Josef,? sagte sie mit
einem Seitenblick. ?Guten Abend,? sagte K. und zeigte mit
einer Hand auf einen abseits stehenden Sessel, auf den sich
der Kaufmann setzen sollte, was dieser auch tat. K. aber
gieng ganz nahe hinter Leni, beugte sich über ihre Schulter
und fragte: ?Wer ist der Mann?? Leni umfaßte K. mit einer
Hand, die andere quirlte die Suppe, zog ihn nach vorn zu
sich und sagte: ?Es ist ein bedauernswerter Mensch, ein
armer Kaufmann, ein gewisser Block. Sich ihn nur an.? Sie
blickten beide zurück. Der Kaufmann saß auf dem Sessel, auf
den ihn K. gewiesen hatte, er hatte die Kerze, deren Licht
jetzt unnötig war ausgepustet und drückte mit den Fingern
den Docht, um den Rauch zu verhindern. ?Du warst im Hemd,?
sagte K. und wendete ihren Kopf mit der Hand wieder dem Herd
zu. Sie schwieg. ?Er ist Dein Geliebter?? fragte K. Sie
wollte nach dem Suppentopf greifen, aber K. nahm ihre beiden
Hände und sagte: ?Nun antworte!? Sie sagte: ?Komm ins
Arbeitszimmer, ich werde Dir alles erklären.? ?Nein,? sagte
K., ?ich will daß Du es hier erklärst.? Sie hieng sich an
ihn und wollte ihn küssen, K. wehrte sie aber ab und sagte:
?Ich will nicht, daß Du mich jetzt küßt.? ?Josef,? sagte
Leni und sah K. bittend und doch offen in die Augen, ?Du
wirst doch nicht auf Herrn Block eifersüchtig sein.? ?Rudi,?
sagte sie dann sich an den Kaufmann wendend, ?so hilf mir
doch, Du siehst ich werde verdächtigt, laß die Kerze.? Man
hätte denken können, er hätte nicht achtgegeben, aber er war
vollständig eingeweiht. ?Ich wüßte auch nicht, warum Sie
eifersüchtig sein sollten,? sagte er wenig schlagfertig.
?Ich weiß es eigentlich auch nicht,? sagte K. und sah den
Kaufmann lächelnd an. Leni lachte laut, benützte die
Unaufmerksamkeit K.?s, um sich in seinen Arm einzuhängen und
flüsterte: ?Laß ihn jetzt, Du siehst ja was für ein Mensch
er ist. Ich habe mich seiner ein wenig angenommen, weil er
eine große Kundschaft des Advokaten ist, aus keinem andern
Grund. Und Du? Willst Du noch heute mit dem Advokaten
sprechen? Er ist heute sehr krank, aber wenn Du willst,
melde ich Dich doch an. Über Nacht bleibst Du aber bei mir,
ganz gewiß. Du warst auch schon solange nicht bei uns,
selbst der Advokat hat nach Dir gefragt. Vernachlässige den
Proceß nicht! Auch ich habe Dir verschiedenes mitzuteilen,
was ich erfahren habe. Nun aber zieh fürs erste Deinen
Mantel aus!? Sie half ihm ihn ausziehn, nahm ihm den Hut ab,
lief mit den Sachen ins Vorzimmer sie anzuhängen, lief dann
wieder zurück und sah nach der Suppe. ?Soll ich zuerst Dich
anmelden oder ihm zuerst die Suppe bringen?? ?Melde mich
zuerst an,? sagte K. Er war ärgerlich, er hatte ursprünglich
beabsichtigt, mit Leni seine Angelegenheit insbesondere die
fragliche Kündigung genau zu besprechen, die Anwesenheit des
Kaufmanns hatte ihm aber die Lust dazu genommen. Jetzt aber
hielt er seine Sache doch für zu wichtig, als daß dieser
kleine Kaufmann vielleicht entscheidend eingreifen sollte
und so rief er Leni, die schon auf dem Gang war, wieder
zurück. ?Bring ihm doch zuerst die Suppe,? sagte er, ?er
soll sich für die Unterredung mit mir stärken, er wird es
nötig haben.? ?Sie sind auch ein Klient des Advokaten,?
sagte wie zur Feststellung der Kaufmann leise aus seiner
Ecke. Es wurde aber nicht gut aufgenommen. ?Was kümmert Sie
denn das?? sagte K. und Leni sagte: ?Wirst Du still sein.?
?Dann bringe ich ihm also zuerst die Suppe,? sagte Leni zu
K. und goß die Suppe auf einen Teller. ?Es ist dann nur zu
befürchten, daß er bald einschläft, nach dem Essen schläft
er bald ein.? ?Das was ich ihm sagen werde, wird ihn
wacherhalten,? sagte K., er wollte immerfort durchblicken
lassen, daß er etwas Wichtiges mit dem Advokaten zu
verhandeln beabsichtige, er wollte von Leni gefragt werden,
was es sei, und dann erst sie um Rat fragen. Aber sie
erfüllte pünktlich bloß die ausgesprochenen Befehle. Als sie
mit der Tasse an ihm vorübergieng, stieß sie absichtlich
sanft an ihn und flüsterte: ?Bis er die Suppe gegessen hat,
melde ich Dich gleich an, damit ich Dich möglichst bald
wieder bekomme.? ?Geh nur,? sagte K., ?geh nur.? ?Sei doch
freundlicher,? sagte sie und drehte sich in der Tür mit der
Tasse nochmals ganz um.

K. sah ihr nach; nun war es endgiltig beschlossen, daß der
Advokat entlassen würde, es war wohl auch besser, daß er
vorher mit Leni nicht mehr darüber sprechen konnte; sie
hatte kaum den genügenden Überblick über das Ganze, hätte
gewiß abgeraten, hätte möglicherweise K. auch wirklich von
der Kündigung diesmal abgehalten, er wäre weiterhin in
Zweifel und Unruhe geblieben und schließlich hätte er nach
einiger Zeit seinen Entschluß doch ausgeführt, denn dieser
Entschluß war allzu zwingend. Je früher er aber ausgeführt
wurde, desto mehr Schaden wurde abgehalten. Vielleicht wußte
übrigens der Kaufmann etwas darüber zu sagen.

K. wandte sich um, kaum bemerkte das der Kaufmann als er
sofort aufstehen wollte. ?Bleiben Sie sitzen,? sagte K. und
zog einen Sessel neben ihn. ?Sind Sie schon ein alter Klient
des Advokaten?? fragte K. ?Ja,? sagte der Kaufmann, ?ein
sehr alter Klient.? ?Wie viel Jahre vertritt er Sie denn
schon?? fragte K. ?Ich weiß nicht, wie Sie es meinen,? sagte
der Kaufmann, ?in geschäftlichen Rechtsangelegenheiten ? ich
habe ein Getreidegeschäft ? vertritt mich der Advokat schon
seitdem ich das Geschäft übernommen habe, also etwa seit
zwanzig Jahren, in meinem eigenen Proceß, auf den Sie
wahrscheinlich anspielen, vertritt er mich auch seit Beginn,
es ist schon länger als fünf Jahre.? ?Ja, weit über fünf
Jahre,? fügte er dann hinzu und zog eine alte Brieftasche
hervor, ?hier habe ich alles aufgeschrieben, wenn Sie wollen
sage ich Ihnen die genauen Daten. Es ist schwer alles zu
behalten. Mein Proceß dauert wahrscheinlich schon viel
länger, er begann kurz nach dem Tod meiner Frau und das ist
schon länger als fünfeinhalb Jahre.? K. rückte näher zu ihm.
?Der Advokat übernimmt also auch gewöhnliche Rechtssachen??
fragte er. Diese Verbindung der Gerichte und
Rechtswissenschaften schien K. ungemein beruhigend. ?Gewiß,?
sagte der Kaufmann und flüsterte dann K. zu: ?Man sagt sogar
daß er in diesen Rechtssachen tüchtiger ist als in den
andern.? Aber dann schien er das Gesagte zu bereuen, er
legte K. eine Hand auf die Schulter und sagte: ?Ich bitte
Sie sehr, verraten Sie mich nicht.? K. klopfte ihm zur
Beruhigung auf den Schenkel und sagte: ?Nein, ich bin kein
Verräter.? ?Er ist nämlich rachsüchtig,? sagte der Kaufmann.
?Gegen einen so treuen Klienten wird er gewiß nichts tun,?
sagte K. ?Oh doch,? sagte der Kaufmann, ?wenn er aufgeregt
ist kennt er keine Unterschiede, übrigens bin ich ihm nicht
eigentlich treu.? ?Wieso denn nicht? fragte K. ?Soll ich es
Ihnen anvertrauen,? fragte der Kaufmann zweifelnd. ?Ich
denke, Sie dürfen es,? sagte K. ?Nun,? sagte der Kaufmann,
?ich werde es Ihnen zum Teil anvertrauen, Sie müssen mir
aber auch ein Geheimnis sagen, damit wir uns gegenüber dem
Advokaten gegenseitig festhalten.? ?Sie sind sehr
vorsichtig,? sagte K., ?aber ich werde Ihnen ein Geheimnis
sagen, das Sie vollständig beruhigen wird. Worin besteht
also Ihre Untreue gegenüber dem Advokaten?? ?Ich habe,?
sagte der Kaufmann zögernd und in einem Ton, als gestehe er
etwas Unehrenhaftes ein, ?ich habe außer ihm noch andere
Advokaten.? ?Das ist doch nichts so schlimmes,? sagte K. ein
wenig enttäuscht. ?Hier ja,? sagte der Kaufmann, der noch
seit seinem Geständnis schwer atmete, infolge K.?s Bemerkung
aber mehr Vertrauen faßte. ?Es ist nicht erlaubt. Und am
allerwenigsten ist es erlaubt, neben einem sogenannten
Advokaten auch noch Winkeladvokaten zu nehmen. Und gerade
das habe ich getan, ich habe außer ihm noch fünf
Winkeladvokaten.? ?Fünf.? rief K., erst die Zahl setzte ihn
in Erstaunen, ?fünf Advokaten außer diesem?? Der Kaufmann
nickte: ?Ich verhandle gerade noch mit einem sechsten.?
?Aber wozu brauchen Sie denn soviel Advokaten,? fragte K.
?Ich brauche alle,? sagte der Kaufmann. ?Wollen Sie mir das
nicht erklärend? fragte K. ?Gern,? sagte der Kaufmann. ?Vor
allem will ich doch meinen Proceß nicht verlieren, das ist
doch selbstverständlich. Infolgedessen darf ich nichts, was
mir nützen könnte, außer acht lassen; selbst wenn die
Hoffnung auf Nutzen in einem bestimmten Fall nur ganz gering
ist, darf ich sie auch nicht verwerfen. Ich habe deshalb
alles was ich besitze auf den Proceß verwendet. So habe ich
z. B. alles Geld meinem Geschäft entzogen, früher füllten
die Bureauräume meines Geschäftes fast ein Stockwerk, heute
genügt eine kleine Kammer im Hinterhaus, wo ich mit einem
Lehrjungen arbeite. Diesen Rückgang hat natürlich nicht nur
die Entziehung des Geldes verschuldet, sondern mehr noch die
Entziehung meiner Arbeitskraft. Wenn man für seinen Proceß
etwas tun will, kann man sich mit anderem nur wenig
befassen.? ?Sie arbeiten also auch selbst bei Gericht??
fragte K. ?Gerade darüber möchte ich gern etwas erfahren.?
?Darüber kann ich nur wenig berichten,? sagte der Kaufmann,
?anfangs habe ich es wohl auch versucht, aber ich habe bald
wieder davon abgelassen. Es ist zu erschöpfend und bringt
nicht viel Erfolg. Selbst dort zu arbeiten und zu
unterhandeln, hat sich wenigstens für mich als ganz
unmöglich erwiesen. Es ist ja dort schon das bloße Sitzen
und Warten eine große Anstrengung. Sie kennen ja selbst die
schwere Luft in den Kanzleien.? ?Wieso wissen Sie denn, daß
ich dort war?? fragte K. ?Ich war gerade im Wartezimmer, als
Sie durchgiengen.? ?Was für ein Zufall das ist!? rief K.
ganz hingenommen und ganz an die frühere Lächerlichkeit des
Kaufmanns vergessend, ?Sie haben mich also gesehn! Sie waren
im Wartezimmer, als ich durchgieng. Ja ich bin dort einmal
durchgegangen.? ?Es ist kein so großer Zufall,? sagte der
Kaufmann, ?ich bin dort fast jeden Tag.? ?Ich werde nun
wahrscheinlich auch öfters hingehn müssen,? sagte K., ?nur
werde ich wohl kaum mehr so ehrenvoll aufgenommen werden wie
damals. Alle standen auf. Man dachte wohl, ich sei ein
Richter.? ?Nein,? sagte der Kaufmann, ?wir grüßten damals
den Gerichtsdiener. Daß Sie ein Angeklagter sind, das wußten
wir. Solche Nachrichten verbreiten sich sehr rasch.? ?Das
wußten Sie also schon,? sagte K., ?dann erschien Ihnen aber
mein Benehmen vielleicht hochmütig. Sprach man sich nicht
darüber aus?? ?Nein,? sagte der Kaufmann, ?im Gegenteil.
Aber das sind Dummheiten.? ?Was für Dummheiten denn?? fragte
K. ?Warum fragen Sie danach? sagte der Kaufmann ärgerlich,
?Sie scheinen die Leute dort noch nicht zu kennen und werden
es vielleicht unrichtig auffassen. Sie müssen bedenken, daß
in diesem Verfahren immer wieder viele Dinge zur Sprache
kommen, für die der Verstand nicht mehr ausreicht, man ist
einfach zu müde und abgelenkt für vieles und zum Ersatz
verlegt man sich auf den Aberglauben. Ich rede von den
andern, bin aber selbst gar nicht besser. Ein solcher
Aberglaube ist es z. B. daß viele aus dem Gesicht des
Angeklagten, insbesondere aus der Zeichnung der Lippen den
Ausgang des Processes erkennen wollen. Diese Leute also
haben behauptet, Sie würden nach Ihren Lippen zu schließen,
gewiß und bald verurteilt werden. Ich wiederhole, es ist ein
lächerlicher Aberglaube und in den meisten Fällen durch die
Tatsachen auch vollständig widerlegt, aber wenn man in jener
Gesellschaft lebt, ist es schwer sich solchen Meinungen zu
entziehn. Denken Sie nur, wie stark dieser Aberglaube wirken
kann. Sie haben doch einen dort angesprochen, nicht Er
konnte Ihnen aber kaum antworten. Es gibt natürlich viele
Gründe um dort verwirrt zu sein, aber einer davon war auch
der Anblick Ihrer Lippen. Er hat später erzählt, er hätte
auf Ihren Lippen auch das Zeichen seiner eigenen
Verurteilung zu sehen geglaubt.? ?Meine Lippen? fragte K.,
zog einen Taschenspiegel hervor und sah sich an. ?Ich kann
an meinen Lippen nichts besonderes erkennen. Und Sie?? ?Ich
auch nicht,? sagte der Kaufmann, ?ganz und gar nicht.? ?Wie
abergläubisch diese Leute sind,? rief K. aus. ?Sagte ich es
nicht?? fragte der Kaufmann. ?Verkehren sie denn soviel
untereinander und tauschen sie ihre Meinungen aus?? sagte K.
?Ich habe mich bisher ganz abseits gehalten.? ?Im
allgemeinen verkehren sie nicht miteinander,? sagte der
Kaufmann, ?das wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es
gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in
einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse
auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam
läßt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall
wird für sich untersucht, es ist ja das sorgfältigste
Gericht. Gemeinsam kann man also nichts durchsetzen, nur ein
einzelner erreicht manchmal etwas im Geheimen; erst wenn es
erreicht ist, erfahren es die andern; keiner weiß wie es
geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt
zwar hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber dort wird
wenig besprochen. Die abergläubischen Meinungen bestehen
schon seit altersher und vermehren sich förmlich von
selbst.? ?Ich sah die Herren dort im Wartezimmer,? sagte K.,
?ihr Warten kam mir so nutzlos vor.? ?Das Warten ist nicht
nutzlos,? sagte der Kaufmann, ?nutzlos ist nur das
selbstständige Eingreifen. Ich sagte schon, daß ich jetzt
außer diesem noch fünf Advokaten habe. Man sollte doch
glauben ? ich selbst glaubte es zuerst ? jetzt könnte ich
ihnen die Sache vollständig überlassen. Das wäre aber ganz
falsch. Ich kann sie ihnen weniger überlassen, als wenn ich
nur einen hätte. Sie verstehn das wohl nicht? ?Nein,? sagte
K. und legte, um den Kaufmann an seinem allzu schnellen
Reden zu hindern, die Hand beruhigend auf seine Hand, ?ich
möchte Sie nur bitten, ein wenig langsamer zu reden, es sind
doch lauter für mich sehr wichtige Dinge und ich kann Ihnen
nicht recht folgen.? ?Gut daß Sie mich daran erinnern,?
sagte der Kaufmann, ?Sie sind ja ein Neuer, ein Junger. Ihr
Proceß ist ein halbes Jahr alt, nicht wahr? Ja ich habe
davon gehört. Ein so junger Proceß! Ich aber habe diese
Dinge schon unzähligemal durchgedacht, sie sind mir das
Selbstverständlichste auf der Welt.? ?Sie sind wohl froh,
daß Ihr Proceß schon so weit fortgeschritten ist? fragte K.,
er wollte nicht geradezu fragen, wie die Angelegenheiten des
Kaufmanns stünden. Er bekam aber auch keine deutliche
Antwort. ?Ja, ich habe meinen Proceß fünf Jahre lang
fortgewälzt,? sagte der Kaufmann und senkte den Kopf, ?es
ist keine kleine Leistung.? Dann schwieg er ein Weilchen. K.
horchte, ob Leni nicht schon komme. Einerseits wollte er
nicht daß sie komme, denn er hatte noch vieles zu fragen und
wollte auch nicht von Leni in diesem vertraulichen Gespräch
mit dem Kaufmann angetroffen werden, andererseits aber
ärgerte er sich darüber, daß sie trotz seiner Anwesenheit
solange beim Advokaten blieb, viel länger als zum Reichen
der Suppe nötig war. ?Ich erinnere mich noch genau an die
Zeit,? begann der Kaufmann wieder und K. war gleich voll
Aufmerksamkeit, ?als mein Proceß etwa so alt war wie jetzt
Ihr Proceß. Ich hatte damals nur diesen Advokaten, war aber
nicht sehr mit ihm zufrieden.? ?Hier erfahre ich ja alles,?
dachte K. und nickte lebhaft mit dem Kopf als könne er
dadurch den Kaufmann aufmuntern, alles Wissenswerte zu
sagen. ?Mein Proceß,? fuhr der Kaufmann fort, ?kam nicht
vorwärts, es fanden zwar Untersuchungen statt, ich kam auch
zu jeder, sammelte Material, erlegte alle meine
Geschäftsbücher bei Gericht, was wie ich später erfuhr nicht
einmal nötig war, ich lief immer wieder zum Advokaten, er
brachte auch verschiedene Eingaben ein ?? ?Verschiedene
Eingaben?? fragte K. ?Ja, gewiß,? sagte der Kaufmann. ?Das
ist mir sehr wichtig,? sagte K., ?in meinem Fall arbeitet er
noch immer an der ersten Eingabe. Er hat noch nichts getan.
Ich sehe jetzt, er vernachlässigt mich schändlich.? ?Daß die
Eingabe noch nicht fertig ist, kann verschiedene berechtigte
Gründe haben,? sagte der Kaufmann. ?Übrigens hat es sich bei
meinen Eingaben später gezeigt, daß sie ganz wertlos waren.
Ich habe sogar eine durch das Entgegenkommen eines
Gerichtsbeamten selbst gelesen. Sie war zwar gelehrt, aber
eigentlich inhaltslos. Vor allem sehr viel Latein, das ich
nicht verstehe, dann seitenlange allgemeine Anrufungen des
Gerichtes, dann Schmeicheleien für einzelne bestimmte
Beamte, die zwar nicht genannt waren, die aber ein
Eingeweihter jedenfalls erraten mußte, dann Selbstlob des
Advokaten, wobei er sich auf geradezu hündische Weise vor
dem Gericht demütigte, und endlich Untersuchungen von
Rechtsfällen aus alter Zeit, die ähnlich dem meinigen sein
sollten. Diese Untersuchungen waren allerdings, soweit ich
ihnen folgen konnte, sehr sorgfältig gemacht. Ich will auch
mit diesem allen kein Urteil über die Arbeit des Advokaten
abgeben, auch war die Eingabe, die ich gelesen habe, nur
eine unter mehreren, jedenfalls aber, und davon will ich
jetzt sprechen, konnte ich damals in meinem Proceß keinen
Fortschritt sehn.? ?Was für einen Fortschritt wollten Sie
denn sehn?? fragte K. ?Sie fragen ganz vernünftig,? sagte
der Kaufmann lächelnd, ?man kann in diesem Verfahren nur
selten Fortschritte sehn. Aber damals wußte ich das nicht.
Ich bin Kaufmann und war es damals noch viel mehr als heute,
ich wollte greifbare Fortschritte haben, das Ganze sollte
sich zum Ende neigen oder wenigstens den regelrechten
Aufstieg nehmen. Statt dessen gab es nur Einvernahmen, die
meist den gleichen Inhalt hatten; die Antworten hatte ich
schon bereit wie eine Litanei; mehrmals in der Woche kamen
Gerichtsboten in mein Geschäft, in meine Wohnung oder wo sie
mich sonst antreffen konnten, das war natürlich störend
(heute ist es wenigstens in dieser Hinsicht viel besser, der
telephonische Anruf stört viel weniger), auch unter meinen
Geschäftsfreunden insbesondere aber unter meinen Verwandten
fingen Gerüchte von meinem Proceß sich zu verbreiten an,
Schädigungen gab es also von allen Seiten, aber nicht das
geringste Anzeichen sprach dafür, daß auch nur die erste
Gerichtsverhandlung in der nächsten Zeit stattfinden würde.
Ich ging also zum Advokaten und beklagte mich. Er gab mir
zwar lange Erklärungen, lehnte es aber entschieden ab, etwas
in meinem Sinne zu tun, niemand habe Einfluß auf die
Festsetzung der Verhandlung, in einer Eingabe darauf zu
dringen ? wie ich es verlangte ? sei einfach unerhört und
würde mich und ihn verderben. Ich dachte: Was dieser Advokat
nicht will oder kann, wird ein anderer wollen und können.
Ich sah mich also nach andern Advokaten um. Ich will es
gleich vorwegnehmen: Keiner hat die Festsetzung der
Hauptverhandlung verlangt oder durchgesetzt, es ist,
allerdings mit einem Vorbehalt, von dem ich noch sprechen
werde, wirklich unmöglich, hinsichtlich dieses Punktes hat
mich also dieser Advokat nicht getäuscht; im übrigen aber
hatte ich es nicht zu bedauern, mich noch an andere
Advokaten gewendet zu haben. Sie dürften wohl von Dr. Huld
auch schon manches über die Winkeladvokaten gehört haben, er
hat sie Ihnen wahrscheinlich als sehr verächtlich
dargestellt und das sind sie wirklich. Allerdings unterläuft
ihm immer, wenn er von ihnen spricht und sich und seine
Kollegen zu ihnen in Vergleich setzt, ein kleiner Fehler,
auf den ich Sie ganz nebenbei auch aufmerksam machen will.
Er nennt dann immer die Advokaten seines Kreises zur
Unterscheidung die ?großen Advokaten?. Das ist falsch, es
kann sich natürlich jeder ?groß? nennen, wenn es ihm
beliebt, in diesem Fall aber entscheidet doch nur der
Gerichtsgebrauch. Nach diesem gibt es nämlich außer den
Winkeladvokaten noch kleine und große Advokaten. Dieser
Advokat und seine Kollegen sind jedoch nur die kleinen
Advokaten, die großen Advokaten aber, von denen ich nur
gehört und die ich nie gesehn habe, stehen im Rang
unvergleichlich höher über den kleinen Advokaten, als diese
über den verachteten Winkeladvokaten.? ?Die großen
Advokaten?? fragte K. ?Wer sind denn die? Wie kommt man zu
ihnen?? ?Sie haben also noch nie von ihnen gehört,? sagte
der Kaufmann. ?Es gibt kaum einen Angeklagten, der nicht
nachdem er von ihnen erfahren hat eine Zeitlang von ihnen
träumen würde. Lassen Sie sich lieber nicht dazu verführen.
Wer die großen Advokaten sind weiß ich nicht und zu ihnen
kommen, kann man wohl gar nicht. Ich kenne keinen Fall, von
dem sich mit Bestimmtheit sagen ließe, daß sie eingegriffen
hätten. Manchen verteidigen sie, aber durch eigenen Willen
kann man das nicht erreichen, sie verteidigen nur den, den
sie verteidigen wollen. Die Sache deren sie sich annehmen
muß aber wohl über das niedrige Gericht schon hinausgekommen
sein. Im übrigen ist es besser nicht an sie zu denken, denn
sonst kommen einem die Besprechungen mit den andern
Advokaten, deren Ratschläge und deren Hilfeleistungen so
widerlich und nutzlos vor, ich habe es selbst erfahren, daß
man am liebsten alles wegwerfen, sich zuhause ins Bett legen
und von nichts mehr hören wollte. Das wäre aber natürlich
wieder das Dümmste, auch hätte man im Bett nicht lange
Ruhe.? ?Sie dachten damals also nicht an die großen
Advokaten?? fragte K. ?Nicht lange,? sagte der Kaufmann und
lächelte wieder, ?vollständig vergessen kann man leider an
sie nicht, besonders die Nacht ist solchen Gedanken günstig.
Aber damals wollte ich ja sofortige Erfolge, ich gieng daher
zu den Winkeladvokaten.?

?Wie Ihr hier beieinander sitzt,? rief Leni, die mit der
Tasse zurückgekommen war und in der Tür stehen blieb. Sie
saßen wirklich eng beisammen, bei der kleinsten Wendung
mußten sie mit den Köpfen aneinanderstoßen, der Kaufmann,
der abgesehen von seiner Kleinheit auch noch den Rücken
gekrümmt hielt, hatte K. gezwungen, sich auch tief zu
bücken, wenn er alles hören wollte. ?Noch ein Weilchen,?
rief K. Leni abwehrend zu und zuckte ungeduldig mit der
Hand, die er noch immer auf des Kaufmanns Hand liegen hatte.
?Er wollte, daß ich ihm von meinem Proceß erzähle,? sagte
der Kaufmann zu Leni. ?Erzähle nur, erzähle,? sagte diese.
Sie sprach mit dem Kaufmann liebevoll, aber doch auch
herablassend, K. gefiel das nicht; wie er jetzt erkannt
hatte, hatte der Mann doch einen gewissen Wert, zumindest
hatte er Erfahrungen, die er gut mitzuteilen verstand. Leni
beurteilte ihn wahrscheinlich unrichtig. Er sah ärgerlich
zu, als Leni jetzt dem Kaufmann die Kerze, die er die ganze
Zeit über festgehalten hatte, abnahm, ihm die Hand mit ihrer
Schürze abwischte und dann neben ihm niederkniete, um etwas
Wachs wegzukratzen, das von der Kerze auf seine Hose
getropft war. ?Sie wollten mir von den Winkeladvokaten
erzählen,? sagte K. und schob ohne eine weitere Bemerkung
Leni?s Hand weg. ?Was willst Du denn?? fragte Leni, schlug
leicht nach K. und setzte ihre Arbeit fort. ?Ja, von den
Winkeladvokaten,? sagte der Kaufmann und fuhr sich über die
Stirn, als denke er nach. K. wollte ihm nachhelfen und
sagte: ?Sie wollten sofortige Erfolge haben und giengen
deshalb zu den Winkeladvokaten.? ?Ganz richtig,? sagte der
Kaufmann, setzte aber nicht fort. ?Er will vielleicht vor
Leni nicht davon sprechen,? dachte K., bezwang seine
Ungeduld das Weitere gleich jetzt zu hören und drang nun
nicht mehr weiter in ihn.

?Hast Du mich angemeldet?? fragte er Leni. ?Natürlich,?
sagte diese, ?er wartet auf Dich. Laß jetzt Block, mit Block
kannst Du auch später reden, er bleibt doch hier.? K.
zögerte noch. ?Sie bleiben hier?? fragte er den Kaufmann, er
wollte dessen eigene Antwort, er wollte nicht, daß Leni vom
Kaufmann wie von einem Abwesenden spreche, er war heute
gegen Leni voll geheimen Ärgers. Und wieder antwortete nur
Leni: ?Er schläft hier öfters.? ?Schläft hier?? rief K., er
hatte gedacht, der Kaufmann werde hier nur auf ihn warten,
während er die Unterredung mit dem Advokaten rasch erledigen
würde, dann aber würden sie gemeinsam fortgehn und alles
gründlich und ungestört besprechen. ?Ja,? sagte Leni, ?nicht
jeder wird wie Du, Josef, zu beliebiger Stunde beim
Advokaten vorgelassen. Du scheinst Dich ja gar nicht darüber
zu wundern, daß Dich der Advokat trotz seiner Krankheit noch
um elf Uhr nachts empfängt. Du nimmst das, was Deine Freunde
für Dich tun, doch als gar zu selbstverständlich an. Nun
Deine Freunde oder zumindest ich tun es gerne. Ich will
keinen andern Dank und brauche auch keinen andern, als daß
Du mich lieb hast.? ?Dich lieb haben?? dachte K. im ersten
Augenblick, erst dann gieng es ihm durch den Kopf: ?Nun ja,
ich habe sie lieb.? Trotzdem sagte er, alles andere
vernachlässigend: ?Er empfängt mich, weil ich sein Klient
bin. Wenn auch dafür noch fremde Hilfe nötig wäre, müßte man
bei jedem Schritt immer gleichzeitig betteln und danken.?
?Wie schlimm er heute ist, nicht?? fragte Leni den Kaufmann.
?Jetzt bin ich der Abwesende,? dachte K. und wurde fast
sogar auf den Kaufmann böse, als dieser die Unhöflichkeit
Leni?s übernehmend sagte: ?Der Advokat empfängt ihn auch
noch aus andern Gründen. Sein Fall ist nämlich interessanter
als der meine. Außerdem aber ist sein Proceß in den
Anfängen, also wahrscheinlich noch nicht sehr verfahren, da
beschäftigt sich der Advokat noch gern mit ihm. Später wird
das anders werden.? ?Ja, ja,? sagte Leni und sah den
Kaufmann lachend an, ?wie er schwatzt! Ihm darfst Du
nämlich,? hiebei wandte sie sich an K., ?gar nichts glauben.
So lieb er ist, so geschwätzig ist er. Vielleicht mag ihn
der Advokat auch deshalb nicht leiden. Jedenfalls empfängt
er ihn nur, wenn er in Laune ist. Ich habe mir schon viel
Mühe gegeben, das zu ändern, aber es ist unmöglich. Denke
nur, manchmal melde ich Block an, er empfängt ihn aber erst
am dritten Tag nachher. Ist Block aber zu der Zeit wenn er
vorgerufen wird, nicht zur Stelle, so ist alles verloren und
er muß von neuem angemeldet werden. Deshalb habe ich Block
erlaubt hier zu schlafen, es ist ja schon vorgekommen, daß
er in der Nacht um ihn geläutet hat. Jetzt ist also Block
auch in der Nacht bereit. Allerdings geschieht es jetzt
wieder, daß der Advokat, wenn sich zeigt, daß Block da ist,
seinen Auftrag ihn vorzulassen, manchmal widerruft.? K. sah
fragend zum Kaufmann hin. Dieser nickte und sagte so offen
wie er früher mit K. gesprochen hatte, vielleicht war er
zerstreut vor Beschämung: ?Ja, man wird später sehr abhängig
von seinem Advokaten.? ?Er klagt ja nur zum Schein,? sagte
Leni. ?Er schläft ja hier sehr gern, wie er mir schon oft
gestanden hat.? Sie gieng zu einer kleinen Tür und stieß sie
auf. ?Willst Du sein Schlafzimmer sehn?? fragte sie. K.
gieng hin und sah von der Schwelle aus in den niedrigen
fensterlosen Raum, der von einem schmalen Bett vollständig
ausgefüllt war. In dieses Bett mußte man über den
Bettpfosten steigen. Am Kopfende des Bettes war eine
Vertiefung in der Mauer, dort standen peinlich geordnet eine
Kerze, Tintenfaß und Feder, sowie ein Bündel Papiere,
wahrscheinlich Proceßschriften. ?Sie schlafen im
Dienstmädchenzimmer?? fragte K. und wendete sich zum
Kaufmann zurück. ?Leni hat es mir eingeräumt,? antwortete
der Kaufmann, ?es ist sehr vorteilhaft.? K. sah ihn lange
an; der erste Eindruck, den er von dem Kaufmann erhalten
hatte, war vielleicht doch der richtige gewesen; Erfahrungen
hatte er, denn sein Proceß dauerte schon lange, aber er
hatte diese Erfahrungen teuer bezahlt. Plötzlich ertrug K.
den Anblick des Kaufmanns nicht mehr. ?Bring ihn doch ins
Bett,? rief er Leni zu, die ihn gar nicht zu verstehen
schien. Er selbst aber wollte zum Advokaten gehn und durch
die Kündigung sich nicht nur vom Advokaten sondern auch von
Leni und dem Kaufmann befrein. Aber noch ehe er zur Tür
gekommen war, sprach ihn der Kaufmann mit leiser Stimme an:
?Herr Prokurist.? K. wandte sich mit bösem Gesichte um. ?Sie
haben an Ihr Versprechen vergessen,? sagte der Kaufmann und
streckte sich von seinem Sitz aus bittend K. entgegen, ?Sie
wollten mir noch ein Geheimnis sagen.? ?Wahrhaftig,? sagte
K. und streifte auch Leni, die ihn aufmerksam ansah, mit
einem Blick, ?also hören Sie: es ist allerdings fast kein
Geheimnis mehr. Ich gehe jetzt zum Advokaten um ihn zu
entlassen.? ?Er entläßt ihn,? rief der Kaufmann, sprang vom
Sessel und lief mit erhobenen Armen in der Küche umher.
Immer wieder rief er: ?Er entläßt den Advokaten.? Leni
wollte gleich auf K. losfahren, aber der Kaufmann kam ihr in
den Weg, wofür sie ihm mit den Fäusten einen Hieb gab. Noch
mit den zu Fäusten geballten Händen lief sie dann hinter K.,
der aber einen großen Vorsprung hatte. Er war schon in das
Zimmer des Advokaten eingetreten als ihn Leni einholte. Die
Tür hatte er hinter sich fast geschlossen, aber Leni, die
mit dem Fuß den Türflügel offenhielt, faßte ihn beim Arm und
wollte ihn zurückziehen. Aber er drückte ihr Handgelenk so
stark, daß sie unter einem Seufzer ihn loslassen mußte. Ins
Zimmer einzutreten wagte sie nicht gleich, K. aber
versperrte die Tür mit dem Schlüssel.

?Ich warte schon sehr lange auf Sie,? sagte der Advokat vom
Bett aus, legte ein Schriftstück, das er beim Licht einer
Kerze gelesen hatte, auf das Nachttischchen, und setzte sich
eine Brille auf, mit der er K. scharf ansah. Statt sich zu
entschuldigen, sagte K.: ?Ich gehe bald wieder weg.? Der
Advokat hatte K.?s Bemerkung, weil sie keine Entschuldigung
war, unbeachtet gelassen und sagte: ?Ich werde Sie nächstens
zu dieser späten Stunde nicht mehr vorlassen.? ?Das kommt
meinem Anliegen entgegen,? sagte K. Der Advokat sah ihn
fragend an. ?Setzen Sie sich,? sagte er. ?Weil Sie es
wünschen,? sagte K., zog einen Sessel zum Nachttischchen und
setzte sich. ?Es schien mir, daß Sie die Tür abgesperrt
haben,? sagte der Advokat. ?Ja,? sagte K., ?es war Leni?s
wegen.? Er hatte nicht die Absicht irgendjemanden zu
schonen. Aber der Advokat fragte: ?War sie wieder
zudringlich?? ?Zudringlich?? fragte K. ?Ja,? sagte der
Advokat, er lachte dabei, bekam einen Hustenanfall und
begann nachdem dieser vergangen war, wieder zu lachen.? Sie
haben doch wohl ihre Zudringlichkeit schon bemerkt?? fragte
er und klopfte K. auf die Hand, die dieser zerstreut auf das
Nachttischchen gestützt hatte und die er jetzt rasch
zurückzog. ?Sie legen dem nicht viel Bedeutung bei,? sagte
der Advokat, als K. schwieg, ?desto besser. Sonst hätte ich
mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen müssen. Es ist eine
Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr übrigens längst verziehen
habe und von der ich auch nicht reden würde, wenn Sie nicht
eben jetzt die Tür abgesperrt hätten. Diese Sonderbarkeit,
Ihnen allerdings müßte ich sie wohl am wenigsten erklären,
aber Sie sehen mich so bestürzt an und deshalb tue ich es,
diese Sonderbarkeit besteht darin, daß Leni die meisten
Angeklagten schön findet. Sie hängt sich an alle, liebt
alle, scheint allerdings auch von allen geliebt zu werden;
um mich zu unterhalten, erzählt sie mir dann, wenn ich es
erlaube, manchmal davon. Ich bin über das Ganze nicht so
erstaunt wie Sie es zu sein scheinen. Wenn man den richtigen
Blick dafür hat, findet man die Angeklagten wirklich oft
schön. Das allerdings ist eine merkwürdige gewissermaßen
naturwissenschaftliche Erscheinung. Es tritt natürlich als
Folge der Anklage nicht etwa eine deutliche, genau zu
bestimmende Veränderung des Aussehns ein. Es ist doch nicht
wie in andern Gerichtssachen, die meisten bleiben in ihrer
gewöhnlichen Lebensweise und werden, wenn sie einen guten
Advokaten haben, der für sie sorgt, durch den Proceß nicht
sehr behindert. Trotzdem sind diejenigen, welche darin
Erfahrung haben, imstande aus der größten Menge die
Angeklagten Mann für Mann zu erkennen. Woran? werden Sie
fragen. Meine Antwort wird Sie nicht befriedigen. Die
Angeklagten sind eben die Schönsten. Es kann nicht die
Schuld sein, die sie schön macht, denn ? so muß wenigstens
ich als Advokat sprechen ? es sind doch nicht alle schuldig,
es kann auch nicht die künftige Strafe sein, die sie jetzt
schon schön macht, denn es werden doch nicht alle bestraft,
es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren
liegen, das ihnen irgendwie anhaftet. Allerdings gibt es
unter den Schönen auch besonders schöne. Schön sind aber
alle, selbst Block, dieser elende Wurm.?

K. war, als der Advokat geendet hatte, vollständig gefaßt,
er hatte sogar zu den letzten Worten auffallend genickt und
sich so selbst die Bestätigung seiner alten Ansicht gegeben,
nach welcher der Advokat ihn immer und so auch diesmal durch
allgemeine Mitteilungen, die nicht zur Sache gehörten, zu
zerstreuen und von der Hauptfrage, was er an tatsächlicher
Arbeit für K.?s Sache getan hatte, abzulenken suchte. Der
Advokat merkte wohl, daß ihm K. diesmal mehr Widerstand
leistete als sonst, denn er verstummte jetzt, um K. die
Möglichkeit zu geben, selbst zu sprechen, und fragte dann,
da K. stumm blieb: ?Sind Sie heute mit einer bestimmten
Absicht zu mir gekommen?? ?Ja,? sagte K. und blendete mit
der Hand ein wenig die Kerze ab, um den Advokaten besser zu
sehn, ?ich wollte Ihnen sagen, daß ich Ihnen mit dem
heutigen Tage meine Vertretung entziehe.? ?Verstehe ich Sie
recht,? fragte der Advokat, erhob sich halb im Bett und
stützte sich mit einer Hand auf die Kissen. ?Ich nehme es
an,? sagte K., der straff aufgerichtet wie auf der Lauer
dasaß. ?Nun wir können ja auch diesen Plan besprechen,?
sagte der Advokat nach einem Weilchen. ?Es ist kein Plan
mehr,? sagte K. ?Mag sein,? sagte der Advokat, ?wir wollen
aber trotzdem nichts übereilen.? Er gebrauchte das Wort
?wir?, als habe er nicht die Absicht K. freizulassen und als
wolle er, wenn er schon nicht sein Vertreter sein dürfe,
wenigstens sein Berater bleiben. ?Es ist nichts übereilt,?
sagte K., stand langsam auf und trat hinter seinen Sessel,
?es ist gut überlegt und vielleicht sogar zu lange. Der
Entschluß ist endgiltig.? ?Dann erlauben Sie mir nur noch
einige Worte,? sagte der Advokat, hob das Federbett weg und
setzte sich auf den Bettrand. Seine nackten weißhaarigen
Beine zitterten vor Kälte. Er bat K. ihm vom Kanapee eine
Decke zu reichen. K. holte die Decke und sagte: ?Sie setzen
sich ganz unnötig einer Verkühlung aus.? ?Der Anlaß ist
wichtig genug,? sagte der Advokat, während er mit dem
Federbett den Oberkörper umhüllte und dann die Beine in die
Decke einwickelte. ?Ihr Onkel ist mein Freund und auch Sie
sind mir im Laufe der Zeit lieb geworden. Ich gestehe das
offen ein. Ich brauche mich dessen nicht zu schämen.? Diese
rührseligen Reden des alten Mannes waren K. sehr
unwillkommen, denn sie zwangen ihn zu einer ausführlicheren
Erklärung, die er gern vermieden hätte, und sie beirrten ihn
außerdem, wie er sich offen eingestand, wenn sie allerdings
auch seinen Entschluß niemals rückgängig machen konnten.
?Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Gesinnung,? sagte er,
?ich erkenne auch an, daß Sie sich meiner Sache so sehr
angenommen haben, wie es Ihnen möglich ist und wie es Ihnen
für mich vorteilhaft scheint. Ich jedoch habe in der letzten
Zeit die Überzeugung gewonnen, daß das nicht genügend ist.
Ich werde natürlich niemals versuchen, Sie, einen so viel
ältern und erfahreneren Mann von meiner Ansicht überzeugen
zu wollen; wenn ich es manchmal unwillkürlich versucht habe
so verzeihen Sie mir, die Sache aber ist, wie Sie sich
selbst ausdrückten, wichtig genug, und es ist meiner
Überzeugung nach notwendig viel kräftiger in den Proceß
einzugreifen, als es bisher geschehen ist.? ?Ich verstehe
Sie,? sagte der Advokat, ?Sie sind ungeduldig.? ?Ich bin
nicht ungeduldig,? sagte K. ein wenig gereizt und achtete
nicht mehr so viel auf seine Worte. ?Sie dürften bei meinem
ersten Besuch, als ich mit meinem Onkel zu Ihnen kam,
bemerkt haben, daß mir an dem Proceß nicht viel lag; wenn
man mich nicht gewissermaßen gewaltsam an ihn erinnerte,
vergaß ich vollständig an ihn. Aber mein Onkel bestand
darauf, daß ich Ihnen meine Vertretung übergebe, ich tat es,
um ihm gefällig zu sein. Und nun hätte man doch erwarten
sollen, daß mir der Proceß noch leichter fallen würde als
bis dahin, denn man übergibt doch dem Advokaten die
Vertretung, um die Last des Processes ein wenig von sich
abzuwälzen. Es geschah aber das Gegenteil. Niemals früher,
hatte ich so große Sorgen wegen des Processes, wie seit der
Zeit, seitdem Sie mich vertreten. Als ich allein war
unternahm ich nichts in meiner Sache, aber ich fühlte es
kaum, jetzt dagegen hatte ich einen Vertreter, alles war
dafür eingerichtet, daß etwas geschehe, unaufhörlich und
immer gespannter erwartete ich Ihr Eingreifen, aber es blieb
aus. Ich bekam von Ihnen allerdings verschiedene
Mitteilungen über das Gericht, die ich vielleicht von
niemandem sonst hätte bekommen können. Aber das kann mir
nicht genügen, wenn mir jetzt der Proceß, förmlich im
Geheimen, immer näher an den Leib rückt.? K. hatte den
Sessel von sich gestoßen und stand, die Hände in den
Rocktaschen aufrecht da. ?Von einem gewissen Zeitpunkt der
Praxis an,? sagte der Advokat leise und ruhig, ?ereignet
sich nichts wesentlich Neues mehr. Wie viele Parteien sind
in ähnlichen Stadien der Processe ähnlich wie Sie vor mir
gestanden und haben ähnlich gesprochen.? ?Dann haben,? sagte
K., ?alle diese ähnlichen Parteien ebenso recht gehabt wie
ich. Das widerlegt mich gar nicht.? ?Ich wollte Sie damit
nicht widerlegen,? sagte der Advokat, ?ich wollte aber noch
hinzufügen, daß ich bei Ihnen mehr Urteilskraft erwartet
hätte als bei andern, besonders da ich Ihnen mehr Einblick
in das Gerichtswesen und in meine Tätigkeit gegeben habe,
als ich es sonst Parteien gegenüber tue. Und nun muß ich
sehn, daß Sie trotz allem nicht genügend Vertrauen zu mir
haben. Sie machen es mir nicht leicht.? Wie sich der Advokat
vor K. demütigte! Ohne jede Rücksicht auf die Standesehre,
die gewiß gerade in diesem Punkte am empfindlichsten ist.
Und warum tat er das? Er war doch dem Anschein nach ein
vielbeschäftigter Advokat und überdies ein reicher Mann, es
konnte ihm an und für sich weder an dem Verdienstentgang
noch an dem Verlust eines Klienten viel liegen. Außerdem war
er kränklich und hätte selbst darauf bedacht sein sollen,
daß ihm Arbeit abgenommen werde. Und trotzdem hielt er K. so
fest. Warum? War es persönliche Anteilnahme für den Onkel
oder sah er K.?s Proceß wirklich für so außerordentlich an
und hoffte sich darin auszuzeichnen entweder für K. oder ?
diese Möglichkeit war eben niemals auszuschließen ? für die
Freunde beim Gericht? An ihm selbst war nichts zu erkennen,
so rücksichtslos prüfend ihn auch K. ansah. Man hätte fast
annehmen können, er warte mit absichtlich verschlossener
Miene die Wirkung seiner Worte ab. Aber er deutete offenbar
das Schweigen K.?s für sich allzu günstig, wenn er jetzt
fortfuhr: ?Sie werden bemerkt haben, daß ich zwar eine große
Kanzlei habe aber keine Hilfskräfte beschäftige. Das war
früher anders, es gab eine Zeit wo einige junge Juristen für
mich arbeiteten, heute arbeite ich allein. Es hängt dies zum
Teil mit der Änderung meiner Praxis zusammen, indem ich mich
immer mehr auf Rechtssachen von der Art der Ihrigen
beschränkte, zum Teil mit der immer tiefern Erkenntnis, die
ich von diesen Rechtssachen erhielt. Ich fand, daß ich diese
Arbeit niemandem überlassen dürfe, wenn ich mich nicht an
meinen Klienten und an der Aufgabe, die ich übernommen
hatte, versündigen wollte. Der Entschluß aber alle Arbeit
selbst zu leisten hatte die natürlichen Folgen: ich mußte
fast alle Ansuchen um Vertretungen abweisen und konnte nur
denen nachgeben, die mir besonders nahegiengen ? nun es gibt
ja genug Kreaturen und sogar ganz in der Nähe, die sich auf
jeden Brocken stürzen, den ich wegwerfe. Und außerdem wurde
ich vor Überanstrengung krank. Aber trotzdem bereue ich
meinen Entschluß nicht, es ist möglich, daß ich mehr
Vertretungen hätte abweisen sollen, als ich getan habe, daß
ich aber den übernommenen Processen mich ganz hingegeben
habe, hat sich als unbedingt notwendig herausgestellt und
durch die Erfolge belohnt. Ich habe einmal in einer Schrift
den Unterschied sehr schön ausgedrückt gefunden, der
zwischen der Vertretung in gewöhnlichen Rechtssachen und der
Vertretung in diesen Rechtssachen besteht. Es hieß dort: Der
eine Advokat führt seinen Klienten an einem Zwirnfaden bis
zum Urteil, der andere aber hebt seinen Klienten gleich auf
die Schultern und trägt ihn zum Urteil und ohne ihn
abzusetzen noch darüber hinaus. So ist es. Aber es war nicht
ganz richtig wenn ich sagte, daß ich diese große Arbeit
niemals bereue. Wenn sie, wie in Ihrem Fall, so vollständig
verkannt wird, dann, nun dann bereue ich fast.? K. wurde
durch diese Reden mehr ungeduldig als überzeugt. Er glaubte
irgendwie aus dem Tonfall des Advokaten herauszuhören, was
ihn erwartete, wenn er nachgeben würde, wieder würden die
Vertröstungen beginnen, die Hinweise auf die fortschreitende
Eingabe, auf die gebesserte Stimmung der Gerichtsbeamten,
aber auch auf die großen Schwierigkeiten, die sich der
Arbeit entgegenstellten, ? kurz das alles bis zum Überdruß
Bekannte würde hervorgeholt werden, um K. wieder mit
unbestimmten Hoffnungen zu täuschen und mit unbestimmten
Drohungen zu quälen. Das mußte endgiltig verhindert werden,
er sagte deshalb: ?Was wollen Sie in meiner Sache
unternehmen, wenn Sie die Vertretung behalten.? Der Advokat
fügte sich sogar dieser beleidigenden Frage und antwortete:
?In dem, was ich für Sie bereits unternommen habe, weiter
fortfahren.? ?Ich wußte es ja,? sagte K., ?nun ist aber
jedes weitere Wort überflüssig.? ?Ich werde noch einen
Versuch machen,? sagte der Advokat, als geschehe, das was K.
erregte, nicht K. sondern ihm. ?Ich habe nämlich die
Vermutung, daß Sie nicht nur zu der falschen Beurteilung
meines Rechtsbeistandes, sondern auch zu Ihrem sonstigen
Verhalten dadurch verleitet werden, daß man Sie, trotzdem
Sie Angeklagter sind, zu gut behandelt oder richtiger
ausgedrückt nachlässig, scheinbar nachlässig behandelt. Auch
dieses Letztere hat seinen Grund; es ist oft besser in
Ketten als frei zu sein. Aber ich möchte Ihnen doch zeigen,
wie andere Angeklagte behandelt werden, vielleicht gelingt
es Ihnen, daraus eine Lehre zu nehmen. Ich werde jetzt
nämlich Block vorrufen, sperren Sie die Tür auf und setzen
Sie sich hier neben den Nachttisch.? ?Gerne,? sagte K. und
tat was der Advokat verlangt hatte; zu lernen war er immer
bereit. Um sich aber für jeden Fall zu sichern, fragte er
noch: ?Sie haben aber zur Kenntnis genommen, daß ich Ihnen
meine Vertretung entziehe?? ?Ja,? sagte der Advokat, ?Sie
können es aber heute noch rückgängig machen.? Er legte sich
wieder ins Bett zurück, zog das Federbett bis zum Kinn und
drehte sich der Wand zu. Dann läutete er.

Fast gleichzeitig mit dem Glockenzeichen erschien Leni, sie
suchte durch rasche Blicke zu erfahren was geschehen war;
daß K. ruhig beim Bett des Advokaten saß, schien ihr
beruhigend. Sie nickte K., der sie starr ansah, lächelnd zu.
?Hole Block,? sagte der Advokat. Statt ihn aber zu holen,
trat sie nur vor die Tür, rief: ?Block! Zum Advokaten!? und
schlüpfte dann, wahrscheinlich weil der Advokat zur Wand
abgekehrt blieb und sich um nichts kümmerte, hinter K.?s
Sessel. Sie störte ihn von nun ab, indem sie sich über die
Sessellehne vorbeugte oder mit den Händen allerdings sehr
zart und vorsichtig, durch sein Haar fuhr und über seine
Wangen strich. Schließlich suchte K. sie daran zu hindern,
indem er sie bei einer Hand erfaßte, die sie ihm nach
einigem Widerstreben überließ.

Block war auf den Anruf hin gleich gekommen, blieb aber vor
der Tür stehn und schien zu überlegen ob er eintreten
sollte. Er zog die Augenbrauen hoch und neigte den Kopf, als
horche er ob sich der Befehl zum Advokaten zu kommen,
wiederholen würde. K. hätte ihn zum Eintreten aufmuntern
können, aber er hatte sich vorgenommen nicht nur mit dem
Advokaten sondern mit allem was hier in der Wohnung war
endgiltig zu brechen und verhielt sich deshalb regungslos.
Auch Leni schwieg. Block merkte, daß ihn wenigstens niemand
verjage, und trat auf den Fußspitzen ein, das Gesicht
gespannt, die Hände auf dem Rücken verkrampft. Die Tür hatte
er für einen möglichen Rückzug offengelassen. K. blickte er
gar nicht an, sondern immer nur das hohe Federbett, unter
dem der Advokat, da er sich ganz nahe an die Wand geschoben
hatte, nicht einmal zu sehen war. Da hörte man aber seine
Stimme: ?Block hier?? fragte er. Diese Frage gab Block, der
schon eine große Strecke weitergerückt war, förmlich einen
Stoß in die Brust und dann einen in den Rücken, er taumelte,
blieb tief gebückt stehn und sagte: ?Zu dienen.? ?Was willst
Du?? fragte der Advokat, ?Du kommst ungelegen.? ?Wurde ich
nicht gerufen?? fragte Block, mehr sich selbst, als den
Advokaten, hielt die Hände zum Schutze vor und war bereit
wegzulaufen. ?Du wurdest gerufen,? sagte der Advokat,
?trotzdem kommst Du ungelegen.? Und nach einer Pause fügte
er hinzu: ?Du kommst immer ungelegen.? Seitdem der Advokat
sprach, sah Block nicht mehr auf das Bett hin, er starrte
vielmehr irgendwo in eine Ecke und lauschte nur, als sei der
Anblick des Sprechers zu blendend, als daß er ihn ertragen
könnte. Es war aber auch das Zuhören schwer, denn der
Advokat sprach gegen die Wand undzwar leise und schnell.
?Wollt Ihr daß ich weggehe?? fragte Block. ?Nun bist Du
einmal da,? sagte der Advokat. ?Bleib!? Man hätte glauben
können, der Advokat habe nicht Blocks Wunsch erfüllt,
sondern ihm etwa mit Prügeln gedroht, denn jetzt fieng Block
wirklich zu zittern an. ?Ich war gestern,? sagte der
Advokat, ?beim dritten Richter, meinem Freund, und habe
allmählich das Gespräch auf Dich gelenkt. Willst Du wissen,
was er sagte?? ?Oh bitte,? sagte Block. Da der Advokat nicht
gleich antwortete, wiederholte Block nochmals die Bitte und
neigte sich als wolle er niederknien. Da fuhr ihn aber K.
an: ?Was tust Du?? rief er. Da ihn Leni an dem Ausruf hatte
hindern wollen, faßte er auch ihre zweite Hand. Es war nicht
der Druck der Liebe, mit dem er sie festhielt, sie seufzte
auch öfters und suchte ihm die Hände zu entwinden. Für K.?s
Ausruf aber wurde Block gestraft, denn der Advokat fragte
ihn: ?Wer ist denn Dein Advokat?? ?Ihr seid es,? sagte
Block. ?Und außer mir?? fragte der Advokat. ?Niemand außer
Euch,? sagte Block. ?Dann folge auch niemandem sonst,? sagte
der Advokat. Block erkannte das vollständig an, er maß K.
mit bösen Blicken und schüttelte heftig gegen ihn den Kopf.
Hätte man dieses Benehmen in Worte übersetzt so wären es
grobe Beschimpfungen gewesen. Mit diesem Menschen hatte K.
freundschaftlich über seine eigene Sache reden wollen! ?Ich
werde Dich nicht mehr stören,? sagte K. in den Sessel
zurückgelehnt. ?Knie nieder oder krieche auf allen Vieren,
tu was Du willst, ich werde mich nicht darum kümmern.? Aber
Block hatte doch Ehrgefühl, wenigstens gegenüber K., denn er
gieng mit den Fäusten fuchtelnd auf ihn zu, und rief so laut
als er es nur in der Nähe des Advokaten wagte: ?Sie dürfen
nicht so mit mir reden, das ist nicht erlaubt. Warum
beleidigen Sie mich? Und überdies noch hier vor dem Herrn
Advokaten, wo wir beide, Sie und ich, nur aus Barmherzigkeit
geduldet sind? Sie sind kein besserer Mensch als ich, denn
Sie sind auch angeklagt und haben auch einen Proceß. Wenn
Sie aber trotzdem noch ein Herr sind, dann bin ich ein
ebensolcher Herr, wenn nicht gar ein noch größerer. Und ich
will auch als ein solcher angesprochen werden, gerade von
Ihnen. Wenn Sie sich aber dadurch für bevorzugt halten, daß
Sie hier ruhig sitzen und ruhig zuhören dürfen, während ich,
wie Sie sich ausdrücken, auf allen Vieren krieche, dann
erinnere ich Sie an den alten Rechtsspruch: Für den
Verdächtigen ist Bewegung besser als Ruhe, denn der welcher
ruht kann immer, ohne es zu wissen auf einer Wagschale sein
und mit seinen Sünden gewogen werden.? K. sagte nichts, er
staunte nur mit unbeweglichen Augen diesen verwirrten
Menschen an. Was für Veränderungen waren mit ihm nur schon
in der letzten Stunde vor sich gegangen! War es der Proceß,
der ihn so hin und her warf und ihn nicht erkennen ließ, wo
Freund und wo Feind war? Sah er denn nicht, daß der Advokat
ihn absichtlich demütigte und diesmal nichts anderes
bezweckte, als sich vor K. mit seiner Macht zu brüsten und
sich dadurch vielleicht auch K. zu unterwerfen? Wenn Block
aber nicht fähig war das zu erkennen, oder wenn er den
Advokaten so sehr fürchtete, daß ihm jene Erkenntnis nichts
helfen konnte, wie kam es daß er doch wieder so schlau oder
so kühn war, den Advokaten zu betrügen und ihm zu
verschweigen, daß er außer ihm noch andere Advokaten für
sich arbeiten ließ. Und wieso wagte er es, K. anzugreifen,
da dieser doch gleich sein Geheimnis verraten konnte. Aber
er wagte noch mehr, er gieng zum Bett des Advokaten und
begann sich nun auch dort über K. zu beschweren: ?Herr
Advokat,? sagte er, ?habt gehört, wie dieser Mann mit mir
gesprochen hat. Man kann noch die Stunden seines Processes
zählen und schon will er mir, einem Mann, der fünf Jahre im
Processe steht, gute Lehren geben. Er beschimpft mich sogar.
Weiß nichts und beschimpft mich, der ich, soweit meine
schwachen Kräfte reichen, genau studiert habe, was Anstand,
Pflicht und Gerichtsgebrauch verlangt.? ?Kümmere Dich um
niemanden,? sagte der Advokat, ?und tue was Dir richtig
scheint.? ?Gewiß,? sagte Block, als spreche er sich selbst
Mut zu, und kniete unter einem kurzen Seitenblick nun knapp
beim Bett nieder. ?Ich knie schon, mein Advokat,? sagte er.
Der Advokat schwieg aber. Block streichelte mit einer Hand
vorsichtig das Federbett. In der Stille, die jetzt
herrschte, sagte Leni, indem sie sich von K.?s Händen
befreite: ?Du machst mir Schmerzen. Laß mich. Ich gehe zu
Block.? Sie ging hin und setzte sich auf den Bettrand. Block
war über ihr Kommen sehr erfreut, er bat sie gleich durch
lebhafte aber stumme Zeichen sich beim Advokaten für ihn
einzusetzen. Er benötigte offenbar die Mitteilungen des
Advokaten sehr dringend aber vielleicht nur zu dem Zweck, um
sie durch seine übrigen Advokaten ausnützen zulassen. Leni
wußte wahrscheinlich genau wie man dem Advokaten beikommen
könne, sie zeigte auf die Hand des Advokaten und spitzte die
Lippen wie zum Kuß. Gleich führte denn Block den Handkuß aus
und wiederholte ihn auf eine Aufforderung Lenis hin noch
zweimal. Aber der Advokat schwieg noch immer. Da beugte sich
Leni über den Advokaten hin, der schöne Wuchs ihres Körpers
wurde sichtbar als sie sich so streckte, und strich tief zu
seinem Gesicht geneigt über sein langes weißes Haar. Das
zwang ihm nun doch eine Antwort ab. ?Ich zögere es ihm
mitzuteilen,? sagte der Advokat und man sah, wie er den Kopf
ein wenig schüttelte, vielleicht um des Drucks von Leni?s
Hand mehr teilhaftig zu werden. Block horchte mit gesenktem
Kopf, als übertrete er durch dieses Horchen ein Gebot.
?Warum zögerst Du denn?? fragte Leni. K. hatte das Gefühl,
als höre er ein einstudiertes Gespräch, das sich schon oft
wiederholt hatte, das sich noch oft wiederholen würde und
das nur für Block seine Neuheit nicht verlieren konnte. ?Wie
hat er sich heute verhalten?? fragte der Advokat statt zu
antworten. Ehe sich Leni darüber äußerte, sah sie zu Block
hinunter und beobachtete ein Weilchen, wie er die Hände ihr
entgegenhob und bittend aneinander rieb. Schließlich nickte
sie ernst, wandte sich zum Advokaten und sagte: ?Er war
ruhig und fleißig.? Ein alter Kaufmann, ein Mann mit langem
Bart, flehte ein junges Mädchen um ein günstiges Zeugnis an.
Mochte er dabei auch Hintergedanken haben, nichts konnte ihn
in den Augen eines Mitmenschen rechtfertigen. Er entwürdigte
fast den Zuseher. K. begriff nicht, wie der Advokat daran
hatte denken können, durch diese Vorführung ihn zu gewinnen.
Hätte er ihn nicht schon früher verjagt, er hätte es durch
diese Szene erreicht. So wirkte also die Methode des
Advokaten, welcher K. glücklicher Weise nicht lange genug
ausgesetzt gewesen war, daß der Klient schließlich an die
ganze Welt vergaß und nur auf diesem Irrweg zum Ende des
Processes sich fortzuschleppen hoffte. Das war kein Klient
mehr, das war der Hund des Advokaten. Hätte ihm dieser
befohlen, unter das Bett wie in eine Hundehütte zu kriechen
und von dort aus zu bellen, er hätte es mit Lust getan. Als
sei K. beauftragt, alles was hier gesprochen wurde, genau in
sich aufzunehmen, an einem höhern Ort die Anzeige davon zu
erstatten und einen Bericht abzulegen, hörte er prüfend und
überlegen zu. ?Was hat er während des ganzen Tags getan??
fragte der Advokat. ?Ich habe ihn,? sagte Leni, ?damit er
mich bei der Arbeit nicht störe, in dem Dienstmädchenzimmer
eingesperrt, wo er sich ja gewöhnlich aufhält. Durch die
Luke konnte ich von Zeit zu Zeit nachsehn, was er machte. Er
kniete immer auf dem Bett, hatte die Schriften, die Du ihm
geliehen hast, auf dem Fensterbrett aufgeschlagen und las in
ihnen. Das hat einen guten Eindruck auf mich gemacht; das
Fenster führt nämlich nur in einen Luftschacht und gibt fast
kein Licht. Daß Block trotzdem las, zeigte mir, wie folgsam
er ist.? ?Es freut mich das zu hören,? sagte der Advokat.
?Hat er aber auch mit Verständnis gelesen?? Block bewegte
während dieses Gespräches unaufhörlich die Lippen, offenbar
formulierte er die Antworten, die er von Leni erhoffte.
?Darauf kann ich natürlich,? sagte Leni, ?nicht mit
Bestimmtheit antworten. Jedenfalls habe ich gesehn, daß er
gründlich las. Er hat den ganzen Tag über die gleiche Seite
gelesen und beim Lesen den Finger die Zeilen entlanggeführt.
Immer wenn ich zu ihm hineinsah, hat er geseufzt, als mache
ihm das Lesen viel Mühe. Die Schriften, die Du ihm geliehen
hast, sind wahrscheinlich schwer verständlich.? ?Ja,? sagte
der Advokat, ?das sind sie allerdings. Ich glaube auch
nicht, daß er etwas von ihnen versteht. Sie sollen ihm nur
eine Ahnung davon geben, wie schwer der Kampf ist, den ich
zu seiner Verteidigung führe. Und für wen führe ich diesen
schweren Kampf? Für ? es ist fast lächerlich es
auszusprechen ? für Block. Auch was das bedeutet soll er
begreifen lernen. Hat er ununterbrochen studiert?? ?Fast
ununterbrochen,? antwortete Leni, ?nur einmal hat er mich um
Wasser zum Trinken gebeten. Da habe ich ihm ein Glas durch
die Luke gereicht. Um acht Uhr habe ich ihn dann
herausgelassen und ihm etwas zu essen gegeben.? Block
streifte K. mit einem Seitenblick, als werde hier Rühmendes
von ihm erzählt und müsse auch auf K. Eindruck machen. Er
schien jetzt gute Hoffnungen zu haben, bewegte sich freier
und rückte auf den Knien hin und her. Desto deutlicher war
es, wie er unter den folgenden Worten des Advokaten
erstarrte. ?Du lobst ihn,? sagte der Advokat. ?Aber gerade
das macht es mir schwer zu reden. Der Richter hat sich
nämlich nicht günstig ausgesprochen, weder über Block selbst
noch über seinen Proceß.? ?Nicht günstig?? fragte Leni. ?Wie
ist das möglich?? Block sah sie mit einem so gespannten
Blick an, als traue er ihr die Fähigkeit zu, jetzt noch die
längst ausgesprochenen Worte des Richters zu seinen Gunsten
zu wenden. ?Nicht günstig,? sagte der Advokat. ?Er war sogar
unangenehm berührt, als ich von Block zu sprechen anfieng.
?Reden Sie nicht von Block?, sagte er. ?Er ist mein Klient?,
sagte ich. ?Sie lassen sich mißbrauchen?, sagte er. ?Ich
halte seine Sache nicht für verloren?, sagte ich. ?Sie
lassen sich mißbrauchen?, wiederholte er. ?Ich glaube es
nicht?, sagte ich. ?Block ist im Proceß fleißig und immer
hinter seiner Sache her. Er wohnt fast bei mir um immer auf
dem Laufenden zu sein. Solchen Eifer findet man nicht immer.
Gewiß er ist persönlich nicht angenehm, hat häßliche
Umgangsformen und ist schmutzig, aber in prozessualer
Hinsicht ist er untadelhaft.? Ich sagte untadelhaft, ich
übertrieb absichtlich. Darauf sagte er: ?Block ist bloß
schlau. Er hat viel Erfahrung angesammelt und versteht es
den Proceß zu verschleppen. Aber seine Unwissenheit ist noch
viel größer als seine Schlauheit. Was würde er wohl dazu
sagen, wenn er erfahren würde, daß sein Proceß noch gar
nicht begonnen hat, wenn man ihm sagen würde, daß noch nicht
einmal das Glockenzeichen zum Beginn des Processes gegeben
ist.? Ruhig Block,? sagte der Advokat, denn Block begann
sich gerade auf unsicheren Knien zu erheben und wollte
offenbar um Aufklärung bitten. Es war jetzt das erste Mal,
daß sich der Advokat mit ausführlicheren Worten geradezu an
Block wendete. Mit müden Augen sah er halb ziellos, halb zu
Block hinunter, der unter diesem Blick wieder langsam in die
Knie zurücksank. ?Diese Äußerung des Richters hat für Dich
gar keine Bedeutung,? sagte der Advokat. ?Erschrick doch
nicht bei jedem Wort. Wenn sich das wiederholt, werde ich
Dir gar nichts mehr verraten. Man kann keinen Satz beginnen,
ohne daß Du einen anschaust, als ob jetzt Dein Endurteil
käme. Schäme Dich hier vor meinem Klienten! Auch
erschütterst Du das Vertrauen, das er in mich setzt. Was
willst Du denn? Noch lebst Du, noch stehst Du unter meinem
Schutz. Sinnlose Angst! Du hast irgendwo gelesen, daß das
Endurteil in manchen Fällen unversehens komme aus beliebigem
Munde zu beliebiger Zeit. Mit vielen Vorbehalten ist das
allerdings wahr, ebenso wahr aber ist es, daß mich Deine
Angst anwidert und daß ich darin einen Mangel des
notwendigen Vertrauens sehe. Was habe ich denn gesagt? Ich
habe die Äußerung eines Richters wiedergegeben. Du weißt,
die verschiedenen Ansichten häufen sich um das Verfahren bis
zur Undurchdringlichkeit. Dieser Richter z. B. nimmt den
Anfang des Verfahrens zu einem andern Zeitpunkt an als ich.
Ein Meinungsunterschied, nichts weiter. In einem gewissen
Stadium des Processes wird nach altem Brauch ein
Glockenzeichen gegeben. Nach der Ansicht dieses Richters
beginnt damit der Proceß. Ich kann Dir jetzt nicht alles
sagen, was dagegen spricht, Du würdest es auch nicht
verstehn, es genüge Dir, daß viel dagegen spricht.? Verlegen
fuhr Block unten mit den Fingern durch das Fell des
Bettvorlegers, die Angst wegen des Ausspruches des Richters
ließ ihn zeitweise die eigene Untertänigkeit gegenüber dem
Advokaten vergessen, er dachte dann nur an sich und drehte
die Worte des Richters nach allen Seiten. ?Block,? sagte
Leni in warnendem Ton und zog ihn am Rockkragen ein wenig in
die Höhe. ?Laß jetzt das Fell und höre dem Advokaten zu.?

Im Dom

K. bekam den Auftrag, einem italienischen Geschäftsfreund
der Bank, der für sie sehr wichtig war und sich zum ersten
Mal in dieser Stadt aufhielt, einige Kunstdenkmäler zu
zeigen. Es war ein Auftrag, den er zu anderer Zeit gewiß für
ehrend gehalten hätte, den er aber jetzt, da er nur mit
großer Anstrengung sein Ansehen in der Bank noch wahren
konnte, widerwillig übernahm. Jede Stunde, die er dem Bureau
entzogen wurde machte ihm Kummer; er konnte zwar die
Bureauzeit beiweitem nicht mehr so ausnützen wie früher, er
brachte manche Stunden nur unter dem notdürftigsten Anschein
wirklicher Arbeit hin, aber desto größer waren seine Sorgen,
wenn er nicht im Bureau war. Er glaubte dann zu sehn, wie
der Direktor-Stellvertreter, der ja immer auf der Lauer
gewesen war, von Zeit zu Zeit in sein Bureau kam, sich an
seinen Schreibtisch setzte, seine Schriftstücke durchsuchte,
Parteien, mit denen K. seit Jahren fast befreundet gewesen
war, empfieng und ihm abspenstig machte, ja vielleicht sogar
Fehler aufdeckte, von denen sich K. während der Arbeit jetzt
immer aus tausend Richtungen bedroht sah und die er nicht
mehr vermeiden konnte. Wurde er daher einmal sei es in noch
so auszeichnender Weise zu einem Geschäftsweg oder gar zu
einer kleinen Reise beauftragt ? solche Aufträge hatten sich
in der letzten Zeit ganz zufällig gehäuft ? dann lag
immerhin die Vermutung nahe, daß man ihn für ein Weilchen
aus dem Bureau entfernen und seine Arbeit überprüfen wolle
oder wenigstens daß man ihn im Bureau für leicht entbehrlich
halte. Die meisten dieser Aufträge hätte er ohne
Schwierigkeit ablehnen können, aber er wagte es nicht, denn,
wenn seine Befürchtung auch nur im geringsten begründet war,
bedeutete die Ablehnung des Auftrags Geständnis seiner
Angst. Aus diesem Grunde nahm er solche Aufträge scheinbar
gleichmütig hin und verschwieg sogar, als er eine
anstrengende zweitägige Geschäftsreise machen sollte, eine
ernstliche Verkühlung, um sich nur nicht der Gefahr
auszusetzen, mit Berufung auf das gerade herrschende
regnerische Herbstwetter von der Reise abgehalten zu werden.
Als er von dieser Reise mit wütenden Kopfschmerzen
zurückkehrte, erfuhr er, daß er dazu bestimmt sei, am
nächsten Tag den italienischen Geschäftsfreund zu begleiten.
Die Verlockung, sich wenigstens dieses eine Mal zu weigern,
war sehr groß, vor allem war das was man ihm hier zugedacht
hatte, keine unmittelbar mit dem Geschäft zusammenhängende
Arbeit, die Erfüllung dieser gesellschaftlichen Pflicht
gegenüber dem Geschäftsfreund war an sich zweifellos wichtig
genug, nur nicht für K., der wohl wußte, daß er sich nur
durch Arbeitserfolge erhalten könne und daß es, wenn ihm das
nicht gelingen würde, vollständig wertlos war, wenn er
diesen Italiener unerwarteter Weise sogar bezaubern sollte;
er wollte nicht einmal für einen Tag aus dem Bereich der
Arbeit geschoben werden, denn die Furcht nicht mehr
zurückgelassen zu werden, war zu groß, eine Furcht, die er
sehr genau als übertrieben erkannte, die ihn aber doch
beengte. In diesem Fall allerdings war es fast unmöglich
einen annehmbaren Einwand zu erfinden, K.?s Kenntnis des
Italienischen war zwar nicht sehr groß, aber immerhin
genügend; das Entscheidende aber war, daß K. aus früherer
Zeit einige kunsthistorische Kenntnisse besaß, was in
äußerst übertriebener Weise dadurch in der Bank bekannt
geworden war, daß K. eine Zeitlang, übrigens auch nur aus
geschäftlichen Gründen, Mitglied des Vereins zur Erhaltung
der städtischen Kunstdenkmäler gewesen war. Nun war aber der
Italiener, wie man gerüchtweise erfahren hatte, ein
Kunstliebhaber und die Wahl K.?s zu seinem Begleiter war
daher selbstverständlich.

Es war ein sehr regnerischer stürmischer Morgen, als K. voll
Ärger über den Tag der ihm bevorstand schon um sieben Uhr
ins Bureau kam, um wenigstens einige Arbeit noch
fertigzubringen, ehe der Besuch ihn allem entziehen würde.
Er war sehr müde, denn er hatte die halbe Nacht mit dem
Studium einer italienischen Grammatik verbracht, um sich ein
wenig vorzubereiten, das Fenster an dem er in der letzten
Zeit viel zu oft zu sitzen pflegte, lockte ihn mehr als der
Schreibtisch, aber er widerstand und setzte sich zur Arbeit.
Leider trat gerade der Diener ein und meldete, der Herr
Direktor habe ihn geschickt, um nachzusehn, ob der Herr
Prokurist schon hier sei; sei er hier, dann möge er so
freundlich sein und ins Empfangszimmer hinüberkommen, der
Herr aus Italien sei schon da. ?Ich komme schon,? sagte K.,
steckte ein kleines Wörterbuch in die Tasche, nahm ein Album
der städtischen Sehenswürdigkeiten, das er für den Fremden
vorbereitet hatte unter den Arm, und gieng durch das Bureau
des Direktor-Stellvertreters in das Direktionszimmer. Er war
glücklich darüber, so früh ins Bureau gekommen zu sein und
sofort zur Verfügung stehn zu können, was wohl niemand
ernstlich erwartet hatte. Das Bureau des
Direktor-Stellvertreters war natürlich noch leer, wie in
tiefer Nacht, wahrscheinlich hatte der Diener auch ihn ins
Empfangszimmer berufen sollen, es war aber erfolglos
gewesen. Als K. ins Empfangszimmer eintrat erhoben sich die
zwei Herren aus den tiefen Fauteuils. Der Direktor lächelte
freundlich, offenbar war er sehr erfreut über K.?s Kommen,
er besorgte sofort die Vorstellung, der Italiener schüttelte
K. kräftig die Hand und nannte lachend irgendjemanden einen
Frühaufsteher, K. verstand nicht genau wen er meinte, es war
überdies ein sonderbares Wort, dessen Sinn K. erst nach
einem Weilchen erriet. Er antwortete mit einigen glatten
Sätzen, die der Italiener wieder lachend hinnahm, wobei er
mehrmals mit nervöser Hand über seinen graublauen buschigen
Schnurrbart fuhr. Dieser Bart war offenbar parfümiert, man
war fast versucht, sich zu nähern und zu riechen. Als sich
alle gesetzt hatten und ein kleines einleitendes Gespräch
begann, bemerkte K. mit großem Unbehagen, daß er den
Italiener nur bruchstückweise verstand. Wenn er ganz ruhig
sprach, verstand er ihn fast vollständig, das waren aber nur
seltene Ausnahmen, meistens quoll förmlich ihm die Rede aus
dem Mund, er schüttelte den Kopf wie vor Lust darüber. Bei
solchen Reden aber verwickelte er sich regelmäßig in
irgendeinen Dialekt, der für K. nichts Italienisches mehr
hatte, den aber der Direktor nicht nur verstand sondern auch
sprach, was K. allerdings hätte voraussehn können, denn der
Italiener stammte aus Süditalien, wo auch der Direktor
einige Jahre gewesen war. Jedenfalls erkannte K. daß ihm die
Möglichkeit sich mit dem Italiener zu verständigen, zum
größten Teil genommen war, denn auch dessen Französisch war
nur schwer verständlich, auch verdeckte der Bart die
Lippenbewegungen, deren Anblick vielleicht zum Verständnis
geholfen hätte. K. begann viele Unannehmlichkeiten
vorauszusehn, vorläufig gab er es auf, den Italiener
verstehen zu wollen ? in der Gegenwart des Direktors, der
ihn so leicht verstand, wäre es unnötige Anstrengung gewesen
? und er beschränkte sich darauf, ihn verdrießlich zu
beobachten, wie er tief und doch leicht in dem Fauteuil
ruhte, wie er öfters an seinem kurzen, scharf geschnittenen
Röckchen zupfte und wie er einmal mit erhobenen Armen und
lose in den Gelenken bewegten Händen irgendetwas
darzustellen versuchte das K. nicht begreifen konnte,
trotzdem er vorgebeugt die Hände nicht aus den Augen ließ.
Schließlich machte sich bei K., der sonst unbeschäftigt nur
mechanisch mit den Blicken dem Hin und Her der Reden folgte,
die frühere Müdigkeit geltend und er ertappte sich einmal zu
seinem Schrecken, glücklicherweise noch rechtzeitig, darauf,
daß er in der Zerstreutheit gerade hatte aufstehen, sich
umdrehn und weggehn wollen. Endlich sah der Italiener auf
die Uhr und sprang auf. Nachdem er sich vom Direktor
verabschiedet hatte, drängte er sich an K. undzwar so dicht,
daß K. sein Fauteuil zurückschieben mußte, um sich bewegen
zu können. Der Direktor, der gewiß an K.?s Augen die Not
erkannte, in der er sich gegenüber diesem Italienisch
befand, mischte sich in das Gespräch undzwar so klug und so
zart, daß es den Anschein hatte als füge er nur kleine
Ratschläge bei, während er in Wirklichkeit alles was der
Italiener, unermüdlich ihm in die Rede fallend vorbrachte,
in aller Kürze K. verständlich machte. K. erfuhr von ihm,
daß der Italiener vorläufig noch einige Geschäfte zu
besorgen habe, daß er leider auch im Ganzen nur wenig Zeit
haben werde, daß er auch keinesfalls beabsichtige in Eile
alle Sehenswürdigkeiten abzulaufen, daß er sich vielmehr ?
allerdings nur wenn K. zustimme, bei ihm allein liege die
Entscheidung ? entschlossen habe nur den Dom, diesen aber
gründlich zu besichtigen. Er freue sich ungemein diese
Besichtigung in Begleitung eines so gelehrten und
liebenswürdigen Mannes ? damit war K. gemeint, der mit
nichts anderem beschäftigt war, als den Italiener zu
überhören und die Worte des Direktors schnell aufzufassen ?
vornehmen zu können und er bitte ihn, wenn ihm die Stunde
gelegen sei, in zwei Stunden etwa um zehn Uhr sich im Dom
einzufinden. Er selbst hoffe um diese Zeit schon bestimmt
dort sein zu können. K. antwortete einiges Entsprechende,
der Italiener drückte zuerst dem Direktor, dann K., dann
nochmals dem Direktor die Hand und gieng von beiden gefolgt,
nur noch halb ihnen zugewendet, im Reden aber noch immer
nicht aussetzend, zur Tür. K. blieb dann noch ein Weilchen
mit dem Direktor beisammen, der heute besonders leidend
aussah. Er glaubte sich bei K. irgendwie entschuldigen zu
müssen und sagte ? sie standen vertraulich nahe beisammen ?
zuerst hätte er beabsichtigt, selbst mit dem Italiener zu
gehn, dann aber ? er gab keinen nähern Grund an ? habe er
sich entschlossen, lieber K. zu schicken. Wenn er den
Italiener nicht gleich im Anfang verstehe, so müsse er sich
dadurch nicht verblüffen lassen, das Verständnis komme sehr
rasch und wenn er auch viel überhaupt nicht verstehen
sollte, so sei es auch nicht so schlimm, denn für den
Italiener sei es nicht gar so wichtig verstanden zu werden.
Übrigens sei K.?s Italienisch überraschend gut und er werde
sich gewiß ausgezeichnet mit der Sache abfinden. Damit war
K. verabschiedet. Die Zeit, die ihm noch freiblieb
verbrachte er damit seltene Vokabeln, die er zur Führung im
Dom benötigte, aus dem Wörterbuch herauszuschreiben. Es war
eine äußerst lästige Arbeit, Diener brachten die Post,
Beamte kamen mit verschiedenen Anfragen und blieben, da sie
K. beschäftigt sahen, bei der Tür stehn, rührten sich aber
nicht weg, bis sie K. angehört hatte, der
Direktor-Stellvertreter ließ es sich nicht entgehn K. zu
stören, kam öfters herein, nahm ihm das Wörterbuch aus der
Hand und blätterte offenbar ganz sinnlos darin, selbst
Parteien tauchten wenn sich die Türe öffnete im Halbdunkel
des Vorzimmers auf und verbeugten sich zögernd, sie wollten
auf sich aufmerksam machen, waren aber dessen nicht sicher
ob sie gesehen wurden ? das alles bewegte sich um K. als um
seinen Mittelpunkt, während er selbst die Wörter die er
brauchte, zusammenstellte, dann im Wörterbuch suchte, dann
herausschrieb, dann sich in ihrer Aussprache übte und
schließlich auswendig zu lernen versuchte. Sein früheres
gutes Gedächtnis schien ihn aber ganz verlassen zu haben,
manchmal wurde er auf den Italiener, der ihm diese
Anstrengung verursachte, so wütend, daß er das Wörterbuch
unter Papieren vergrub mit der festen Absicht sich nicht
mehr vorzubereiten, dann aber sah er ein, daß er doch nicht
stumm mit dem Italiener vor den Kunstwerken im Dom auf und
abgehn könne und er zog mit noch größerer Wut das Wörterbuch
wieder hervor.

Gerade um halb zehn als er weggehn wollte, erfolgte ein
telephonischer Anruf, Leni wünschte ihm guten Morgen und
fragte nach seinem Befinden, K. dankte eilig und bemerkte er
könne sich jetzt unmöglich in ein Gespräch einlassen, denn
er müsse in den Dom. ?In den Dom?? fragte Leni. ?Nun ja, in
den Dom.? ?Warum denn in den Dom?? fragte Leni. K. suchte es
ihr in Kürze zu erklären, aber kaum hatte er damit
angefangen, sagte Leni plötzlich: ?Sie hetzen Dich.?
Bedauern, das er nicht herausgefordert und nicht erwartet
hatte, vertrug K. nicht, er verabschiedete sich mit zwei
Worten, sagte aber doch, während er den Hörer an seinen
Platz hängte, halb zu sich, halb zu dem fernen Mädchen, das
er nicht mehr hörte: ?Ja, sie hetzen mich.?

Nun war es aber schon spät, es bestand schon fast die
Gefahr, daß er nicht rechtzeitig ankam. Im Automobil fuhr er
hin, im letzten Augenblick hatte er sich noch an das Album
erinnert, das er früh zu übergeben keine Gelegenheit
gefunden hatte und das er deshalb jetzt mitnahm. Er hielt es
auf seinen Knien und trommelte darauf unruhig während der
ganzen Fahrt. Der Regen war schwächer geworden, aber es war
feucht, kühl und dunkel, man würde im Dom wenig sehn, wohl
aber würde sich dort infolge des langen Stehns auf den
kalten Fliesen K.?s Verkühlung sehr verschlimmern.

Der Domplatz war ganz leer, K. erinnerte sich, daß es ihm
schon als kleinem Kind aufgefallen war, daß in den Häusern
dieses engen Platzes immer fast alle Fenstervorhänge
herabgelassen waren. Bei dem heutigen Wetter war es
allerdings verständlicher als sonst. Auch im Dom schien es
leer zu sein, es fiel natürlich niemandem ein, jetzt
hierherzukommen. K. durchlief beide Seitenschiffe, er traf
nur ein altes Weib, das eingehüllt in ein warmes Tuch vor
einem Marienbild kniete und es anblickte. Von weitem sah er
dann noch einen hinkenden Diener in einer Mauertür
verschwinden. K. war pünktlich gekommen, gerade bei seinem
Eintritt hatte es elf geschlagen, der Italiener war aber
noch nicht hier. K. gieng zum Haupteingang zurück, stand
dort eine Zeitlang unentschlossen und machte dann im Regen
einen Rundgang um den Dom, um nachzusehn, ob der Italiener
nicht vielleicht bei irgendeinem Seiteneingang warte. Er war
nirgends zu finden. Sollte der Direktor etwa die Zeitangabe
mißverstanden haben? Wie konnte man auch diesen Menschen
richtig verstehn. Wie es aber auch sein mochte, jedenfalls
mußte K. zumindest eine halbe Stunde auf ihn warten. Da er
müde war, wollte er sich setzen, er gieng wieder in den Dom,
fand auf einer Stufe einen kleinen teppichartigen Fetzen,
zog ihn mit der Fußspitze vor eine nahe Bank, wickelte sich
fester in seinen Mantel, schlug den Kragen in die Höhe und
setzte sich. Um sich zu zerstreuen schlug er das Album auf,
blätterte darin ein wenig, mußte aber bald aufhören, denn es
wurde so dunkel, daß er, als er aufblickte, in dem nahen
Seitenschiff kaum eine Einzelheit unterscheiden konnte.

In der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar ein großes Dreieck
von Kerzenlichtern, K. hätte nicht mit Bestimmtheit sagen
können, ob er sie schon früher gesehen hatte. Vielleicht
waren sie erst jetzt angezündet worden. Die Kirchendiener
sind berufsmäßige Schleicher, man bemerkt sie nicht. Als
sich K. zufällig umdrehte, sah er nicht weit hinter sich
eine hohe starke an einer Säule befestigte Kerze gleichfalls
brennen. So schön das war, zur Beleuchtung der Altarbilder,
die meistens in der Finsternis der Seitenaltäre hiengen, war
das gänzlich unzureichend, es vermehrte vielmehr die
Finsternis. Es war vom Italiener ebenso vernünftig als
unhöflich gehandelt, daß er nicht gekommen war, es wäre
nichts zu sehn gewesen, man hätte sich damit begnügen müssen
mit K.?s elektrischer Taschenlampe einige Bilder zollweise
abzusuchen. Um zu versuchen, was man davon erwarten könnte,
gieng K. zu einer nahen kleinen Seitenkapelle, stieg paar
Stufen bis zu einer niedrigen Marmorbrüstung und über sie
vorgebeugt beleuchtete er mit der Lampe das Altarbild.
Störend schwebte das ewige Licht davor. Das erste was K. sah
und zum Teil erriet, war ein großer gepanzerter Ritter, der
am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er stützte
sich auf sein Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich ?
nur einige Grashalme kamen hie und da hervor ? gestoßen
hatte. Er schien aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der
sich vor ihm abspielte. Es war erstaunlich, daß er so stehen
blieb und sich nicht näherte. Vielleicht war er dazu
bestimmt, Wache zu stehn. K., der schon lange keine Bilder
gesehen hatte, betrachtete den Ritter längere Zeit, trotzdem
er immerfort mit den Augen zwinkern mußte, da er das grüne
Licht der Lampe nicht vertrug. Als er dann das Licht über
den übrigen Teil des Bildes streichen ließ, fand er eine
Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung, es war
übrigens ein neueres Bild. Er steckte die Lampe ein und
kehrte wieder zu seinem Platz zurück.

Es war nun schon wahrscheinlich unnötig auf den Italiener zu
warten, draußen war aber gewiß strömender Regen und da es
hier nicht so kalt war, wie K. erwartet hatte, beschloß er
vorläufig hier zu bleiben. In seiner Nachbarschaft war die
große Kanzel, auf ihrem kleinen runden Dach waren halb
liegend zwei leere goldene Kreuze angebracht, die sich mit
ihrer äußersten Spitze überquerten. Die Außenwand der
Brüstung und ihr Übergang zur tragenden Säule war von grünem
Laubwerk gebildet in das kleine Engel griffen, bald lebhaft
bald ruhend. K. trat vor die Kanzel und untersuchte sie von
allen Seiten, die Bearbeitung des Steines war überaus
sorgfältig, das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerk und
hinter ihm schien wie eingefangen und festgehalten, K. legte
seine Hand in eine solche Lücke und tastete dann den Stein
vorsichtig ab, von dem Dasein dieser Kanzel hatte er bisher
gar nicht gewußt. Da bemerkte er zufällig hinter der
nächsten Bankreihe einen Kirchendiener, der dort in einem
hängenden faltigen schwarzen Rock stand, in der linken Hand
eine Schnupftabakdose hielt und ihn betrachtete. ?Was will
denn der Mann?? dachte K. ?Bin ich ihm verdächtig Will er
ein Trinkgeld?? Als sich aber nun der Kirchendiener von K.
bemerkt sah, zeigte er mit der Rechten, zwischen zwei
Fingern hielt er noch eine Prise Tabak, in irgendeiner
unbestimmten Richtung. Sein Benehmen war fast
unverständlich, K. wartete noch ein Weilchen, aber der
Kirchendiener hörte nicht auf mit der Hand etwas zu zeigen
und bekräftigte es noch durch Kopfnicken. ?Was will er
denn?? fragte K. leise, er wagte es nicht hier zu rufen;
dann aber zog er die Geldtasche und drängte sich durch die
nächste Bank, um zu dem Mann zu kommen. Doch dieser machte
sofort eine abwehrende Bewegung mit der Hand, zuckte die
Schultern und hinkte davon. Mit einer ähnlichen Gangart wie
es dieses eilige Hinken war, hatte K. als Kind das Reiten
auf Pferden nachzuahmen versucht. ?Ein kindischer Alter,?
dachte K., ?sein Verstand reicht nur noch zum Kirchendienst
aus. Wie er stehn bleibt wenn ich stehe und wie er lauert,
ob ich weitergehen will.? Lächelnd folgte K. dem Alten durch
das ganze Seitenschiff fast bis zur Höhe des Hauptaltars,
der Alte hörte nicht auf, etwas zu zeigen, aber K. drehte
sich absichtlich nicht um, das Zeigen hatte keinen andern
Zweck als ihn von der Spur des Alten abzubringen.
Schließlich ließ er wirklich von ihm, er wollte ihn nicht zu
sehr ängstigen, auch wollte er die Erscheinung, für den
Fall, daß der Italiener doch noch kommen sollte, nicht ganz
verscheuchen.

Als er in das Hauptschiff trat, um seinen Platz zu suchen,
auf dem er das Album liegengelassen hatte, bemerkte er an
einer Säule fast angrenzend an die Bänke des Altarchors eine
kleine Nebenkanzel, ganz einfach aus kahlem bleichem Stein.
Sie war so klein, daß sie aus der Ferne wie eine noch leere
Nische erschien, die für die Aufnahme einer Statue bestimmt
war. Der Prediger konnte gewiß keinen vollen Schritt von der
Brüstung zurücktreten. Außerdem begann die steinerne
Einwölbung der Kanzel ungewöhnlich tief und stieg zwar ohne
jeden Schmuck aber derartig geschweift in die Höhe, daß ein
mittelgroßer Mann dort nicht aufrecht stehn konnte, sondern
sich dauernd über die Brüstung vorbeugen mußte. Das Ganze
war wie zur Qual des Predigers bestimmt, es war
unverständlich wozu man diese Kanzel benötigte, da man doch
die andere große und so kunstvoll geschmückte zur Verfügung
hatte.

K. wäre auch diese kleine Kanzel gewiß nicht aufgefallen,
wenn nicht oben eine Lampe befestigt gewesen wäre, wie man
sie kurz vor einer Predigt bereitzustellen pflegt. Sollte
jetzt etwa eine Predigt stattfinden? In der leeren Kirche?
K. sah an der Treppe hinab, die an die Säule sich
anschmiegend zur Kanzel führte und so schmal war, als solle
sie nicht für Menschen, sondern nur zum Schmuck der Säule
dienen. Aber unten an der Kanzel, K. lächelte vor Staunen,
stand wirklich der Geistliche, hielt die Hand am Geländer,
bereit aufzusteigen und sah auf K. hin. Dann nickte er ganz
leicht mit dem Kopf, worauf K. sich bekreuzigte und
verbeugte, was er schon früher hätte tun sollen. Der
Geistliche gab sich einen kleinen Aufschwung und stieg mit
kurzen, schnellen Schritten die Kanzel hinauf. Sollte
wirklich eine Predigt beginnen? War vielleicht der
Kirchendiener doch nicht so ganz vom Verstand verlassen und
hatte K. dem Prediger zutreiben wollen, was allerdings in
der leeren Kirche äußerst notwendig gewesen war. Übrigens
gab es ja noch irgendwo vor einem Marienbild ein altes Weib,
das auch hätte kommen sollen. Und wenn es schon eine Predigt
sein sollte, warum wurde sie nicht von der Orgel
eingeleitet. Aber die blieb still und blinkte nur schwach
aus der Finsternis ihrer großen Höhe.

K. dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernen
sollte, wenn er es jetzt nicht tat, war keine Aussicht, daß
er es während der Predigt tun könnte, er mußte dann bleiben,
solange sie dauerte, im Bureau verlor er so viel Zeit, auf
den Italiener zu warten war er längst nicht mehr
verpflichtet, er sah auf seine Uhr, es war elf. Aber konnte
denn wirklich gepredigt werden? Konnte K. allein die
Gemeinde darstellend Wie, wenn er ein Fremder gewesen wäre,
der nur die Kirche besichtigen wollte? Im Grunde war er auch
nichts anderes. Es war unsinnig daran zu denken daß
gepredigt werden sollte, jetzt um elf Uhr, an einem Werketag
bei graulichstem Wetter. Der Geistliche ? ein Geistlicher
war es zweifellos, ein junger Mann mit glattem dunklem
Gesicht ? gieng offenbar nur hinauf um die Lampe zu löschen,
die irrtümlich angezündet worden war.

Es war aber nicht so, der Geistliche prüfte vielmehr das
Licht und schraubte es noch ein wenig auf, dann drehte er
sich langsam der Brüstung zu, die er vorn an der kantigen
Einfassung mit beiden Händen erfaßte. So stand er eine
Zeitlang und blickte ohne den Kopf zu rühren umher. K. war
ein großes Stück zurückgewichen und lehnte mit den Elbogen
an der vordersten Kirchenbank. Mit unsichern Augen sah er
irgendwo, ohne den Ort genau zu bestimmen, den Kirchendiener
mit krummem Rücken friedlich wie nach beendeter Aufgabe sich
zusammenkauern. Was für eine Stille herrschte jetzt im Dom!
Aber K. mußte sie stören, er hatte nicht die Absicht
hierzubleiben; wenn es die Pflicht des Geistlichen war zu
einer bestimmten Stunde ohne Rücksicht auf die Umstände zu
predigen, so mochte er es tun, es würde auch ohne K.?s
Beistand gelingen, ebenso wie die Anwesenheit K.?s die
Wirkung gewiß nicht steigern würde. Langsam setzte sich also
K. in Gang, tastete sich auf den Fußspitzen an der Bank hin,
kam dann in den breiten Hauptweg und gieng auch dort ganz
ungestört, nur daß der steinerne Boden unter dem leisesten
Schritt erklang und die Wölbungen schwach aber
ununterbrochen, in vielfachem gesetzmäßigem Fortschreiten
davon widerhallten. K. fühlte sich ein wenig verlassen, als
er dort vom Geistlichen vielleicht beobachtet zwischen den
leeren Bänken allein hindurchgieng, auch schien ihm die
Größe des Doms gerade an der Grenze des für Menschen noch
Erträglichen zu liegen. Als er zu seinem frühern Platz kam,
haschte er förmlich ohne weitern Aufenthalt nach dem dort
liegen gelassenen Album und nahm es an sich. Fast hatte er
schon das Gebiet der Bänke verlassen und näherte sich dem
freien Raum, der zwischen ihnen und dem Ausgang lag, als er
zum ersten Mal die Stimme des Geistlichen hörte. Eine
mächtige geübte Stimme. Wie durchdrang sie den zu ihrer
Aufnahme bereiten Dom! Es war aber nicht die Gemeinde, die
der Geistliche anrief, es war ganz eindeutig und es gab
keine Ausflüchte, er rief: ?Josef K.!?

K. stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufig war er
noch frei, er konnte noch weitergehn und durch eine der drei
kleinen dunklen Holztüren, die nicht weit vor ihm waren,
sich davon machen. Es würde eben bedeuten, daß er nicht
verstanden hatte oder daß er zwar verstanden hatte, sich
aber darum nicht kümmern wollte. Falls er sich aber
umdrehte, war er festgehalten, denn dann hatte er das
Geständnis gemacht, daß er gut verstanden hatte, daß er
wirklich der Angerufene war und daß er auch folgen wollte.
Hätte der Geistliche nochmals gerufen, wäre K. gewiß
fortgegangen, aber da alles still blieb, solange K. auch
wartete, drehte er doch ein wenig den Kopf, denn er wollte
sehn, was der Geistliche jetzt mache. Er stand ruhig auf der
Kanzel wie früher, es war aber deutlich zu sehn, daß er K.?s
Kopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein kindliches
Versteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K. nicht
vollständig umgedreht hätte. Er tat es und wurde vom
Geistlichen durch ein Winken des Fingers näher gerufen. Da
jetzt alles offen geschehen konnte, lief er ? er tat es auch
aus Neugierde und um die Angelegenheit abzukürzen ? mit
langen fliegenden Schritten der Kanzel entgegen. Bei den
ersten Bänken machte er halt, aber dem Geistlichen schien
die Entfernung noch zu groß, er streckte die Hand aus und
zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle
knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er mußte auf
diesem Platz den Kopf schon weit zurückbeugen um den
Geistlichen noch zu sehn. ?Du bist Josef K.,? sagte der
Geistliche und erhob eine Hand auf der Brüstung in einer
unbestimmten Bewegung. ?Ja,? sagte K., er dachte daran wie
offen er früher immer seinen Namen genannt hatte, seit
einiger Zeit war er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinen
Namen Leute, mit denen er zum ersten Mal zusammenkam, wie
schön war es sich zuerst vorzustellen und dann erst gekannt
zu werden. ?Du bist angeklagt,? sagte der Geistliche
besonders leise. ?Ja,? sagte K., ?man hat mich davon
verständigt.? ?Dann bist Du der, den ich suche,? sagte der
Geistliche. ?Ich bin der Gefängniskaplan.? ?Ach so,? sagte
K. ?Ich habe Dich hierherrufen lassen,? sagte der
Geistliche, ?um mit Dir zu sprechen.? ?Ich wußte es nicht,?
sagte K. ?Ich bin hierhergekommen, um einem Italiener den
Dom zu zeigen.? ?Laß das Nebensächliche,? sagte der
Geistliche. ?Was hältst Du in der Hand? Ist es ein
Gebetbuch?? ?Nein,? antwortete K., ?es ist ein Album der
städtischen Sehenswürdigkeiten.? ?Leg es aus der Hand,?
sagte der Geistliche. K. warf es so heftig weg, daß es
aufklappte und mit zerdrückten Blättern ein Stück über den
Boden schleifte. ?Weißt Du, daß Dein Proceß schlecht steht??
fragte der Geistliche. ?Es scheint mir auch so,? sagte K.
?Ich habe mir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg.
Allerdings habe ich die Eingabe noch nicht fertig.? ?Wie
stellst Du Dir das Ende vor,? fragte der Geistliche. ?Früher
dachte ich es müsse gut enden,? sagte K., ?jetzt zweifle ich
daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird.
Weißt Du es?? ?Nein,? sagte der Geistliche, ?aber ich
fürchte es wird schlecht enden. Man hält Dich für schuldig.
Dein Proceß wird vielleicht über ein niedriges Gericht gar
nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig Deine
Schuld für erwiesen.? ?Ich bin aber nicht schuldig,? sagte
K. ?Es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt
schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie
der andere.? ?Das ist richtig,? sagte der Geistliche, ?aber
so pflegen die Schuldigen zu reden.? ?Hast auch Du ein
Vorurteil gegen mich?? fragte K. ?Ich habe kein Vorurteil
gegen Dich,? sagte der Geistliche. ?Ich danke Dir,? sagte K.
?Alle andern aber, die an dem Verfahren beteiligt sind haben
ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es auch den
Unbeteiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger.?
?Du mißverstehst die Tatsachen,? sagte der Geistliche. ?Das
Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht
allmählich ins Urteil über.? ?So ist es also,? sagte K. und
senkte den Kopf. ?Was willst Du nächstens in Deiner Sache
tun?? fragte der Geistliche. ?Ich will noch Hilfe suchen,?
sagte K. und hob den Kopf um zu sehn wie der Geistliche es
beurteile. ?Es gibt noch gewisse Möglichkeiten, die ich
nicht ausgenützt habe.? ?Du suchst zuviel fremde Hilfe,?
sagte der Geistliche mißbilligend, ?und besonders bei
Frauen. Merkst Du denn nicht, daß es nicht die wahre Hilfe
ist.? ?Manchmal und sogar oft könnte ich Dir recht geben,?
sagte K., ?aber nicht immer. Die Frauen haben eine große
Macht. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne, dazu bewegen
könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müßte ich
durchdringen. Besonders bei diesem Gericht, das fast nur aus
Frauenjägern besteht. Zeig dem Untersuchungsrichter eine
Frau aus der Ferne und er überrennt um nur rechtzeitig
hinzukommen, den Gerichtstisch und den Angeklagten.? Der
Geistliche neigte den Kopf zur Brüstung, jetzt erst schien
die Überdachung der Kanzel ihn niederzudrücken. Was für ein
Unwetter mochte draußen sein? Das war kein trüber Tag mehr,
das war schon tiefe Nacht. Keine Glasmalerei der großen
Fenster war imstande, die dunkle Wand auch nur mit einem
Schimmer zu unterbrechen. Und gerade jetzt begann der
Kirchendiener die Kerzen auf dem Hauptaltar eine nach der
andern auszulöschen. ?Bist Du mir böse,? fragte K. den
Geistlichen. ?Du weißt vielleicht nicht, was für einem
Gericht Du dienst.? Er bekam keine Antwort. ?Es sind doch
nur meine Erfahrungen,? sagte K. Oben blieb es noch immer
still. ?Ich wollte Dich nicht beleidigen,? sagte K. Da
schrie der Geistliche zu K. hinunter: ?Siehst Du denn nicht
zwei Schritte weit?? Es war im Zorn geschrien, aber
gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und
weil er selbst erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen
schreit.

Nun schwiegen beide lange. Gewiß konnte der Geistliche in
dem Dunkel das unten herrschte, K. nicht genau erkennen,
während K. den Geistlichen im Licht der kleinen Lampe
deutlich sah. Warum kam der Geistliche nicht herunter? Eine
Predigt hatte er ja nicht gehalten, sondern K. nur einige
Mitteilungen gemacht, die ihm, wenn er sie genau beachten
würde, wahrscheinlich mehr schaden als nützen würden. Wohl
aber schien K. die gute Absicht des Geistlichen zweifellos
zu sein, es war nicht unmöglich, daß er sich mit ihm, wenn
er herunterkäme, einigen würde, es war nicht unmöglich, daß
er von ihm einen entscheidenden und annehmbaren Rat bekäme,
der ihm z. B. zeigen würde, nicht etwa wie der Proceß zu
beeinflussen war, sondern wie man aus dem Proceß ausbrechen,
wie man ihn umgehen, wie man außerhalb des Processes leben
könnte. Diese Möglichkeit mußte bestehn, K. hatte in der
letzten Zeit öfters an sie gedacht. Wußte aber der
Geistliche eine solche Möglichkeit, würde er sie vielleicht,
wenn man ihn darum bat, verraten, trotzdem er selbst zum
Gericht gehörte und trotzdem er, als K. das Gericht
angegriffen hatte, sein sanftes Wesen unterdrückt und K.
sogar angeschrien hatte.

?Willst Du nicht hinunterkommen?? sagte K. ?Es ist doch
keine Predigt zu halten. Komm zu mir hinunter.? ?Jetzt kann
ich schon kommen,? sagte der Geistliche, er bereute
vielleicht sein Schreien. Während er die Lampe von ihrem
Haken löste, sagte er: ?Ich mußte zuerst aus der Entfernung
mit Dir sprechen. Ich lasse mich sonst zu leicht
beeinflussen und vergesse meinen Dienst.?

K. erwartete ihn unten an der Treppe. Der Geistliche
streckte ihm schon von einer obern Stufe im Hinuntergehn die
Hand entgegen. ?Hast Du ein wenig Zeit für mich?? fragte K.
?Soviel Zeit als Du brauchst,? sagte der Geistliche und
reichte K. die kleine Lampe damit er sie trage. Auch in der
Nähe verlor sich eine gewisse Feierlichkeit aus seinem Wesen
nicht. ?Du bist sehr freundlich zu mir,? sagte K. Sie
giengen nebeneinander im dunklen Seitenschiff auf und ab.
?Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum Gericht gehören.
Ich habe mehr Vertrauen zu Dir, als zu irgendjemanden von
ihnen, soviele ich schon kenne. Mit Dir kann ich offen
reden.? ?Täusche Dich nicht,? sagte der Geistliche. ?Worin
sollte ich mich denn täuschen?? fragte K. ?In dem Gericht
täuschst Du Dich,? sagte der Geistliche, ?in den
einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser
Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem
Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in
das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den
Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt
dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ?Es ist
möglich?, sagt der Türhüter, ?jetzt aber nicht.? Da das Tor
zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite
tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere
zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt:
?Wenn es Dich so lockt, versuche es doch trotz meines
Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich
bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber
Türhüter einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick
des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.? Solche
Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet, das
Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein denkt er,
aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer
ansieht, seine große Spitznase, den langen dünnen schwarzen
tartarischen Bart, entschließt er sich doch lieber zu warten
bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt
ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich
niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele
Versuche eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter
durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine
Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach
vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen wie sie
große Herren stellen und zum Schlusse sagt er ihm immer
wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der
sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet
alles und sei es noch so wertvoll um den Türhüter zu
bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: ?Ich
nehme es nur an, damit Du nicht glaubst, etwas versäumt zu
haben.? Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den
Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter
und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den
Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen
Zufall, in den ersten Jahren laut, später als er alt wird
brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch und da er
in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in
seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe ihm
zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird
sein Augenlicht schwach und er weiß nicht ob es um ihn
wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen.
Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der
unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er
nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem
Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage die er
bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm
zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten
kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn
die Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des
Mannes verändert. ?Was willst Du denn jetzt noch wissen,?
fragt der Türhüter, ?Du bist unersättlich.? ?Alle streben
doch nach dem Gesetz,? sagt der Mann, ?wie so kommt es, daß
in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat.?
Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am Ende ist und um
sein vergehendes Gehör noch zu erreichen brüllt er ihn an:
?Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser
Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und
schließe ihn.??

?Der Türhüter hat also den Mann getäuscht,? sagte K. sofort,
von der Geschichte sehr stark angezogen. ?Sei nicht
übereilt,? sagte der Geistliche, ?übernimm nicht die fremde
Meinung ungeprüft. Ich habe Dir die Geschichte im Wortlaut
der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin nichts.? ?Es
ist aber klar,? sagte K., ?und Deine erste Deutung war ganz
richtig. Der Türhüter hat die erlösende Mitteilung erst dann
gemacht, als sie dem Manne nichts mehr helfen konnte.? ?Er
wurde nicht früher gefragt,? sagte der Geistliche, ?bedenke
auch daß er nur Türhüter war und als solcher hat er seine
Pflicht erfüllt.? ?Warum glaubst Du daß er seine Pflicht
erfüllt hat?? fragte K., ?er hat sie nicht erfüllt. Seine
Pflicht war es vielleicht alle Fremden abzuwehren, diesen
Mann aber, für den der Eingang bestimmt war, hätte er
einlassen müssen.? ?Du hast nicht genug Achtung vor der
Schrift und veränderst die Geschichte,? sagte der
Geistliche. ?Die Geschichte enthält über den Einlaß ins
Gesetz zwei wichtige Erklärungen des Türhüters, eine am
Anfang, eine am Ende. Die eine Stelle lautet: ?daß er ihm
jetzt den Eintritt nicht gewähren könne? und die andere:
?dieser Eingang war nur für Dich bestimmt?. Bestände
zwischen diesen Erklärungen ein Widerspruch dann hättest Du
recht und der Türhüter hätte den Mann getäuscht. Nun besteht
aber kein Widerspruch. Im Gegenteil die erste Erklärung
deutet sogar auf die zweite hin. Man könnte fast sagen der
Türhüter gieng über seine Pflicht hinaus, indem er dem Mann
eine zukünftige Möglichkeit des Einlasses in Aussicht
stellte. Zu jener Zeit scheint es nur seine Pflicht gewesen
zu sein, den Mann abzuweisen. Und tatsächlich wundern sich
viele Erklärer der Schrift darüber, daß der Türhüter jene
Andeutung überhaupt gemacht hat, denn er scheint die
Genauigkeit zu lieben und wacht streng über sein Amt. Durch
viele Jahre verläßt er seinen Posten nicht und schließt das
Tor erst ganz zuletzt, er ist sich der Wichtigkeit seines
Dienstes sehr bewußt, denn er sagt ?ich bin mächtig?, er hat
Ehrfurcht vor den Vorgesetzten, denn er sagt ?ich bin nur
der unterste Türhüter?, er ist wo es um Pflichterfüllung
geht weder zu rühren noch zu erbittern, denn es heißt von
dem Mann ?er ermüdet den Türhüter durch seine Bitten?, er
ist nicht geschwätzig, denn während der vielen Jahre stellt
er nur wie es heißt ?teilnahmslose Fragen?, er ist nicht
bestechlich, denn er sagt über ein Geschenk ?ich nehme es
nur an, damit Du nicht glaubst etwas versäumt zu haben?,
schließlich deutet auch sein Äußeres auf einen pedantischen
Charakter hin, die große Spitznase und der lange dünne
schwarze tartarische Bart. Kann es einen pflichttreueren
Türhüter geben? Nun mischen sich aber in den Türhüter noch
andere Wesenszüge ein, die für den, der Einlaß verlangt,
sehr günstig sind und welche es immerhin begreiflich machen,
daß er in jener Andeutung einer zukünftigen Möglichkeit über
seine Pflicht etwas hinausgehn konnte. Es ist nämlich nicht
zu leugnen, daß er ein wenig einfältig und im Zusammenhang
damit ein wenig eingebildet ist. Wenn auch seine Äußerungen
über seine Macht und über die Macht der andern Türhüter und
über deren sogar für ihn unerträglichen Anblick ? ich sage
wenn auch alle diese Äußerungen an sich richtig sein mögen,
so zeigt doch die Art wie er diese Äußerungen vorbringt, daß
seine Auffassung durch Einfalt und Überhebung getrübt ist.
Die Erklärer sagen hiezu: Richtiges Auffassen einer Sache
und Mißverstehn der gleichen Sache schließen einander nicht
vollständig aus. Jedenfalls aber muß man annehmen, daß jene
Einfalt und Überhebung, so geringfügig sie sich vielleicht
auch äußern, doch die Bewachung des Einganges schwächen, es
sind Lücken im Charakter des Türhüters. Hiezu kommt noch daß
der Türhüter seiner Naturanlage nach freundlich zu sein
scheint, er ist durchaus nicht immer Amtsperson. Gleich in
den ersten Augenblicken macht er den Spaß, daß er den Mann
trotz des ausdrücklich aufrecht erhaltenen Verbotes zum
Eintritt einladet, dann schickt er ihn nicht etwa fort,
sondern gibt ihm wie es heißt einen Schemel und läßt ihn
seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Die Geduld mit der
er durch alle die Jahre die Bitten des Mannes erträgt, die
kleinen Verhöre, die Annahme der Geschenke, die Vornehmheit,
mit der er es zuläßt, daß der Mann neben ihm laut den
unglücklichen Zufall verflucht, der den Türhüter hier
aufgestellt hat ? alles dieses läßt auf Regungen des
Mitleids schließen. Nicht jeder Türhüter hätte so gehandelt.
Und schließlich beugt er sich noch auf einen Wink hin tief
zu dem Mann hinab, um ihm Gelegenheit zur letzten Frage zu
geben. Nur eine schwache Ungeduld ? der Türhüter weiß ja daß
alles zuende ist ? spricht sich in den Worten aus: ?Du bist
unersättlich?. Manche gehn sogar in dieser Art der Erklärung
noch weiter und meinen, die Worte ?Du bist unersättlich?
drücken eine Art freundschaftlicher Bewunderung aus, die
allerdings von Herablassung nicht frei ist. Jedenfalls
schließt sich so die Gestalt des Türhüters anders ab, als Du
es glaubst.? ?Du kennst die Geschichte genauer als ich und
längere Zeit,? sagte K. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann
sagte K.: ?Du glaubst also der Mann wurde nicht getäuscht??
?Mißverstehe mich nicht,? sagte der Geistliche, ?ich zeige
Dir nur die Meinungen, die darüber bestehn. Du mußt nicht
zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich
und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung
darüber. In diesem Falle gibt es sogar eine Meinung nach
welcher gerade der Türhüter der Getäuschte ist.? ?Das ist
eine weitgehende Meinung,? sagte K. ?Wie wird sie
begründet?? ?Die Begründung,? antwortete der Geistliche,
?geht von der Einfalt des Türhüters aus. Man sagt, daß er
das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg,
den er vor dem Eingang immer wieder abgehn muß. Die
Vorstellungen die er von dem Innern hat werden für kindlich
gehalten und man nimmt an, daß er das wovor er dem Manne
Furcht machen will, selbst fürchtet. Ja er fürchtet es mehr
als der Mann, denn dieser will ja nichts anderes als
eintreten, selbst als er von den schrecklichen Türhütern des
Innern gehört hat, der Türhüter dagegen will nicht
eintreten, wenigstens erfährt man nichts darüber. Andere
sagen zwar, daß er bereits im Innern gewesen sein muß, denn
er ist doch einmal in den Dienst des Gesetzes aufgenommen
worden und das könne nur im Innern geschehen sein. Darauf
ist zu antworten, daß er wohl auch durch einen Ruf aus dem
Innern zum Türhüter bestellt worden sein könne und daß er
zumindest tief im Innern nicht gewesen sein dürfte, da er
doch schon den Anblick des dritten Türhüters nicht mehr
ertragen kann. Außerdem aber wird auch nicht berichtet, daß
er während der vielen Jahre außer der Bemerkung über die
Türhüter irgendetwas von dem Innern erzählt hätte. Es könnte
ihm verboten sein, aber auch vom Verbot hat er nichts
erzählt. Aus alledem schließt man, daß er über das Aussehn
und die Bedeutung des Innern nichts weiß und sich darüber in
Täuschung befindet. Aber auch über den Mann vom Lande soll
er sich in Täuschung befinden, denn er ist diesem Mann
untergeordnet und weiß es nicht. Daß er den Mann als einen
Untergeordneten behandelt, erkennt man an vielem, das Dir
noch erinnerlich sein dürfte. Daß er ihm aber tatsächlich
untergeordnet ist, soll nach dieser Meinung ebenso deutlich
hervorgehn. Vor allem ist der Freie dem Gebundenen
übergeordnet. Nun ist der Mann tatsächlich frei, er kann
hingehn wohin er will, nur der Eingang in das Gesetz ist ihm
verboten und überdies nur von einem Einzelnen, vom Türhüter.
Wenn er sich auf den Schemel seitwärts vom Tor niedersetzt
und dort sein Leben lang bleibt, so geschieht dies
freiwillig, die Geschichte erzählt von keinem Zwang. Der
Türhüter dagegen ist durch sein Amt an seinen Posten
gebunden, er darf sich nicht auswärts entfernen, allem
Anschein nach aber auch nicht in das Innere gehn, selbst
wenn er es wollte. Außerdem ist er zwar im Dienst des
Gesetzes, dient aber nur für diesen Eingang, also auch nur
für diesen Mann für den dieser Eingang allein bestimmt ist.
Auch aus diesem Grunde ist er ihm untergeordnet. Es ist
anzunehmen, daß er durch viele Jahre, durch ein ganzes
Mannesalter gewissermaßen nur leeren Dienst geleistet hat,
denn es wird gesagt, daß ein Mann kommt, also jemand im
Mannesalter, daß also der Türhüter lange warten mußte ehe
sich sein Zweck erfüllte undzwar solange warten mußte, als
es dem Mann beliebte, der doch freiwillig kam. Aber auch das
Ende des Dienstes wird durch das Lebensende des Mannes
bestimmt, bis zum Ende also bleibt er ihm untergeordnet. Und
immer wieder wird betont, daß von alledem der Türhüter
nichts zu wissen scheint. Daran wird aber nichts auffälliges
gesehn, denn nach dieser Meinung befindet sich der Türhüter
noch in einer viel schwerern Täuschung, sie betrifft seinen
Dienst. Zuletzt spricht er nämlich vom Eingang und sagt ?Ich
gehe jetzt und schließe ihn?, aber am Anfang heißt es, daß
das Tor zum Gesetz offensteht wie immer, steht es aber immer
offen, immer d. h. unabhängig von der Lebensdauer des Mannes
für den es bestimmt ist, dann wird es auch der Türhüter
nicht schließen können. Darüber gehn die Meinungen
auseinander, ob der Türhüter mit der Ankündigung daß er das
Tor schließen wird, nur eine Antwort geben oder seine
Dienstpflicht betonen oder den Mann noch im letzten
Augenblick in Reue und Trauer setzen will. Darin aber sind
viele einig, daß er das Tor nicht wird schließen können. Sie
glauben sogar, daß er wenigstens am Ende auch in seinem
Wissen dem Manne untergeordnet ist, denn dieser sieht den
Glanz der aus dem Eingang des Gesetzes bricht, während der
Türhüter als solcher wohl mit dem Rücken zum Eingang steht
und auch durch keine Äußerung zeigt, daß er eine Veränderung
bemerkt hätte.? ?Das ist gut begründet,? sagte K., der
einzelne Stellen aus der Erklärung des Geistlichen halblaut
für sich wiederholt hatte. ?Es ist gut begründet und ich
glaube nun auch daß der Türhüter getäuscht ist. Dadurch bin
ich aber von meiner frühern Meinung nicht abgekommen, denn
beide decken sich teilweise. Es ist unentscheidend, ob der
Türhüter klar sieht oder getäuscht wird. Ich sagte, der Mann
wird getäuscht. Wenn der Türhüter klar sieht, könnte man
daran zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist, dann
muß sich seine Täuschung notwendig auf den Mann übertragen.
Der Türhüter ist dann zwar kein Betrüger, aber so einfältig,
daß er sofort aus dem Dienst gejagt werden müßte. Du mußt
doch bedenken, daß die Täuschung in der sich der Türhüter
befindet ihm nichts schadet, dem Mann aber tausendfach.?
?Hier stößt Du auf eine Gegenmeinung,? sagte der Geistliche.
?Manche sagen nämlich, daß die Geschichte niemandem ein
Recht gibt über den Türhüter zu urteilen. Wie er uns auch
erscheinen mag, so ist er doch ein Diener des Gesetzes, also
zum Gesetz gehörig, also dem menschlichen Urteil entrückt.
Man darf dann auch nicht glauben, daß der Türhüter dem Manne
untergeordnet ist. Durch seinen Dienst auch nur an den
Eingang des Gesetzes gebunden zu sein ist unvergleichlich
mehr als frei in der Welt zu leben. Der Mann kommt erst zum
Gesetz, der Türhüter ist schon dort. Er ist vom Gesetz zum
Dienst bestellt, an seiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße am
Gesetze zweifeln.? ?Mit dieser Meinung stimme ich nicht
überein,? sagte K. kopfschüttelnd, ?denn wenn man sich ihr
anschließt, muß man alles was der Türhüter sagt für wahr
halten. Daß das aber nicht möglich ist, hast Du ja selbst
ausführlich begründet.? ?Nein,? sagte der Geistliche, ?man
muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für
notwendig halten.? ?Trübselige Meinung,? sagte K. ?Die Lüge
wird zur Weltordnung gemacht.?

K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht.
Er war zu müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehn
zu können, es waren auch ungewohnte Gedankengänge in die sie
ihn führte, unwirkliche Dinge, besser geeignet zur
Besprechung für die Gesellschaft der Gerichtsbeamten als für
ihn. Die einfache Geschichte war unförmlich geworden, er
wollte sie von sich abschütteln und der Geistliche, der
jetzt ein großes Zartgefühl bewies, duldete es und nahm K.?s
Bemerkung schweigend auf, trotzdem sie mit seiner eigenen
Meinung gewiß nicht übereinstimmte.

Sie giengen eine Zeitlang schweigend weiter, K. hielt sich
eng neben dem Geistlichen ohne in der Finsternis zu wissen,
wo er sich befand. Die Lampe in seiner Hand war längst
erloschen. Einmal blinkte gerade vor ihm das silberne
Standbild eines Heiligen nur mit dem Schein des Silbers und
spielte gleich wieder ins Dunkel über. Um nicht vollständig
auf den Geistlichen angewiesen zu bleiben, fragte ihn K.:
?Sind wir jetzt nicht in der Nähe des Haupteinganges??
?Nein,? sagte der Geistliche, ?wir sind weit von ihm
entfernt. Willst Du schon fortgeht? Trotzdem K. gerade jetzt
nicht daran gedacht hatte, sagte er sofort: ?Gewiß, ich muß
fortgehn. Ich bin Prokurist einer Bank, man wartet auf mich,
ich bin nur hergekommen, um einem ausländischen
Geschäftsfreund den Dom zu zeigen.? ?Nun,? sagte der
Geistliche und reichte K. die Hand, ?dann geh.? ?Ich kann
mich aber im Dunkel allein nicht zurechtfinden,? sagte K.
?Geh links zur Wand,? sagte der Geistliche, ?dann weiter die
Wand entlang ohne sie zu verlassen und Du wirst einen
Ausgang finden.? Der Geistliche hatte sich erst paar
Schritte entfernt aber K. rief schon sehr laut: ?Bitte,
warte noch.? ?Ich warte,? sagte der Geistliche. ?Willst Du
nicht noch etwas von mir?? fragte K. ?Nein,? sagte der
Geistliche. ?Du warst früher so freundlich zu mir,? sagte
K., ?und hast mir alles erklärt, jetzt aber entläßt Du mich,
als läge Dir nichts an mir.? ?Du mußt doch fortgehn,? sagte
der Geistliche. ?Nun ja,? sagte K., ?sieh das doch ein.?
?Sieh Du zuerst ein, wer ich bin,? sagte der Geistliche. ?Du
bist der Gefängniskaplan,? sagte K. und gieng näher zum
Geistlichen hin, seine sofortige Rückkehr in die Bank war
nicht so notwendig wie er sie dargestellt hatte, er konnte
recht gut noch hier bleiben. ?Ich gehöre also zum Gericht,?
sagte der Geistliche. ?Warum sollte ich also etwas von Dir
wollen. Das Gericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf
wenn Du kommst und es entläßt Dich wenn Du gehst.?

Ende

Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages ? es war
gegen neun Uhr abends, die Zeit der Stille auf den Straßen ?
kamen zwei Herren in K.?s Wohnung. In Gehröcken, bleich und
fett, mit scheinbar unverrückbaren Cylinderhüten. Nach einer
kleinen Förmlichkeit bei der Wohnungstür wegen des ersten
Eintretens wiederholte sich die gleiche Förmlichkeit in
größerem Umfange vor K.?s Tür. Ohne daß ihm der Besuch
angekündigt gewesen wäre, saß K. gleichfalls schwarz
angezogen in einem Sessel in der Nähe der Türe und zog
langsam neue scharf sich über die Finger spannende
Handschuhe an, in der Haltung wie man Gäste erwartet. Er
stand gleich auf und sah die Herren neugierig an. ?Sie sind
also für mich bestimmt?? fragte er. Die Herren nickten,
einer zeigte mit dem Cylinderhut in der Hand auf den andern.
K. gestand sich ein, daß er einen andern Besuch erwartet
hatte. Er gieng zum Fenster und sah noch einmal auf die
dunkle Straße. Auch fast alle Fenster auf der andern
Straßenseite waren noch dunkel, in vielen die Vorhänge
herabgelassen. In einem beleuchteten Fenster des Stockwerkes
spielten zwei kleine Kinder hinter einem Gitter mit einander
und tasteten, noch unfähig sich von ihren Plätzen
fortzubewegen, mit den Händchen nach einander. ?Alte
untergeordnete Schauspieler schickt man um mich,? sagte sich
K. und sah sich um, um sich nochmals davon zu überzeugen.
?Man sucht auf billige Weise mit mir fertig zu werden.? K.
wendete sich plötzlich ihnen zu und fragte: ?An welchem
Teater spielen Sie.? ?Teater?? fragte der eine Herr mit
zuckenden Mundwinkeln den andern um Rat. Der andere
geberdete sich wie ein Stummer, der mit dem widerspenstigen
Organismus kämpft. ?Sie sind nicht darauf vorbereitet,
gefragt zu werden,? sagte sich K. und gieng seinen Hut
holen.

Schon auf der Treppe wollten sich die Herren in K.
einhängen, aber K. sagte: ?Erst auf der Gasse, ich bin nicht
krank.? Gleich aber vor dem Tor hängten sie sich in ihn in
einer Weise ein, wie K. noch niemals mit einem Menschen
gegangen war. Sie hielten die Schultern eng hinter den
seinen, knickten die Arme nicht ein, sondern benützten sie,
um K.?s Arme in ihrer ganzen Länge zu umschlingen, unten
erfaßten sie K.?s Hände mit einem schulmäßigen, eingeübten,
unwiderstehlichen Griff. K. gieng straff gestreckt zwischen
ihnen, sie bildeten jetzt alle drei eine solche Einheit, daß
wenn man einen von ihnen zerschlagen hätte, alle zerschlagen
gewesen wären. Es war eine Einheit, wie sie fast nur
Lebloses bilden kann.

Unter den Laternen versuchte K. öfters, so schwer es bei
diesem engen Aneinander ausgeführt werden konnte, seine
Begleiter deutlicher zu sehn, als es in der Dämmerung seines
Zimmers möglich gewesen war. Vielleicht sind es Tenöre
dachte er im Anblick ihres schweren Doppelkinns. Er ekelte
sich vor der Reinlichkeit ihrer Gesichter. Man sah förmlich
noch die säubernde Hand, die in ihre Augenwinkel gefahren,
die ihre Oberlippe gerieben, die die Falten am Kinn
ausgekratzt hatte.

Als K. das bemerkte blieb er stehn, infolgedessen blieben
auch die andern stehn; sie waren am Rand eines freien
menschenleeren mit Anlagen geschmückten Platzes. ?Warum hat
man gerade Sie geschickt!? rief er mehr als er fragte. Die
Herren wußten scheinbar keine Antwort, sie warteten mit dem
hängenden freien Arm, wie Krankenwärter, wenn der Kranke
sich ausruhn will. ?Ich gehe nicht weiter,? sagte K.
versuchsweise. Darauf brauchten die Herren nicht zu
antworten, es genügte daß sie den Griff nicht lockerten und
K. von der Stelle wegzuheben versuchten, aber K. widerstand.
?Ich werde nicht mehr viel Kraft brauchen, ich werde jetzt
alle anwenden,? dachte er. Ihm fielen die Fliegen ein, die
mit zerreißenden Beinchen von der Leimrute wegstreben. ?Die
Herren werden schwere Arbeit haben. ?

Da stieg vor ihnen aus einer tiefer gelegenen Gasse auf
einer kleinen Treppe Fräulein Bürstner zum Platz empor. Es
war nicht ganz sicher, ob sie es war, die Ähnlichkeit war
freilich groß. Aber K. lag auch nichts daran, ob es bestimmt
Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeit seines
Widerstandes kam ihm gleich zu Bewußtsein. Es war nichts
Heldenhaftes wenn er widerstand, wenn er jetzt den Herren
Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt in der Abwehr noch
den letzten Schein des Lebens zu genießen versuchte. Er
setzte sich in Gang und von der Freude, die er dadurch den
Herren machte, gieng noch etwas auf ihn selbst über. Sie
duldeten es jetzt, daß er die Wegrichtung bestimmte und er
bestimmte sie nach dem Weg, den das Fräulein vor ihnen nahm,
nicht etwa weil er sie einholen, nicht etwa weil er sie
möglichst lange sehen wollte, sondern nur deshalb um die
Mahnung, die sie für ihn bedeutete nicht zu vergessen. ?Das
einzige was ich jetzt tun kann,? sagte er sich und das
Gleichmaß seiner Schritte und der Schritte der drei andern
bestätigte seine Gedanken, ?das einzige was ich jetzt tun
kann ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand
behalten. Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt
hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden
Zweck. Das war unrichtig, soll ich nun zeigen, daß nicht
einmal der einjährige Proceß mich belehren konnte? Soll ich
als ein begriffsstütziger Mensch abgehn? Soll man mir
nachsagen dürfen, daß ich am Anfang des Processes ihn
beenden und jetzt an seinem Ende ihn wieder beginnen will.
Ich will nicht, daß man das sagt. Ich bin dankbar dafür, daß
man mir auf diesem Weg diese halbstummen verständnislosen
Herren mitgegeben hat und daß man es mir überlassen hat, mir
selbst das Notwendige zu sagen.?

Das Fräulein war inzwischen in eine Seitengasse eingebogen,
aber K. konnte sie schon entbehren und überließ sich seinen
Begleitern. Alle drei zogen nun in vollem Einverständnis
über eine Brücke im Mondschein, jeder kleinen Bewegung, die
K. machte, gaben die Herren jetzt bereitwillig nach, als er
ein wenig zum Geländer sich wendete, drehten auch sie sich
in ganzer Front dorthin. Das im Mondlicht glänzende und
zitternde Wasser teilte sich um eine kleine Insel, auf der
wie zusammengedrängt Laubmassen von Bäumen und Sträuchern
sich aufhäuften. Unter ihnen jetzt unsichtbar führten
Kieswege mit bequemen Bänken, auf denen K. in manchem Sommer
sich gestreckt und gedehnt hatte. ?Ich wollte ja gar nicht
stehn bleiben,? sagte er zu seinen Begleitern, beschämt
durch ihre Bereitwilligkeit. Der eine schien dem andern
hinter K.?s Rücken einen sanften Vorwurf wegen des
mißverständlichen Stehenbleibens zu machen, dann giengen sie
weiter.

Sie kamen durch einige ansteigende Gassen, in denen hie und
da Polizisten standen oder giengen, bald in der Ferne, bald
in nächster Nähe. Einer mit buschigem Schnurrbart, die Hand
am Griff des Säbels trat wie mit Absicht nahe an die nicht
ganz unverdächtige Gruppe. Die Herren stockten, der
Polizeimann schien schon den Mund zu öffnen, da zog K. mit
Macht die Herren vorwärts. Öfters drehte er sich vorsichtig
um, ob der Polizeimann nicht folge; als sie aber eine Ecke
zwischen sich und dem Polizeimann hatten fieng K. zu laufen
an, die Herren mußten trotz großer Atemnot auch mitlaufen.

So kamen sie rasch aus der Stadt hinaus, die sich in dieser
Richtung fast ohne Übergang an die Felder anschloß. Ein
kleiner Steinbruch, verlassen und öde, lag in der Nähe eines
noch ganz städtischen Hauses. Hier machten die Herren halt,
sei es daß dieser Ort von allem Anfang an ihr Ziel gewesen
war, sei es daß sie zu erschöpft waren, um noch weiter zu
laufen. Jetzt ließen sie K. los der stumm wartete, nahmen
die Cylinderhüte ab und wischten sich, während sie sich im
Steinbruch umsahen, mit den Taschentüchern den Schweiß von
der Stirn. Überall lag der Mondschein mit seiner
Natürlichkeit und Ruhe, die keinem andern Licht gegeben ist.

Nach Austausch einiger Höflichkeiten hinsichtlich dessen wer
die nächsten Aufgaben auszuführen habe, ? die Herren
schienen die Aufträge ungeteilt bekommen zu haben ? gieng
der eine zu K. und zog ihm den Rock, die Weste und
schließlich das Hemd aus. K. fröstelte unwillkürlich, worauf
ihm der Herr einen leichten beruhigenden Schlag auf den
Rücken gab. Dann legte er die Sachen sorgfältig zusammen,
wie Dinge die man noch gebrauchen wird, wenn auch nicht in
allernächster Zeit. Um K. nicht ohne Bewegung der immerhin
kühlen Nachtluft auszusetzen, nahm er ihn unter den Arm und
gieng mit ihm ein wenig auf und ab, während der andere Herr
den Steinbruch nach irgendeiner passenden Stelle absuchte.
Als er sie gefunden hatte winkte er und der andere Herr
geleitete K. hin. Es war nahe der Bruchwand, es lag dort ein
losgebrochener Stein. Die Herren setzten K. auf die Erde
nieder, lehnten ihn an den Stein und betteten seinen Kopf
obenauf. Trotz aller Anstrengung, die sie sich gaben, und
trotz alles Entgegenkommens, das ihnen K. bewies, blieb
seine Haltung eine sehr gezwungene und unglaubwürdige. Der
eine Herr bat daher den andern ihm für ein Weilchen das
Hinlegen K.?s allein zu überlassen, aber auch dadurch wurde
es nicht besser. Schließlich ließen sie K. in einer Lage,
die nicht einmal die beste von den bereits erreichten Lagen
war. Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus
einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel
hing, ein langes dünnes beiderseitig geschärftes
Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfen im
Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer
reichte über K. hinweg das Messer dem andern, dieser reichte
es wieder über K. zurück. K. wußte jetzt genau, daß es seine
Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand
über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren.
Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals
und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren,
alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung
für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der
dazu nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf
das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden
Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel
eines Fensters dort auseinander, ein Mensch schwach und dünn
in der Ferne und Höhe beugte sich mit einem Ruck weit vor
und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein
Freund Ein guter Mensch? Einer der teilnahm? Einer der
helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch
Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab
es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem
Menschen der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der
Richter den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht
bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und
spreizte alle Finger.

Aber an K.?s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn,
während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal
dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor
seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt
die Entscheidung beobachteten. ?Wie ein Hund!? sagte er, es
war, als sollte die Scham ihn überleben.



Fragmente:

B.?s Freundin

In der nächsten Zeit war es K. unmöglich mit Fräulein
Bürstner auch nur einige wenige Worte zu sprechen. Er
versuchte auf die verschiedenste Weise an sie heranzukommen,
sie aber wußte es immer zu verhindern. Er kam gleich nach
dem Bureau nachhause, blieb in seinem Zimmer ohne das Licht
anzudrehn auf dem Kanapee sitzen und beschäftigte sich mit
nichts anderem als das Vorzimmer zu beobachten. Gieng etwa
das Dienstmädchen vorbei und schloß die Tür des scheinbar
leeren Zimmers, so stand er nach einem Weilchen auf und
öffnete sie wieder. Des Morgens stand er um eine Stunde
früher auf als sonst, um vielleicht Fräulein Bürstner allein
treffen zu können, wenn sie ins Bureau gieng. Aber keiner
dieser Versuche gelang. Dann schrieb er ihr einen Brief
sowohl ins Bureau als auch in die Wohnung, suchte darin
nochmals sein Verhalten zu rechtfertigen, bot sich zu jeder
Genugtuung an, versprach niemals die Grenzen zu
überschreiten, die sie ihm setzen würde und bat nur ihm die
Möglichkeit zu geben, einmal mit ihr zu sprechen, besonders
da er auch bei Frau Grubach nichts veranlassen könne,
solange er sich nicht vorher mit ihr beraten habe,
schließlich teilte er ihr mit, daß er den nächsten Sonntag
während des ganzen Tages in seinem Zimmer auf ein Zeichen
von ihr warten werde, das ihm die Erfüllung seiner Bitte in
Aussicht stelle oder das ihm wenigstens erklären solle,
warum sie die Ritte nicht erfüllen könne, trotzdem er doch
versprochen habe sich in allem ihr zu fügen. Die Briefe
kamen nicht zurück, aber es erfolgte auch keine Antwort.
Dagegen gab es Sonntag ein Zeichen, dessen Deutlichkeit
genügend war. Gleich früh bemerkte K. durch das
Schlüsselloch eine besondere Bewegung im Vorzimmer, die sich
bald aufklärte. Eine Lehrerin des Französischen, sie war
übrigens eine Deutsche und hieß Montag, ein schwaches
blasses, ein wenig hinkendes Mädchen, das bisher ein eigenes
Zimmer bewohnt hatte, übersiedelte in das Zimmer des
Fräulein Bürstner. Stundenlang sah man sie durch das
Vorzimmer schlürfen. Immer war noch ein Wäschestück, oder
ein Deckchen oder ein Buch vergessen, das besonders geholt
und in die neue Wohnung hinübergetragen werden mußte.

Als Frau Grubach K. das Frühstück brachte ? sie überließ
seitdem sie K. so erzürnt hatte, auch nicht die geringste
Bedienung dem Dienstmädchen ? konnte sich K. nicht
zurückhalten, sie zum erstenmal seit fünf Tagen
anzusprechen. ?Warum ist denn heute ein solcher Lärm im
Vorzimmer?? fragte er während er den Kaffee eingoß. ?Könnte
das nicht eingestellt werden? Muß gerade am Sonntag
aufgeräumt werden?? Trotzdem K. nicht zu Frau Grubach
aufsah, bemerkte er doch, daß sie wie erleichtert aufatmete.
Selbst diese strengen Fragen K.?s faßte sie als Verzeihung
oder als Beginn der Verzeihung auf. ?Es wird nicht
aufgeräumt, Herr K.? sagte sie, ?Fräulein Montag übersiedelt
nur zu Fräulein Bürstner und schafft ihre Sachen hinüber.?
Sie sagte nichts weiter, sondern wartete wie K. es aufnehmen
und ob er ihr gestatten würde, weiter zu reden. K. stellte
sie aber auf die Probe, rührte nachdenklich den Kaffee mit
dem Löffel und schwieg. Dann sah er zu ihr auf und sagte:
?Haben Sie schon Ihren frühern Verdacht wegen Fräulein
Bürstner aufgegeben?? ?Herr K.,? rief Frau Grubach die nur
auf diese Frage gewartet hatte und hielt K. ihre gefalteten
Hände hin, ?Sie haben eine gelegentliche Bemerkung letzthin
so schwer genommen. Ich habe ja nicht im entferntesten daran
gedacht, Sie oder irgendjemand zu kränken. Sie kennen mich
doch schon lange genug Herr K., um davon überzeugt sein zu
können. Sie wissen gar nicht wie ich die letzten Tage
gelitten habe! Ich sollte meine Mieter verleumden! Und Sie
Herr K. glaubten es! Und sagten ich solle Ihnen kündigen!
Ihnen kündigen!? Der letzte Ausruf erstickte schon unter
Tränen, sie hob die Schürze zum Gesicht und schluchzte laut.

?Weinen Sie doch nicht Frau Grubach,? sagte K. und sah zum
Fenster hinaus, er dachte nur an Fräulein Bürstner und daran
daß sie ein fremdes Mädchen in ihr Zimmer aufgenommen hatte.
?Weinen Sie doch nicht,? sagte er nochmals als er sich ins
Zimmer zurückwendete und Frau Grubach noch immer weinte. ?Es
war ja damals auch von mir nicht so schlimm gemeint. Wir
haben eben einander gegenseitig mißverstanden. Das kann auch
alten Freunden einmal geschehn.? Frau Grubach rückte die
Schürze unter die Augen, um zu sehn, ob K. wirklich versöhnt
sei. ?Nun ja, es ist so,? sagte K. und wagte nun, da nach
dem Verhalten der Frau Grubach zu schließen, der Hauptmann
nichts verraten hatte, noch hinzuzufügen: ?Glauben Sie denn
wirklich, daß ich mich wegen eines fremden Mädchens mit
Ihnen verfeinden könnte.? ?Das ist es ja eben Herr K.,?
sagte Frau Grubach, es war ihr Unglück, daß sie sobald sie
sich nur irgendwie freier fühlte gleich etwas Ungeschicktes
sagte, ?ich fragte mich immerfort: Warum nimmt sich Herr K.
so sehr des Fräulein Bürstner an? Warum zankt er ihretwegen
mit mir, trotzdem er weiß, daß mir jedes böse Wort von ihm
den Schlaf nimmt Ich habe ja über das Fräulein nichts
anderes gesagt als was ich mit eigenen Augen gesehen habe.?
K. sagte dazu nichts, er hätte sie mit dem ersten Wort aus
dem Zimmer jagen müssen und das wollte er nicht. Er begnügte
sich damit den Kaffee zu trinken und Frau Grubach ihre
Überflüssigkeit fühlen zu lassen. Draußen hörte man wieder
den schleppenden Schritt des Fräulein Montag, welche das
ganze Vorzimmer durchquerte. ?Hören Sie es?? fragte K. und
zeigte mit der Hand nach der Tür. ?Ja,? sagte Frau Grubach
und seufzte, ?ich wollte ihr helfen und auch vom
Dienstmädchen helfen lassen, aber sie ist eigensinnig, sie
will alles selbst übersiedeln. Ich wundere mich über
Fräulein Bürstner. Mir ist es oft lästig, daß ich Fräulein
Montag in Miete habe, Fräulein Bürstner aber nimmt sie sogar
zu sich ins Zimmer.? ?Das muß Sie gar nicht kümmern,? sagte
K. und zerdrückte die Zuckerreste in der Tasse. ?Haben Sie
denn dadurch einen Schaden?? ?Nein,? sagte Frau Grubach, ?an
und für sich ist es mir ganz willkommen, ich bekomme dadurch
ein Zimmer frei und kann dort meinen Neffen den Hauptmann
unterbringen. Ich fürchtete schon längst, daß er Sie in den
letzten Tagen, während derer ich ihn nebenan im Wohnzimmer
wohnen lassen mußte, gestört haben könnte. Er nimmt nicht
viel Rücksicht.? ?Was für Einfälle!? sagte K. und stand auf,
?davon ist ja keine Rede. Sie scheinen mich wohl für
überempfindlich zu halten, weil ich diese Wanderungen des
Fräulein Montag ? jetzt geht sie wieder zurück ? nicht
vertragen kann.? Frau Grubach kam sich recht machtlos vor.
?Soll ich, Herr K., sagen, daß sie den restlichen Teil der
Übersiedlung aufschieben soll? Wenn Sie wollen, tue ich es
sofort.? ?Aber sie soll doch zu Fräulein Bürstner
übersiedeln!? sagte K. ?Ja,? sagte Frau Grubach, sie
verstand nicht ganz, was K. meinte. ?Nun also,? sagte K.,
?dann muß sie doch ihre Sachen hinübertragen.? Frau Grubach
nickte nur. Diese stumme Hilflosigkeit, die äußerlich nicht
anders aussah als Trotz reizte K. noch mehr. Er fieng an im
Zimmer vom Fenster zur Tür auf- und abzugehn und nahm
dadurch Frau Grubach die Möglichkeit sich zu entfernen, was
sie sonst wahrscheinlich getan hätte.

Gerade war K. einmal wieder bis zur Tür gekommen, als es
klopfte. Es war das Dienstmädchen, welches meldete, daß
Fräulein Montag gern mit Herrn K. paar Worte sprechen möchte
und daß sie ihn deshalb bitte ins Eßzimmer zu kommen, wo sie
ihn erwarte. K. hörte das Dienstmädchen nachdenklich an,
dann wandte er sich mit einem fast höhnischen Blick nach der
erschrockenen Frau Grubach um. Dieser Blick schien zu sagen,
daß K. diese Einladung des Fräulein Montag schon längst
vorausgesehen habe und daß sie auch sehr gut mit der
Quälerei zusammenpasse, die er diesen Sonntagvormittag von
den Mietern der Frau Grubach erfahren mußte. Er schickte das
Dienstmädchen zurück mit der Antwort daß er sofort komme,
gieng dann zum Kleiderkasten, um den Rock zu wechseln und
hatte als Antwort für Frau Grubach, welche leise über die
lästige Person jammerte, nur die Bitte, sie möge das
Frühstücksgeschirr schon forttragen. ?Sie haben ja fast
nichts angerührt,? sagte Frau Grubach. ?Ach tragen Sie es
doch weg,? rief K., es war ihm, als sei irgendwie allem
Fräulein Montag beigemischt und mache es widerwärtig.

Als er durch das Vorzimmer gieng, sah er nach der
geschlossenen Tür von Fräulein Bürstners Zimmer. Aber er war
nicht dorthin eingeladen, sondern in das Eßzimmer, dessen
Tür er aufriß ohne zu klopfen.

Es war ein sehr langes aber schmales einfenstriges Zimmer.
Es war dort nur soviel Platz vorhanden, daß man in den Ecken
an der Türseite zwei Schränke schief hatte aufstellen
können, während der übrige Raum vollständig von dem langen
Speisetisch eingenommen war, der in der Nähe der Tür begann
und bis knapp zum großen Fenster reichte, welches dadurch
fast unzugänglich geworden war. Der Tisch war bereits
gedeckt undzwar für viele Personen, da am Sonntag fast alle
Mieter hier zu Mittag aßen.

Als K. eintrat, kam Fräulein Montag vom Fenster her an der
einen Seite des Tisches entlang K. entgegen. Sie grüßten
einander stumm. Dann sagte Fräulein Montag, wie immer den
Kopf ungewöhnlich aufgerichtet: ?Ich weiß nicht, ob Sie mich
kennen.? K. sah sie mit zusammengezogenen Augen an. ?Gewiß,?
sagte er, ?Sie wohnen doch schon längere Zeit bei Frau
Grubach.? ?Sie kümmern sich aber, wie ich glaube, nicht viel
um die Pension,? sagte Fräulein Montag. ?Nein,? sagte K.
?Wollen Sie sich nicht setzen,? sagte Fräulein Montag. Sie
zogen beide schweigend zwei Sessel am äußersten Ende des
Tisches hervor und setzten sich einander gegenüber. Aber
Fräulein Montag stand gleich wieder auf, denn sie hatte ihr
Handtäschchen auf dem Fensterbrett liegen gelassen und gieng
es holen; sie schleifte durch das ganze Zimmer. Als sie, das
Handtäschchen leicht schwenkend, wieder zurückkam, sagte
sie: ?Ich möchte nur im Auftrag meiner Freundin ein paar
Worte mit Ihnen sprechen. Sie wollte selbst kommen, aber sie
fühlt sich heute ein wenig unwohl. Sie möchten sie
entschuldigen und mich statt ihrer anhören. Sie hätte Ihnen
auch nichts anderes sagen können, als ich Ihnen sagen werde.
Im Gegenteil, ich glaube, ich kann Ihnen sogar mehr sagen,
da ich wohl verhältnismäßig unbeteiligt bin. Glauben Sie
nicht auch?? ?Was wäre denn zu sagen!? antwortete K., der
dessen müde war, die Augen des Fräulein Montag fortwährend
auf seine Lippen gerichtet zu sehn. Sie maßte sich dadurch
eine Herrschaft schon darüber an, was er erst sagen wollte.
?Fräulein Bürstner will mir offenbar die persönliche
Aussprache um die ich sie gebeten habe, nicht bewilligen.?
?Das ist es,? sagte Fräulein Montag, ?oder vielmehr so ist
es gar nicht, Sie drücken es sonderbar scharf aus. Im
allgemeinen werden doch Aussprachen weder bewilligt noch
geschieht das Gegenteil. Aber es kann geschehn, daß man
Aussprachen für unnötig hält und so ist es eben hier. Jetzt
nach Ihrer Bemerkung kann ich ja offen reden. Sie haben
meine Freundin schriftlich oder mündlich um eine Unterredung
gebeten. Nun weiß aber meine Freundin, so muß ich wenigstens
annehmen, was diese Unterredung betreffen soll, und ist
deshalb aus Gründen die ich nicht kenne überzeugt, daß es
niemandem Nutzen bringen würde, wenn die Unterredung
wirklich zustandekäme. Im übrigen erzählte sie mir erst
gestern und nur ganz flüchtig davon, sie sagte hiebei daß
auch Ihnen jedenfalls nicht viel an der Unterredung liegen
könne, denn Sie wären nur durch einen Zufall auf einen
derartigen Gedanken gekommen, und würden selbst auch ohne
besondere Erklärung wenn nicht schon jetzt so doch sehr bald
die Sinnlosigkeit des Ganzen erkennen. Ich antwortete
darauf, daß das richtig sein mag, daß ich es aber zur
vollständigen Klarstellung doch für vorteilhaft halten
würde, Ihnen eine ausdrückliche Antwort zukommen zu lassen.
Ich bot mich an, diese Aufgabe zu übernehmen, nach einigem
Zögern gab meine Freundin mir nach. Ich hoffe nun aber auch
in Ihrem Sinne gehandelt zu haben, denn selbst die kleinste
Unsicherheit in der geringfügigsten Sache ist doch immer
quälend und wenn man sie, wie in diesem Falle leicht
beseitigen kann, so soll es doch besser sofort geschehn.?
?Ich danke Ihnen,? sagte K. sofort, stand langsam auf, sah
Fräulein Montag an, dann über den Tisch hin, dann aus dem
Fenster ? das gegenüberliegende Haus stand in der Sonne ?
und gieng zur Tür. Fräulein Montag folgte ihm paar Schritte
als vertraue sie ihm nicht ganz. Vor der Tür mußten aber
beide zurückweichen, denn sie öffnete sich und der Hauptmann
Lanz trat ein. K. sah ihn zum erstenmal aus der Nähe. Es war
ein großer etwa vierzigjähriger Mann mit braungebranntem
fleischigen Gesicht. Er machte eine leichte Verbeugung, die
auch K. galt, gieng dann zu Fräulein Montag und küßte ihr
ehrerbietig die Hand. Er war sehr gewandt in seinen
Bewegungen. Seine Höflichkeit gegen Fräulein Montag stach
auffallend von der Behandlung ab, die sie von K. erfahren
hatte. Trotzdem schien Fräulein Montag K. nicht böse zu
sein, denn sie wollte ihn sogar wie K. zu bemerken glaubte,
dem Hauptmann vorstellen. Aber K. wollte nicht vorgestellt
werden, er wäre nicht imstande gewesen, weder dem Hauptmann
noch Fräulein Montag gegenüber irgendwie freundlich zu sein,
der Handkuß hatte sie für ihn zu einer Gruppe verbunden, die
ihn unter dem Anschein äußerster Harmlosigkeit und
Uneigennützigkeit von Fräulein Bürstner abhalten wollte. K.
glaubte jedoch nicht nur das zu erkennen, er erkannte auch
daß Fräulein Montag ein gutes, allerdings zweischneidiges
Mittel gewählt hatte. Sie übertrieb die Bedeutung der
Beziehung zwischen Fräulein Bürstner und K., sie übertrieb
vor allem die Bedeutung der erbetenen Aussprache und
versuchte es gleichzeitig so zu wenden, als ob es K. sei,
der alles übertreibe. Sie sollte sich täuschen, K. wollte
nichts übertreiben, er wußte, daß Fräulein Bürstner ein
kleines Schreibmaschinenfräulein war, das ihm nicht lange
Widerstand leisten sollte. Hiebei zog er absichtlich gar
nicht in Berechnung, was er von Frau Grubach über Fräulein
Bürstner erfahren hatte. Das alles überlegte er, während er
kaum grüßend das Zimmer verließ. Er wollte gleich in sein
Zimmer gehn, aber ein kleines Lachen des Fräulein Montag,
das er hinter sich aus dem Eßzimmer hörte, brachte ihn auf
den Gedanken, daß er vielleicht beiden, dem Hauptmann wie
Fräulein Montag eine Überraschung bereiten könnte. Er sah
sich um und horchte, ob aus irgendeinem der umliegenden
Zimmer eine Störung zu erwarten wäre, es war überall still,
nur die Unterhaltung aus dem Eßzimmer war zu hören und aus
dem Gang, der zur Küche führte, die Stimme der Frau Grubach.
Die Gelegenheit schien günstig, K. gieng zur Tür von
Fräulein Bürstners Zimmer und klopfte leise. Da sich nichts
rührte, klopfte er nochmals, aber es erfolgte noch immer
keine Antwort. Schlief sie? Oder war sie wirklich unwohl?
Oder verleugnete sie sich nur deshalb, weil sie ahnte, daß
es nur K. sein konnte, der so leise klopfte? K. nahm an, daß
sie sich verleugne und klopfte stärker, öffnete schließlich,
da das Klopfen keinen Erfolg hatte, vorsichtig und nicht
ohne das Gefühl, etwas unrechtes und überdies nutzloses zu
tun, die Tür. Im Zimmer war niemand. Es erinnerte übrigens
kaum mehr an das Zimmer wie es K. gekannt hatte. An der Wand
waren nun zwei Betten hintereinander aufgestellt, drei
Sessel in der Nähe der Tür waren mit Kleidern und Wäsche
überhäuft, ein Schrank stand offen. Fräulein Bürstner war
wahrscheinlich fortgegangen, während Fräulein Montag im
Eßzimmer auf K. eingeredet hatte. K. war davon nicht sehr
bestürzt, er hatte kaum mehr erwartet Fräulein Bürstner so
leicht zu treffen, er hatte diesen Versuch fast nur aus
Trotz gegen Fräulein Montag gemacht. Umso peinlicher war es
ihm aber, als er während er die Tür wieder schloß, in der
offenen Tür des Eßzimmers Fräulein Montag und den Hauptmann
sich unterhalten sah. Sie standen dort vielleicht schon
seitdem K. die Tür geöffnet hatte, sie vermieden jeden
Anschein als ob sie K. etwa beobachteten, sie unterhielten
sich leise und verfolgten K.?s Bewegungen mit den Blicken
nur so wie man während eines Gespräches zerstreut
umherblickt. Aber auf K. lagen diese Blicke doch schwer, er
beeilte sich an der Wand entlang in sein Zimmer zu kommen.

Staatsanwalt

Trotz der Menschenkenntnis und Welterfahrung, welche K.
während seiner langen Dienstzeit in der Bank erworben hatte,
war ihm doch die Gesellschaft seines Stammtisches immer als
außerordentlich achtungswürdig erschienen und er leugnete
sich selbst gegenüber niemals, daß es für ihn eine große
Ehre war einer solchen Gesellschaft anzugehören. Sie bestand
fast ausschließlich aus Richtern, Staatsanwälten und
Advokaten, auch einige ganz junge Beamte und
Advokatursgehilfen waren zugelassen, sie saßen aber ganz
unten am Tisch und durften sich in die Debatten nur
einmischen, wenn besondere Fragen an sie gestellt wurden.
Solche Fragestellungen aber hatten meist nur den Zweck die
Gesellschaft zu belustigen, besonders Staatsanwalt Hasterer
der gewöhnlich K.?s Nachbar war liebte es auf diese Weise
die jungen Herren zu beschämen. Wenn er die große stark
behaarte Hand mitten auf dem Tisch spreizte und sich zum
untern Tischende wandte, horchte schon alles auf. Und wenn
dann dort einer die Frage aufnahm aber entweder sie nicht
einmal enträtseln konnte oder nachdenklich in sein Bier sah
oder statt zu reden bloß mit den Kiefern schnappte oder gar
? das war das Ärgste ? in unaufhaltsamem Schwall eine
falsche oder unbeglaubigte Meinung vertrat, dann drehten
sich die ältern Herren lächelnd auf ihren Sitzen und es
schien ihnen erst jetzt behaglich zu werden. Die wirklich
ernsten fachgemäßen Gespräche blieben nur ihnen vorbehalten.

K. war in diese Gesellschaft durch einen Advokaten, den
Rechtsvertreter der Bank gebracht worden. Es hatte eine Zeit
gegeben, da K. mit diesem Advokaten in der Bank lange
Besprechungen bis spät in den Abend hatte führen müssen und
es hatte sich dann von selbst gefügt, daß er mit dem
Advokaten an dessen Stammtisch gemeinsam genachtmahlt und an
der Gesellschaft Gefallen gefunden hatte. Er sah hier lauter
gelehrte, angesehene, in gewissem Sinne mächtige Herren,
deren Erholung darin bestand, daß sie schwierige mit dem
gewöhnlichen Leben nur entfernt zusammenhängende Fragen zu
lösen suchten und hiebei sich abmühten. Wenn er selbst
natürlich nur wenig eingreifen konnte, so bekam er doch die
Möglichkeit vieles zu erfahren, was ihm früher oder später
auch in der Bank Vorteil bringen konnte und außerdem konnte
er zum Gericht persönliche Beziehungen anknüpfen, die immer
nützlich waren. Aber auch die Gesellschaft schien ihn gern
zu dulden. Als geschäftlicher Fachmann war er bald anerkannt
und seine Meinung in solchen Dingen galt ? wenn es dabei
auch nicht ganz ohne Ironie abgieng ? als etwas
Unumstößliches. Es geschah nicht selten, daß zwei, die eine
Rechtsfrage verschieden beurteilten, K. seine Ansicht über
den Tatbestand abverlangten und daß dann K.?s Name in allen
Reden und Gegenreden wiederkehrte und bis in die
abstraktesten Untersuchungen gezogen wurde, denen K. längst
nicht mehr folgen konnte. Allerdings klärte sich ihm
allmählich vieles auf, besonders da er in Staatsanwalt
Hasterer einen guten Berater an seiner Seite hatte, der ihm
auch freundschaftlich nähertrat. K. begleitete ihn sogar
öfters in der Nacht nachhause. Er konnte sich aber lange
nicht daran gewöhnen Arm in Arm neben dem riesigen Mann zu
gehn, der ihn in seinem Radmantel ganz unauffällig hätte
verbergen können.

Im Laufe der Zeit aber fanden sie sich derartig zusammen,
daß alle Unterschiede der Bildung, des Berufes, des Alters
sich verwischten. Sie verkehrten mit einander, als hätten
sie seit jeher zu einander gehört und wenn in ihrem
Verhältnis äußerlich manchmal einer überlegen schien, so war
es nicht Hasterer sondern K., denn seine praktischen
Erfahrungen behielten meistens Recht, da sie so unmittelbar
gewonnen waren, wie es vom Gerichtstisch aus niemals
geschehen kann.

Diese Freundschaft wurde natürlich am Stammtisch bald
allgemein bekannt, es geriet halb in Vergessenheit, wer K.
in die Gesellschaft gebracht hatte, nun war es jedenfalls
Hasterer der K. deckte; wenn K.?s Berechtigung hier zu
sitzen auf Zweifel stoßen würde, konnte er sich mit gutem
Recht auf Hasterer berufen. Dadurch aber erlangte K. eine
besonders bevorzugte Stellung, denn Hasterer war ebenso
angesehn als gefürchtet. Die Kraft und Gewandtheit seines
juristischen Denkens waren zwar sehr bewundernswert, doch
waren in dieser Hinsicht viele Herren ihm zumindest
ebenbürtig, keiner jedoch reichte an ihn heran in der
Wildheit, mit welcher er seine Meinung verteidigte. K. hatte
den Eindruck, daß Hasterer, wenn er seinen Gegner nicht
überzeugen konnte, ihn doch wenigstens in Furcht setzte,
schon vor seinem gestreckten Zeigefinger wichen viele
zurück. Es war dann als ob der Gegner vergessen würde, daß
er in Gesellschaft von guten Bekannten und Kollegen war, daß
es sich doch nur um teoretische Fragen handelte, daß ihm in
Wirklichkeit keinesfalls etwas geschehen konnte ? aber er
verstummte und Kopfschütteln war schon Mut. Ein fast
peinlicher Anblick war es, wenn der Gegner weit entfernt
saß, Hasterer erkannte, daß auf die Entfernung hin keine
Einigung zustandekommen könnte, wenn er nun etwa den Teller
mit dem Essen zurückschob und langsam aufstand, um den Mann
selbst aufzusuchen. Die in der Nähe beugten dann die Köpfe
zurück, um sein Gesicht zu beobachten. Allerdings waren das
nur verhältnismäßig seltene Zwischenfälle, vor allem konnte
er fast nur über juristische Fragen in Erregung geraten,
undzwar hauptsächlich über solche, welche Processe betrafen,
die er selbst geführt hatte oder führte. Handelte es sich
nicht um solche Fragen, dann war er freundlich und ruhig,
sein Lachen war liebenswürdig und seine Leidenschaft gehörte
dem Essen und Trinken. Es konnte sogar geschehn, daß er der
allgemeinen Unterhaltung gar nicht zuhörte, sich zu K.
wandte, den Arm über dessen Sessellehne legte, ihn halblaut
über die Bank ausfragte, dann selbst über seine eigene
Arbeit sprach oder auch von seinen Damenbekanntschaften
erzählte, die ihm fast soviel zu schaffen machten wie das
Gericht. Mit keinem andern in der Gesellschaft sah man ihn
derartig reden und tatsächlich kam man oft, wenn man etwas
von Hasterer erbitten wollte ? meistens sollte eine
Versöhnung mit einem Kollegen bewerkstelligt werden ?
zunächst zu K. und bat ihn um seine Vermittlung, die er
immer gerne und leicht durchführte. Er war überhaupt, ohne
etwa seine Beziehung zu Hasterer in dieser Hinsicht
auszunützen, allen gegenüber sehr höflich und bescheiden und
er verstand es, was noch wichtiger als Höflichkeit und
Bescheidenheit war, zwischen den Rangabstufungen der Herren
richtig zu unterscheiden und jeden seinem Range gemäß zu
behandeln. Allerdings belehrte ihn Hasterer darin immer
wieder, es waren dies die einzigen Vorschriften, die
Hasterer selbst in der erregtesten Debatte nicht verletzte.
Darum richtete er auch an die jungen Herren unten am Tisch,
die noch fast gar keinen Rang besaßen, immer nur allgemeine
Ansprachen, als wären es nicht einzelne, sondern bloß ein
zusammengeballter Klumpen. Gerade diese Herren aber erwiesen
ihm die größten Ehren und wenn er gegen elf Uhr sich erhob,
um nachhause zu gehn, war gleich einer da, der ihm beim
Anziehn des schweren Mantels behilflich war und ein anderer
der mit großer Verbeugung die Türe vor ihm öffnete und sie
natürlich auch noch festhielt wenn K. hinter Hasterer das
Zimmer verließ.

Während in der ersten Zeit K. Hasterer oder auch dieser K.
ein Stück Wegs begleitete, endeten später solche Abende in
der Regel damit, daß Hasterer K. bat mit ihm in seine
Wohnung zu kommen und ein Weilchen bei ihm zu bleiben. Sie
saßen dann noch wohl eine Stunde bei Schnaps und Zigarren.
Diese Abende waren Hasterer so lieb, daß er nicht einmal auf
sie verzichten wollte, als er während einiger Wochen ein
Frauenzimmer namens Helene bei sich wohnen hatte. Es war
eine dicke ältliche Frau mit gelblicher Haut und schwarzen
Locken, die sich um ihre Stirn ringelten. K. sah sie
zunächst nur im Bett, sie lag dort gewöhnlich recht
schamlos, pflegte einen Lieferungsroman zu lesen und
kümmerte sich nicht um das Gespräch der Herren. Erst wenn es
spät wurde, streckte sie sich, gähnte und warf auch, wenn
sie auf andere Weise die Aufmerksamkeit nicht auf sich
lenken konnte, ein Heft ihres Romans nach Hasterer. Dieser
stand dann lächelnd auf und K. verabschiedete sich. Später
allerdings als Hasterer Helene?s müde zu werden anfieng,
störte sie die Zusammenkünfte empfindlich. Sie erwartete nun
immer die Herren vollständig angekleidet undzwar gewöhnlich
in einem Kleid, das sie wahrscheinlich für sehr kostbar und
kleidsam hielt, das aber in Wirklichkeit ein altes
überladenes Ballkleid war und besonders unangenehm durch
einige Reihen langer Fransen auffiel, mit denen es zum
Schmuck behängt war. Das genaue Aussehn dieses Kleides
kannte K. gar nicht, er weigerte sich gewissermaßen sie
anzusehn und saß stundenlang mit halbgesenkten Augen da,
während sie sich wiegend durch das Zimmer gieng oder in
seiner Nähe saß und später als ihre Stellung immer
unhaltbarer wurde, in ihrer Not sogar versuchte, durch
Bevorzugung K.?s Hasterer eifersüchtig zu machen. Es war nur
Not, nicht Bosheit, wenn sie sich mit dem entblößten
rundlichen fetten Rücken über den Tisch lehnte, ihr Gesicht
K. näherte und ihn so zwingen wollte, aufzublicken. Sie
erreichte damit nur, daß K. sich nächstens weigerte zu
Hasterer zu gehn, und als er nach einiger Zeit doch wieder
hinkam, war Helene endgiltig fortgeschickt; K. nahm das als
selbstverständlich hin. Sie blieben an diesem Abend
besonders lange beisammen, feierten auf Hasterers Anregung
Bruderschaft und K. war auf dem Nachhauseweg vom Rauchen und
Trinken fast ein wenig betäubt.

Gerade am nächsten Morgen machte der Direktor in der Bank im
Laufe eines geschäftlichen Gespräches die Bemerkung, er
glaube gestern abend K. gesehen zu haben. Wenn er sich nicht
getäuscht habe, so sei K. Arm in Arm mit dem Staatsanwalt
Hasterer gegangen. Der Direktor schien das so merkwürdig zu
finden, daß er ? allerdings entsprach dies auch seiner
sonstigen Genauigkeit ? die Kirche nannte, an deren
Längsseite in der Nähe des Brunnens jene Begegnung
stattgefunden habe. Hätte er eine Luftspiegelung beschreiben
wollen, er hätte sich nicht anders ausdrücken können. K.
erklärte ihm nun, daß der Staatsanwalt sein Freund sei und
daß sie wirklich gestern abend an der Kirche vorübergegangen
wären. Der Direktor lächelte erstaunt und forderte K. auf,
sich zu setzen. Es war einer jener Augenblicke, wegen deren
K. den Direktor so liebte, Augenblicke, in denen aus diesem
schwachen kranken hüstelnden mit der verantwortungsvollsten
Arbeit überlasteten Mann eine gewisse Sorge um K.?s Wohl und
um seine Zukunft ans Licht kam, eine Sorge, die man
allerdings nach Art anderer Beamten, die beim Direktor
ähnliches erlebt hatten, kalt und äußerlich nennen konnte,
die nichts war als ein gutes Mittel, wertvolle Beamte durch
das Opfer von zwei Minuten für Jahre an sich zu fesseln ?
wie es auch sein mochte, K. unterlag dem Direktor in diesen
Augenblicken. Vielleicht sprach auch der Direktor mit K. ein
wenig anders als mit den andern, er vergaß nämlich nicht
etwa seine übergeordnete Stellung, um auf diese Weise mit K.
gemein zu werden ? dies tat er vielmehr regelmäßig im
gewöhnlichen geschäftlichen Verkehr ? hier aber schien er
gerade K.?s Stellung vergessen zu haben und sprach mit ihm
wie mit einem Kind oder wie mit einem unwissenden jungen
Menschen, der sich erst um eine Stellung bewirbt und aus
irgendeinem unverständlichen Grunde das Wohlgefallen des
Direktors erregt. K. hätte gewiß eine solche Redeweise weder
von einem andern noch vom Direktor selbst geduldet, wenn ihm
nicht die Fürsorge des Direktors wahrhaftig erschienen wäre
oder wenn ihn nicht wenigstens die Möglichkeit dieser
Fürsorge, wie sie sich ihm in solchen Augenblicken zeigte,
vollständig bezaubert hätte. K. erkannte seine Schwäche;
vielleicht hatte sie ihren Grund darin, daß in dieser
Hinsicht wirklich noch etwas Kindisches in ihm war, da er
die Fürsorge des eigenen Vaters, der sehr jung gestorben
war, niemals erfahren hatte, bald von zuhause fortgekommen
war und die Zärtlichkeit der Mutter, die halbblind noch
draußen in dem unveränderlichen Städtchen lebte und die er
zuletzt vor etwa zwei Jahren besucht hatte, immer eher
abgelehnt als hervorgelockt hatte.

?Von dieser Freundschaft wußte ich gar nichts,? sagte der
Direktor und nur ein schwaches freundliches Lächeln milderte
die Strenge dieser Worte.

Zu Elsa

Eines Abends wurde K. knapp vor dem Weggehn telephonisch
angerufen und aufgefordert sofort in die Gerichtskanzlei zu
kommen. Man warne ihn davor ungehorsam zu sein. Seine
unerhörten Bemerkungen darüber, daß die Verhöre unnütz
seien, kein Ergebnis haben und keines haben können, daß er
nicht mehr hinkommen werde, daß er telephonische oder
schriftliche Einladungen nicht beachten und Boten aus der
Türe werfen werde ? alle diese Bemerkungen seien
protokolliert und hätten ihm schon viel geschadet. Warum
wolle er sich denn nicht fügen? Sei man nicht etwa ohne
Rücksicht auf Zeit und Kosten bemüht in seine verwickelte
Sache Ordnung zu bringen? Wolle er darin mutwillig stören
und es zu Gewaltmaßregeln kommen lassen, mit denen man ihn
bisher verschont habe? Die heutige Vorladung sei ein letzter
Versuch. Er möge tun was er wolle, jedoch bedenken, daß das
hohe Gericht seiner nicht spotten lassen könne.

Nun hatte K. für diesen Abend Elsa seinen Besuch angezeigt
und konnte schon aus diesem Grunde nicht zu Gericht kommen,
er war froh darüber, sein Nichterscheinen vor Gericht
dadurch rechtfertigen zu können, wenn er auch natürlich
niemals von dieser Rechtfertigung Gebrauch machen würde und
außerdem sehr wahrscheinlich auch dann nicht zu Gericht
gegangen wäre, wenn er für diesen Abend nicht die geringste
sonstige Verpflichtung gehabt hätte. Immerhin stellte er im
Bewußtsein seines guten Rechtes durch das Telephon die
Frage, was geschehen würde, wenn er nicht käme. ?Man wird
Sie zu finden wissen,? war die Antwort. ?Und werde ich dafür
bestraft werden, weil ich nicht freiwillig gekommen bin,?
fragte K. und lächelte in Erwartung dessen, was er hören
würde. ?Nein,? war die Antwort. ?Vorzüglich,? sagte K., ?was
für einen Grund sollte ich dann aber haben, der heutigen
Vorladung Folge zu leisten.? ?Man pflegt die Machtmittel des
Gerichtes nicht auf sich zu hetzen,? sagte die schwächer
werdende und schließlich vergehende Stimme. ?Es ist sehr
unvorsichtig, wenn man das nicht tut,? dachte K. im Weggehn,
?man soll doch versuchen die Machtmittel kennen zu lernen.?

Ohne zu zögern fuhr er zu Elsa. Behaglich in die Wagenecke
gelehnt, die Hände in den Taschen des Mantels ? es begann
schon kühl zu werden ? überblickte er die lebhaften Straßen.
Mit einer gewissen Zufriedenheit dachte er daran, daß er dem
Gericht, falls es wirklich in Tätigkeit war, nicht geringe
Schwierigkeiten bereitete. Er hatte sich nicht deutlich
ausgesprochen, ob er zu Gericht kommen würde oder nicht; der
Richter wartete also, vielleicht wartete sogar die ganze
Versammlung, nur K. würde zur besondern Enttäuschung der
Gallerie nicht erscheinen. Unbeirrt durch das Gericht fuhr
er dorthin wohin er wollte. Einen Augenblick lang war er
nicht sicher, ob er nicht aus Zerstreutheit dem Kutscher die
Gerichtsadresse angegeben hatte, er rief ihm daher laut
Elsas Adresse zu; der Kutscher nickte, ihm war keine andere
gesagt worden. Von da an vergaß K. allmählich an das Gericht
und die Gedanken an die Bank begannen ihn wieder wie in
frühern Zeiten ganz zu erfüllen.

Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter

Eines Morgens fühlte sich K. viel frischer und
widerstandsfähiger als sonst. An das Gericht dachte er kaum;
wenn es ihm aber einfiel, schien es ihm als könne diese ganz
unübersichtlich große Organisation an irgend einer
allerdings verborgenen im Dunkel erst zu ertastenden
Handhabe leicht gefaßt, ausgerissen und zerschlagen werden.
Sein außergewöhnlicher Zustand verlockte K. sogar den
Direktor-Stellvertreter einzuladen in sein Bureau zu kommen
und eine geschäftliche Angelegenheit, die schon seit einiger
Zeit drängte, gemeinsam zu besprechen. Immer bei solchem
Anlaß tat der Direktor-Stellvertreter so, als hätte sich
sein Verhältnis zu K. in den letzten Monaten nicht im
Geringsten geändert. Ruhig kam er wie in den frühern Zeiten
des ständigen Wettbewerbes mit K., ruhig hörte er K.?s
Ausführungen an, zeigte durch kleine vertrauliche ja
kameradschaftliche Bemerkungen seine Teilnahme und verwirrte
K. nur dadurch, worin man aber keine Absicht sehen mußte,
daß er sich durch nichts von der geschäftlichen Hauptsache
ablenken ließ, förmlich bis in den Grund seines Wesens
aufnahmsbereit für diese Sache war, während K.?s Gedanken
vor diesem Muster von Pflichterfüllung sofort nach allen
Seiten zu schwärmen anfiengen und ihn zwangen, die Sache
selbst fast ohne Widerstand dem Direktor-Stellvertreter zu
überlassen. Einmal war es so schlimm, daß K. schließlich nur
bemerkte, wie der Direktor-Stellvertreter plötzlich aufstand
und stumm in sein Bureau zurückkehrte. K. wußte nicht was
geschehen war, es war möglich daß die Besprechung regelrecht
abgeschlossen war, ebensomöglich aber war es, daß sie der
Direktor-Stellvertreter abgebrochen hatte, weil ihn K.
unwissentlich gekränkt oder weil er Unsinn gesprochen hatte
oder weil es dem Direktor-Stellvertreter unzweifelhaft
geworden war, daß K. nicht zuhörte und mit andern Dingen
beschäftigt war. Es war aber sogar möglich, daß K. eine
lächerliche Entscheidung getroffen oder daß der
Direktor-Stellvertreter sie ihm entlockt hatte und daß er
sich jetzt beeilte sie zum Schaden K.?s zu verwirklichen.
Man kam übrigens auf diese Angelegenheit nicht mehr zurück,
K. wollte nicht an sie erinnern und der
Direktor-Stellvertreter blieb verschlossen; es ergaben sich
allerdings vorläufig auch weiterhin keine sichtbaren Folgen.
Jedenfalls war aber K. durch den Vorfall nicht abgeschreckt
worden, wenn sich nur eine passende Gelegenheit ergab und er
nur ein wenig bei Kräften war, stand er schon bei der Tür
des Direktor-Stellvertreters um zu ihm zu gehn oder ihn zu
sich einzuladen. Es war keine Zeit mehr sich vor ihm zu
verstecken, wie er es früher getan hatte. Er hoffte nicht
mehr auf einen baldigen entscheidenden Erfolg, der ihn mit
einem Mal von allen Sorgen befreien und von selbst das alte
Verhältnis zum Direktor-Stellvertreter herstellen würde. K.
sah ein, daß er nicht ablassen dürfe, wich er zurück, so wie
es vielleicht die Tatsachen forderten, dann bestand die
Gefahr, daß er möglicherweise niemals mehr vorwärts kam. Der
Direktor-Stellvertreter durfte nicht im Glauben gelassen
werden, daß K. abgetan sei, er durfte mit diesem Glauben
nicht ruhig in seinem Bureau sitzen, er mußte beunruhigt
werden, er mußte so oft als möglich erfahren daß K. lebte
und daß er wie alles was lebte, eines Tages mit neuen
Fähigkeiten überraschen konnte, so ungefährlich er auch
heute schien. Manchmal sagte sich zwar K., daß er mit dieser
Methode um nichts anderes als um seine Ehre kämpfe, denn
Nutzen konnte es ihm eigentlich nicht bringen, wenn er sich
in seiner Schwäche immer wieder dem Direktor-Stellvertreter
entgegenstellte, sein Machtgefühl stärkte und ihm die
Möglichkeit gab Beobachtungen zu machen und seine Maßnahmen
genau nach den augenblicklichen Verhältnissen zu treffen.
Aber K. hätte sein Verhalten gar nicht ändern können, er
unterlag Selbsttäuschungen, er glaubte manchmal mit
Bestimmtheit er dürfe sich gerade jetzt unbesorgt mit dem
Direktor-Stellvertreter messen, die unglückseligsten
Erfahrungen belehrten ihn nicht, was ihm bei zehn Versuchen
nicht gelungen war, glaubte er mit dem elften durchsetzen zu
können trotzdem alles immer ganz einförmig zu seinen
Ungunsten abgelaufen war. Wenn er nach einer solchen
Zusammenkunft erschöpft, in Schweiß, mit leerem Kopf
zurückblieb, wußte er nicht, ob es Hoffnung oder
Verzweiflung gewesen war, die ihn an den
Direktor-Stellvertreter gedrängt hatte, ein nächstes Mal war
es aber wieder vollständig eindeutig nur Hoffnung, mit der
er zu der Türe des Direktor-Stellvertreters eilte.

So war es auch heute. Der Direktor-Stellvertreter trat
gleich ein, blieb dann nahe bei der Tür stehn, putzte einer
neu angenommenen Gewohnheit gemäß seinen Zwicker und sah
zuerst K. und dann, um sich nicht allzu auffallend mit K. zu
beschäftigen, auch das ganze Zimmer genauer an. Es war als
benütze er die Gelegenheit, um die Sehkraft seiner Augen zu
prüfen. K. widerstand den Blicken, lächelte sogar ein wenig
und lud den Direktor-Stellvertreter ein sich zu setzen. Er
selbst warf sich in seinen Lehnstuhl, rückte ihn möglichst
nahe zum Direktor-Stellvertreter, nahm gleich die nötigen
Papiere vom Tisch und begann seinen Bericht. Der
Direktor-Stellvertreter schien zunächst kaum zuzuhören. Die
Platte von K.?s Schreibtisch war von einer niedrigen
geschnitzten Balustrade umgeben. Der ganze Schreibtisch war
vorzügliche Arbeit und auch die Balustrade saß fest im Holz.
Aber der Direktor-Stellvertreter tat, als habe er gerade
jetzt dort eine Lockerung bemerkt, und versuchte den Fehler
dadurch zu beseitigen, daß er mit dem Zeigefinger auf die
Balustrade loshieb. K. wollte daraufhin seinen Bericht
unterbrechen, was aber der Direktor-Stellvertreter nicht
duldete, da er wie er erklärte, alles genau höre und
auffasse. Während ihm aber vorläufig K. keine sachliche
Bemerkung abnötigen konnte, schien die Balustrade besondere
Maßregeln zu verlangen, denn der Direktor-Stellvertreter zog
jetzt sein Taschenmesser hervor, nahm als Gegenhebel K.?s
Lineal und versuchte die Balustrade hochzuheben,
wahrscheinlich um sie dann leichter desto tiefer einstoßen
zu können. K. hatte in seinen Bericht einen ganz neuartigen
Vorschlag aufgenommen, von dem er sich eine besondere
Wirkung auf den Direktor-Stellvertreter versprach und als er
jetzt zu diesem Vorschlag gelangte, konnte er gar nicht
innehalten, so sehr nahm ihn die eigene Arbeit gefangen oder
vielmehr so sehr freute er sich an dem immer seltener
werdenden Bewußtsein, daß er hier in der Bank noch etwas zu
bedeuten habe und daß seine Gedanken die Kraft hatten, ihn
zu rechtfertigen. Vielleicht war sogar diese Art sich zu
verteidigen nicht nur in der Bank sondern auch im Proceß die
beste, viel besser vielleicht als jede andere Verteidigung,
die er schon versucht hatte oder plante. In der Eile seiner
Rede hatte K. gar nicht Zeit, den Direktor-Stellvertreter
ausdrücklich von seiner Arbeit an der Balustrade abzuziehn,
nur zwei oder dreimal strich er während des Vorlesens mit
der freien Hand wie beruhigend über die Balustrade hin, um
damit, fast ohne es selbst genau zu wissen, dem
Direktor-Stellvertreter zu zeigen, daß die Balustrade keinen
Fehler habe und daß selbst wenn sich einer vorfinden sollte,
augenblicklich das Zuhören wichtiger und auch anständiger
sei als alle Verbesserungen. Aber den
Direktor-Stellvertreter hatte, wie dies bei lebhaften nur
geistig tätigen Menschen oft geschieht, diese
handwerksmäßige Arbeit in Eifer gebracht, ein Stück der
Balustrade war nun wirklich hochgezogen und es handelte sich
jetzt darum die Säulchen wieder in die zugehörigen Löcher
hineinzubringen. Das war schwieriger als alles bisherige.
Der Direktor-Stellvertreter mußte aufstehn und mit beiden
Händen versuchen die Balustrade in die Platte zu drücken. Es
wollte aber trotz alles Kraftverbrauches nicht gelingen. K.
hatte während des Vorlesens ? das er übrigens viel mit
freier Rede untermischte ? nur undeutlich wahrgenommen, daß
der Direktor-Stellvertreter sich erhoben hatte. Trotzdem er
die Nebenbeschäftigung des Direktor-Stellvertreters kaum
jemals ganz aus den Augen verlor, hatte er doch angenommen,
daß die Bewegung des Direktor-Stellvertreters doch auch mit
seinem Vortrag irgendwie zusammenhieng, auch er stand also
auf und den Finger unter eine Zahl gedrückt reichte er dem
Direktor-Stellvertreter ein Papier entgegen. Der
Direktor-Stellvertreter aber hatte inzwischen eingesehn, daß
der Druck der Hände nicht genügte, und so setzte er sich
kurz entschlossen mit seinem ganzen Gewicht auf die
Balustrade. Jetzt glückte es allerdings, die Säulchen fuhren
knirschend in die Löcher, aber ein Säulchen knickte in der
Eile ein und an einer Stelle brach die zarte obere Leiste
entzwei. ?Schlechtes Holz,? sagte der
Direktor-Stellvertreter ärgerlich, ließ vom Schreibtisch ab
und setzte

Das Haus

Ohne zunächst eine bestimmte Absicht damit zu verbinden,
hatte K. bei verschiedenen Gelegenheiten in Erfahrung zu
bringen gesucht, wo das Amt seinen Sitz habe, von welchem
aus die erste Anzeige in seiner Sache erfolgt war. Er erfuhr
es ohne Schwierigkeiten, sowohl Titorelli als auch Wolfhart
nannten ihm auf die erste Frage hin die genaue Nummer des
Hauses. Später vervollständigte Titorelli mit einem Lächeln,
das er immer für geheime ihm nicht zur Begutachtung
vorgelegte Pläne bereit hatte, die Auskunft dadurch, daß er
behauptete, gerade dieses Amt habe nicht die geringste
Bedeutung, es spreche nur aus, was ihm aufgetragen werde und
sei nur das äußerste Organ der großen Anklagebehörde selbst,
die allerdings für Parteien unzugänglich sei. Wenn man also
etwas von der Anklagebehörde wünsche ? es gäbe natürlich
immer viele Wünsche, aber es sei nicht immer klug, sie
auszusprechen ? dann müsse man sich allerdings an das
genannte untergeordnete Amt wenden, doch werde man dadurch
weder selbst zur eigentlichen Anklagebehörde dringen, noch
seinen Wunsch jemals dorthin leiten.

K. kannte schon das Wesen des Malers, er widersprach deshalb
nicht, erkundigte sich auch nicht weiter sondern nickte nur
und nahm das Gesagte zur Kenntnis. Wieder schien ihm wie
schon öfters in der letzten Zeit, daß Titorelli soweit es
auf Quälerei ankam, den Advokaten reichlich ersetzte. Der
Unterschied bestand nur darin, daß K. Titorelli nicht so
preisgegeben war und ihn, wann es ihm beliebte, ohne
Umstände hätte abschütteln können, daß ferner Titorelli
überaus mitteilsam, ja geschwätzig war wenn auch früher mehr
als jetzt und daß schließlich K. sehr wohl auch seinerseits
Titorelli quälen konnte.

Und das tat er auch in dieser Sache, sprach öfters von jenem
Haus in einem Ton, als verschweige er Titorelli etwas, als
habe er Beziehungen mit jenem Amte angeknüpft, als seien sie
aber noch nicht so weit gediehn, um ohne Gefahr bekannt
gemacht werden zu können, suchte ihn dann aber Titorelli zu
nähern Angaben zu drängen, lenkte K. plötzlich ab und sprach
lange nicht mehr davon. Er hatte Freude von solchen kleinen
Erfolgen, er glaubte dann, nun verstehe er schon viel besser
diese Leute aus der Umgebung des Gerichts, nun könne er
schon mit ihnen spielen, rücke fast selbst unter sie ein,
bekomme wenigstens für Augenblicke die bessere Übersicht,
welche ihnen gewissermaßen die erste Stufe des Gerichtes
ermöglichte, auf der sie standen. Was machte es, wenn er
seine Stellung hier unten doch endlich verlieren sollte?
Dort war auch dann noch eine Möglichkeit der Rettung, er
mußte nur in die Reihen dieser Leute schlüpfen, hatten sie
ihm infolge ihrer Niedrigkeit oder aus andern Gründen in
seinem Processe nicht helfen können, so konnten sie ihn doch
aufnehmen und verstecken, ja sie konnten sich, wenn er alles
genügend überlegt und geheim ausführte, gar nicht dagegen
wehren, ihm auf diese Weise zu dienen, besonders Titorelli
nicht, dessen naher Bekannter und Wohltäter er doch jetzt
geworden war.

Von solchen und ähnlichen Hoffnungen nährte sich K. nicht
etwa täglich, im allgemeinen unterschied er noch genau und
hütete sich irgendeine Schwierigkeit zu übersehn oder zu
überspringen, aber manchmal ? meistens waren es Zustände
vollständiger Erschöpfung am Abend nach der Arbeit ? nahm er
Trost aus den geringsten und überdies vieldeutigsten
Vorfällen des Tages. Gewöhnlich lag er dann auf dem Kanapee
seines Bureaus ? er konnte sein Bureau nicht mehr verlassen,
ohne eine Stunde lang auf dem Kanapee sich zu erholen ? und
fügte in Gedanken Beobachtung an Beobachtung. Er beschränkte
sich nicht peinlich auf die Leute, welche mit dem Gericht
zusammenhingen, hier im Halbschlaf mischten sich alle, er
vergaß dann an die große Arbeit des Gerichtes, ihm war als
sei er der einzige Angeklagte und alle andern giengen
durcheinander wie Beamte und Juristen auf den Gängen eines
Gerichtsgebäudes, noch die stumpfsinnigsten hatten das Kinn
zur Brust gesenkt, die Lippen aufgestülpt und den starren
Blick verantwortungsvollen Nachdenkens. Immer traten dann
als geschlossene Gruppe die Mieter der Frau Grubach auf, sie
standen beisammen Kopf an Kopf mit offenen Mäulern wie ein
anklagender Chor. Es waren viele Unbekannte unter ihnen,
denn K. kümmerte sich schon seit langem um die
Angelegenheiten der Pension nicht im Geringsten. Infolge der
vielen Unbekannten machte es ihm aber Unbehagen sich näher
mit der Gruppe abzugeben, was er aber manchmal tun mußte,
wenn er dort Fräulein Bürstner suchte. Er überflog z. B. die
Gruppe und plötzlich glänzten ihm zwei gänzlich fremde Augen
entgegen und hielten ihn auf. Er fand dann Fräulein Bürstner
nicht, aber als er dann, um jeden Irrtum zu vermeiden
nochmals suchte, fand er sie gerade in der Mitte der Gruppe,
die Arme um zwei Herren gelegt, die ihr zur Seite standen.
Es machte unendlich wenig Eindruck auf ihn, besonders
deshalb da dieser Anblick nichts neues war, sondern nur die
unauslöschliche Erinnerung an eine Photographie vom
Badestrand, die er einmal in Fräulein Bürstners Zimmer
gesehen hatte. Immerhin trieb dieser Anblick K. von der
Gruppe weg und wenn er auch noch öfters hierher zurückkehrte
so durcheilte er nun mit langen Schritten das
Gerichtsgebäude kreuz und quer. Er kannte sich immer sehr
gut in allen Räumen aus, verlorene Gänge, die er nie gesehen
haben konnte, erschienen ihm vertraut, als wären sie seine
Wohnung seit jeher, Einzelheiten drückten sich ihm mit
schmerzlichster Deutlichkeit immer wieder ins Hirn, ein
Ausländer z. B. spazierte in einem Vorsaal, er war gekleidet
ähnlich einem Stierfechter, die Taille war eingeschnitten
wie mit Messern, sein ganz kurzes ihn steif umgebendes
Röckchen bestand aus gelblichen grobfädigen Spitzen und
dieser Mann ließ sich, ohne sein Spazierengehn einen
Augenblick einzustellen, unaufhörlich von K. bestaunen.
Gebückt umschlich ihn K. und staunte ihn mit angestrengt
aufgerissenen Augen an. Er kannte alle Zeichnungen der
Spitzen, alle fehlerhaften Fransen, alle Schwingungen des
Röckchens und hatte sich doch nicht sattgesehn. Oder
vielmehr er hatte sich schon längst sattgesehn oder noch
richtiger er hatte es niemals ansehen wollen aber es ließ
ihn nicht. ?Was für Maskeraden bietet das Ausland!? dachte
er und riß die Augen noch stärker auf. Und im Gefolge dieses
Mannes blieb er bis er sich auf dem Kanapee herumwarf und
das Gesicht ins Leder drückte.

Fahrt zur Mutter

Plötzlich beim Mittagessen fiel ihm ein er solle seine
Mutter besuchen. Nun war schon das Frühjahr fast zu Ende und
damit das dritte Jahr seitdem er sie nicht gesehen hatte.
Sie hatte ihn damals gebeten an seinem Geburtstag zu ihr zu
kommen, er hatte auch trotz mancher Hindernisse dieser Bitte
entsprochen und hatte ihr sogar das Versprechen gegeben
jeden Geburtstag bei ihr zu verbringen, ein Versprechen, das
er nun allerdings schon zweimal nicht gehalten hatte. Dafür
wollte er aber jetzt nicht erst bis zu seinem Geburtstag
warten, obwohl dieser schon in vierzehn Tagen war, sondern
sofort fahren. Er sagte sich zwar, daß kein besonderer Grund
vorlag gerade jetzt zu fahren, im Gegenteil, die
Nachrichten, die er regelmäßig alle zwei Monate von einem
Vetter erhielt, der in jenem Städtchen ein Kaufmannsgeschäft
besaß und das Geld, welches K. für seine Mutter schickte,
verwaltete, waren beruhigender als jemals früher. Das
Augenlicht der Mutter war zwar am Erlöschen, aber das hatte
K. nach den Aussagen der Ärzte schon seit Jahren erwartet,
dagegen war ihr sonstiges Befinden ein besseres geworden,
verschiedene Beschwerden des Alters waren statt stärker zu
werden zurückgegangen, wenigstens klagte sie weniger. Nach
der Meinung des Vetters hieng dies vielleicht damit
zusammen, daß sie seit den letzten Jahren ? K. hatte schon
bei seinem Besuch leichte Anzeichen dessen fast mit
Widerwillen bemerkt ? unmäßig fromm geworden war. Der Vetter
hatte in einem Brief sehr anschaulich geschildert, wie die
alte Frau, die sich früher nur mühselig fortgeschleppt
hatte, jetzt an seinem Arm recht gut ausschritt, wenn er sie
Sonntags zur Kirche führte. Und dem Vetter durfte K.
glauben, denn er war gewöhnlich ängstlich und übertrieb in
seinen Berichten eher das Schlechte als das Gute.

Aber wie es auch sein mochte, K. hatte sich jetzt
entschlossen zu fahren; er hatte neuerdings unter anderem
Unerfreulichem eine gewisse Wehleidigkeit an sich
festgestellt, ein fast haltloses Bestreben allen seinen
Wünschen nachzugeben ? nun, in diesem Fall diente diese
Untugend wenigstens einem guten Zweck.

Er trat zum Fenster, um seine Gedanken ein wenig zu sammeln,
ließ dann gleich das Essen abtragen, schickte den Diener zu
Frau Grubach um seine Abreise ihr anzuzeigen und die
Handtasche zu holen, in die Frau Grubach einpacken möge was
ihr notwendig scheine, gab dann Herrn Kühne einige
geschäftliche Aufträge für die Zeit seiner Abwesenheit,
ärgerte sich diesmal kaum darüber, daß Herr Kühne in einer
Unart die schon zur Gewohnheit geworden war, die Aufträge
mit seitwärts gewendetem Gesicht entgegennahm, als wisse er
ganz genau was er zu tun habe und erdulde diese
Auftragerteilung nur als Ceremonie, und gieng schließlich
zum Direktor. Als er diesen um einen zweitägigen Urlaub
ersuchte, da er zu seiner Mutter fahren müsse, fragte der
Direktor natürlich, ob K.?s Mutter etwa krank sei. ?Nein,?
sagte K. ohne weitere Erklärung. Er stand in der Mitte des
Zimmers, die Hände hinten verschränkt. Mit zusammengezogener
Stirn dachte er nach. Hatte er vielleicht die Vorbereitungen
zur Abreise übereilt? War es nicht besser hierzubleiben? Was
wollte er dort? Wollte er etwa aus Rührseligkeit hinfahren?
Und aus Rührseligkeit hier möglicherweise etwas Wichtiges
versäumen, eine Gelegenheit zum Eingriff, die sich doch
jetzt jeden Tag jede Stunde ergeben konnte, nachdem der
Proceß nun schon wochenlang scheinbar geruht hatte und kaum
eine bestimmte Nachricht an ihn gedrungen war? Und würde er
überdies die alte Frau nicht erschrecken, was er natürlich
nicht beabsichtigte, was aber gegen seinen Willen sehr
leicht geschehen konnte, da jetzt vieles gegen seinen Willen
geschah. Und die Mutter verlangte gar nicht nach ihm. Früher
hatten sich in den Briefen des Vetters die dringenden
Einladungen der Mutter regelmäßig wiederholt, jetzt schon
lange nicht. Der Mutter wegen fuhr er also nicht hin, das
war klar. Fuhr er aber in irgendeiner Hoffnung seinetwegen
hin, dann war er ein vollkommener Narr und würde sich dort
in der schließlichen Verzweiflung den Lohn seiner Narrheit
holen. Aber als wären alle diese Zweifel nicht seine
eigenen, sondern als suchten sie ihm fremde Leute
beizubringen, verblieb er, förmlich erwachend, bei seinem
Entschluß zu fahren. Der Direktor hatte sich indessen
zufällig oder was wahrscheinlicher war aus besonderer
Rücksichtnahme gegen K. über eine Zeitung gebeugt, jetzt hob
auch er die Augen, reichte aufstehend K. die Hand und
wünschte ihm, ohne eine weitere Frage zu stellen, glückliche
Reise.

K. wartete dann noch, in seinem Bureau auf und abgehend, auf
den Diener, wehrte fast schweigend den
Direktor-Stellvertreter ab, der mehrere Male hereinkam um
sich nach dem Grund von K.?s Abreise zu erkundigen, und
eilte, als er die Handtasche endlich hatte, sofort hinunter
zu dem schon vorherbestellten Wagen. Er war schon auf der
Treppe, da erschien oben im letzten Augenblicke noch der
Beamte Kullych, in der Hand einen angefangenen Brief, zu dem
er offenbar von K. eine Weisung erbitten wollte. K. winkte
ihm zwar mit der Hand ab, aber begriffsstützig, wie dieser
blonde großköpfige Mensch war, mißverstand er das Zeichen
und raste das Papier schwenkend in lebensgefährlichen
Sprüngen hinter K. her. Dieser war darüber so erbittert, daß
er, als ihn Kullych auf der Freitreppe einholte, den Brief
ihm aus der Hand nahm und zerriß. Als K. sich dann im Wagen
umdrehte, stand Kullych, der seinen Fehler wahrscheinlich
noch immer nicht eingesehen hatte, auf dem gleichen Platz
und blickte dem davonfahrenden Wagen nach, während der
Portier neben ihm tief die Mütze zog. K. war also doch noch
einer der obersten Beamten der Bank, wollte er es leugnen,
würde ihn der Portier widerlegen. Und die Mutter hielt ihn
sogar trotz aller Widerrede für den Direktor der Bank und
dies schon seit Jahren. In ihrer Meinung würde er nicht
sinken, wie auch sonst sein Ansehen Schaden gelitten hatte.
Vielleicht war es ein gutes Zeichen, daß er sich gerade vor
der Abfahrt davon überzeugt hatte, daß er noch immer einem
Beamten, der sogar mit dem Gericht Verbindungen hatte, einen
Brief wegnehmen und ohne jede Entschuldigung zerreißen
durfte. Das allerdings was er am liebsten getan hätte, hatte
er nicht tun dürfen, Kullych zwei laute Schläge auf seine
bleichen runden Wangen zu geben.